Mit Urteil vom 07. Januar 2016 hat das Gericht entschieden, dass es für eine organisierte Willensbildung im Sinne des § 2 Abs. 1 VereinsG ausreicht, wenn eine Gruppierung über eine auf faktischer Unterwerfung beruhende, autoritäre Organisationsstruktur verfügt.
Weiter stellte das BVerwG fest, dass auch eine einzelne Straftat einen hinreichend schweren Anlass für ein Vereinsverbot darstellen kann, etwa wenn sich aus ihr die Gefahr einer weiteren rechtswidrigen Selbstbehauptung der Vereinsmitglieder gegenüber konkurrierenden Vereinigungen ergibt.
Sachverhalt
Die fünf Kläger waren Mitglieder des Motorradclubs „Gremium Motorcycle Club (MC) Sachsen.“ Sie gehörten dem Regionalverband bzw. einem der vier untergeordneten Ortsgruppen („Chapter“) von Dresden, Chemnitz, Plauen und Nomads Eastside an. Der Zweck des Motorradclubs bestand der Satzung nach in der kameradschaftlichen Pflege des Motorradsports.
Mit Verfügung vom 28. Mai 2013 verbot das Bundesinnenministerium den Regionalverband einschließlich der vier ihm angehörenden Chapter und ordnete deren Auflösung an. Das Verbot wurde damit begründet, dass der Zweck der Verbände tatsächlich in der gewalttätigen Gebiets- und Machtentfaltung und in der strafrechtswidrigen Selbstbehauptung gegenüber konkurrierenden Organisationen liege.
Das Bundesinnenministerium stützte sich dabei auf mehrere von Mitgliedern des Motorradclubs gegenüber Anhängern rivalisierender Vereinigungen begangene Körperverletzungsdelikte sowie ein versuchtes Tötungsdelikt. Die betreffenden Individuen waren indes noch nicht strafrichterlich verurteilt worden.
Gegen die Verbotsverfügungen erhoben fünf Mitglieder in zulässiger Weise Fortsetzungsfeststellungsklage beim BVerwG, welches nach § 50 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 VwGO bei Vereinsverboten durch das Bundesministerium des Innern erst- und letztinstanzlich zuständig ist.
Entscheidung des BVerwG
Das BVerwG untersuchte, ob das Vereinsverbot rechtswidrig war und die Kläger in ihren Rechten verletzte, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO.
1. Rechtsgrundlage
Das Bundesinnenministerium hatte seine Verfügung auf § 3 Abs. 1 S. 1 VereinsG i.V.m. Art. 9 Abs. 2 GG gestützt, insoweit als der Regionalverband des Motorradclubs verboten und aufgelöst wurde. Grundlage des Verbots der einzelnen Chapter war § 3 Abs. 3 S. 1 und 2 VereinsG gewesen, wonach sich das Verbot auf Teilorganisationen des Vereins erstreckt.
a. Regionalverband des Motorradclubs als Verein i.S.d. § 2 VereinsG?
Das BVerwG hatte zu klären, ob diese Vorschriften des VereinsG taugliche Ermächtigungsgrundlagen darstellten. Dazu musste es sich bei dem Motorradclub um einen Verein i.S.d. § 2 VereinsG handeln.
Die Kläger hatten vorgebracht, dem Motorradclub fehle es am Merkmal der organisierten Willensbildung des § 2 Abs. 1 VereinsG. Zwischen den Vereinigungen existieren lediglich eine lockere Verbindung, die dem Informationsfluss dienten. Hingegen bestünden weder Steuerungs- oder Weisungsbefugnisse, noch existiere eine konkrete Aufgabenverteilung.
Das BVerwG führte hierzu aus, dass die Begriffsmerkmale des § 2 Abs. 1 VereinsG weit auszulegen seien. „Dies entspricht einerseits dem gefahrenabwehrrechtlichen Zweck des Vereinsgesetzes, dient andererseits aber auch dem Schutz der Vereinigungsfreiheit, da [ein Verein] im Sinne des § 2 Abs. 1 VereinsG […] nur nach Feststellung des Vorliegens eines Verbotsgrunds nach Art. 9 Abs. 2 GG [verboten] werden darf.“
Weiter stellte das Gericht fest, dass „organisierte Gesamtwillensbildung, der die Mitglieder kraft der Verbandsdisziplin untergeordnet sein müssen“ sich nicht notwendig aus einer geschriebenen Satzung ergeben müsse. Ausreichend sei eine faktische organisierte Willensbildung.
Im Anschluss untersuchte das BVerwG die Satzung des Motorradclubs und stellte fest, dass diese verbindlich geltende Vorgaben zur inneren Struktur enthielt. Insbesondere war festgelegt, dass es einen exekutiven 7er-Rat, Regionalverbände und örtliche Chapter gebe.
Die Vorgaben der Satzung seien im Regionalverband Sachsen des Motorradclubs auch tatsächlich umgesetzt worden. Präsident des Verbands war René W., der Kläger zu 1 welcher aufgrund gewachsener Beziehungen innerhalb des Clubs eine faktische Führungsrolle einnahm. Nach Überzeugung des Gerichts beschränkte er sich „nicht auf die bloße Vermittlung von Informationen zwischen dem 7er-Rat und den einzelnen Chaptern der Region […]. [Mitglieder] "mussten/sollten" bei Problemen in Dresden vorsprechen und es wurde - offenbar auch ohne ausdrücklich Anordnung oder Weisung - umgesetzt, was René W. […] sagte.“
Dass die „gelebte Praxis“ von den „satzungsmäßigen Vorgaben [zur] Aufgabenverteilung zwischen [René W.] und der Regionalversammlung“ abwich, „stellt seine Herrschaftsmacht und damit die Verbandsstruktur nicht in Frage. Denn eine allein auf faktischer Unterwerfung beruhende autoritäre Organisationsstruktur reicht für eine vom Willen des einzelnen Mitglieds losgelöste organisierte Gesamtwillensbildung aus.“
Danach stelle der Regionalverband des Motorradclubs einen Verein i.S.d. § 2 VereinsG dar.
b. Chapter des Motorradclubs als Teilorganisationen i.S.d. § 3 Abs. 3 S. 1, 2 VereinsG?
Anschließend stellte das BVerwG fest, dass die örtlichen Chapter des Motorradclubs „tatsächlich in die Gesamtorganisation eingebunden [sind] und im Wesentlichen von ihr beherrscht werden.“ Die Einbindung ergebe sich bereits dadurch, dass die Mitglieder der Chapter die Autorität und faktisch „beherrschende Führungsrolle“ des Präsident des Regionalverbands nicht in Frage stellten. Die Chapter konnten damit als Teilorganisationen des i.S.d. § 3 Abs. 3 S. 1, 2 VereinsG von dem Vereinsverbot miterfasst werden.
2. Verbotsgrund der Strafrechtswidrigkeit nach § 3 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 VereinsG
Schließlich untersuchte das BVerwG, ob der Verbotsgrund der Strafrechtswidrigkeit nach § 3 Abs. 1 S. 1. Alt. 1 VereinsG vorlag. Dazu mussten die Zwecke oder die Tätigkeit des Vereins den Strafgesetzen zuwiderlaufen.
a. Zurechenbarkeit strafbarer Handlungen zum Verein
Das BVerwG stellte fest, schon weil Vereinigungen bzw. juristische Personen nicht straffällig werden können, sei bei der Beurteilung der Strafgesetzwidrigkeit auf das Verhalten einzelner Mitglieder des Vereins abzustellen, sofern es dem Verein zurechenbar sei nach Maßgabe von § 3 Abs. 5 VereinsG. Dazu müssen die Taten im Zusammenhang mit der Zielsetzung des Vereins stehen, auf einer organisierten Willensbildung beruhen und vom Verein zumindest geduldet werden. Das Gericht führte aus, „der Vereinigung zurechenbar sind ferner solche strafbaren Verhaltensweisen der Vereinsmitglieder, die die Vereinigung deckt, indem sie ihren Mitgliedern durch eigene Hilfestellung oder Hilfestellung anderer Mitglieder Rückhalt bietet.“
Das Bundesinnenministerium hatte zur Begründung der Verbotsverfügung ausgeführt, Zweck und Tätigkeit des Motorradclubs liefen den Strafgesetzen zuwider, denn seine Mitglieder bedienten sich zu seiner Selbstbehauptung krimineller Mittel wie der „Demonstration von Gruppenstärke durch massiertes öffentliches Auftreten, Vergeltungsaktionen gegenüber konkurrierenden Rockergruppierungen und abtrünnigen Mitgliedern und die Verdeutlichung von Macht- und Gebietsansprüchen unter Begehung insbesondere von Körperverletzungs- und Nötigungsdelikten.“
Dagegen hatten die Kläger vorgebracht, jegliche von einzelnen Mitgliedern begangene Straftaten seien der Organisation des Motorradclubs nicht vorher bekannt gewesen und könnten ihr schon deswegen nicht zugerechnet werden.
Das BVerwG untersuchte Protokolle abgehörter Telefonate verschiedener Mitglieder des Motorradclubs. Es kam zu dem Schluss, dass die von den Mitgliedern verübten Straftaten von den “Entscheidungsträgern geduldet, gebilligt, gefördert oder angewiesen“ würden. Dies werde dadurch verdeutlicht, dass ihnen zur Anerkennung sogenannte „No Mercy-Patches“ verliehen wurden, etwa wenn sie gegen Anhänger rivalisierender Banden Vergeltungsmaßnahmen in Form von Körperverletzungsdelikten begangen hatten.
b. Verurteilung einzelner Mitglieder nicht nötig
Schließlich stellte das Gericht fest, dass Strafrechtswidrigkeit bereits angenommen werden könne, wenn eine strafrichterliche Verurteilung der Vereinsmitglieder noch aussteht. Nur so sei es möglich, dass die Verbotsbehörde zeitnah auf eine bestehende Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung reagieren könne.
Das BVerwG führte aus: „Die Strafgesetzwidrigkeit ist von der Verbotsbehörde und dem Verwaltungsgericht in eigener Kompetenz zu prüfen. […] Dies begegnet auch mit Blick auf die Unschuldsvermutung nach Art. 6 Abs. 2 EMRK keinen rechtsstaatlichen Bedenken, da ein Vereinsverbot weder eine (repressive) Strafe darstellt noch eine individuelle Schuldzuweisung enthält, sondern ausschließlich (präventiv) der Abwehr vereinsspezifischer Gefahren dient.“
Mit Hinblick auf den Motorradclub sah es das Gericht als erwiesen an, dass aufgrund des bisherigen Verhaltens seiner Mitglieder anzunehmen sei, dass zukünftig weitere gewalttätige Vergeltungsmaßnahmen und Selbstbehauptungen gegenüber konkurrierenden Vereinigungen getätigt würden. Es bestünde damit eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Angesichts ihrer Schwere prägten die begangenen Körperverletzungs- und versuchten Tötungsdelikte auch den Charakter des Regionalverbands des Motorradclubs einschließlich seiner örtlichen Chapter. Der Strafgrund der Strafrechtswidrigkeit der Vereinigung habe damit vorgelegen.
3. Ergebnis
Das BVerwG wies die Klage wegen der Rechtmäßigkeit des Vereinsverbots als unbegründet ab.
Bedeutung der Entscheidung für ExamenskandidatInnen
Das Urteil eignet sich gut, sich das Verhältnis zwischen repressivem staatlichem Vorgehen bzw. strafrechtlicher Sanktionierung einerseits und ordnungsrechtlichem, präventivem Vorgehen andererseits zu verdeutlichen.
Weiter lassen sich die Bedeutung des Vereinigungsfreiheit nach Art. 9 Abs. 1 GG und die Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 GG wiederholen.