A. Sachverhalt
Familie K wohnt in einem äußerst ländlich geprägten Stadtteil im allgemeinen Wohngebiet gem. § 4 BauNVO. Ihr Nachbar N ist Hobbyzüchter von Hühnern und hat mehrere Hühnergruppen mit jeweils einem Hahn.
Im Zeitraum von 22:00 Uhr bis 06:00 Uhr morgens wird im Elternschlafzimmer der K das Maximalkriterium von 60 dB (A) durch das Krähen von Hähnen überschritten. So auch vor dem geöffneten Kinderzimmerfenster. Dabei krähen die Hähne insbesondere ab 4:00 Uhr morgens häufig.
Als Grundstückseigentümer und Vater V den N zur Unterlassung der „Lärmbelästigung“ auffordert, verweist dieser darauf, dass ein Schallschutz ihn ca. 4.000 € kosten würde und dass dies ihm im Rahmen einer Hobbyzucht nicht zumutbar sei.
Hat V einen Anspruch gegen N auf Unterlassen der Lärmemissionen von über 60 dB im Zeitraum von 22:00 und 6:00 Uhr aus § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB?
Bearbeitervermerk: Nach der Verwaltungsvorschrift zum Bundesimmissionsschutzgesetz TA Lärm darf in der Nachtzeit zwischen 22:00 Uhr und 6:00 Uhr ein Maximalpegel von 40 dB (A) und für Geräuschspitzen von 60 dB (A) nicht überschritten werden.
B. Lösung
I. Die Anspruchsgrundlage ist § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB.
Hinweis
Daneben kam noch ein Anspruch aus §§ 823 II, 1004 I BGB in Betracht.
Das Eigentum des V wird hier in anderer Weise als durch Entziehung oder Vorenthaltung des Besitzes durch die Lärmemissionen gestört. N ist unproblematisch Störer. Der Schwerpunkt der Prüfung wäre im Rahmen einer etwaigen Duldungspflicht zu verorten.
Eine Duldungspflicht könnte sich aus den §§ 1004 Abs. 2, 906 Abs. 1 BGB ergeben.
II. Eine Duldungspflicht besteht dann, wenn die Beeinträchtigung gemäß § 906 Abs. 1 unwesentlich ist.
Eine unwesentliche Beeinträchtigung liegt in der Regel vor, wenn die in Gesetzen oder Rechtsverordnungen festgelegten Grenz- oder Richtwerte von den nach diesen Vorschriften ermittelten und bewerteten Einwirkungen nicht überschritten werden. Gleiches gilt für Werte in allgemeinen Verwaltungsvorschriften, die nach § 48 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes erlassen worden sind und den Stand der Technik wiedergeben (§ 906 Abs. 1 S. 2 BGB).
Die Überschreitung der Grenzwerte indiziert die Wesentlichkeit der Beeinträchtigung. Dies entbindet den Tatrichter jedoch nicht davon, die Würdigung aller Einzelumstände unter Berücksichtigung des Empfindens eines verständigen Menschen vorzunehmen.
Maßstab für die Beurteilung der Wesentlichkeit der Beeinträchtigung ist das wandelbare, das heißt auch vom jeweiligen Umweltbewusstsein geprägte Empfinden eines Durchschnittsbenutzers des betroffenen Grundstücks in seiner durch Natur, Gestaltung und Zweckbestimmung geprägten konkreten Beschaffenheit.
Hier gilt es insbesondere zu berücksichtigen, dass Hahnenkrähen von kurzzeitigen Impulsen mit hoher Frequenz gekennzeichnet ist, die im Vergleich zu Dauergeräuschen als wesentlich lästiger empfunden werden. Es ist daher neben der Lautstärke insbesondere zu berücksichtigen, dass durch das periodische Krähen des Hahnes sich bei dem Gestörten eine Erwartungshaltung (ein Erwartungseffekt) einstellt, aus der heraus die plötzlichen und schrillen Töne des Krähens als besonders lästig empfunden werden. Regelmäßig sind Lärmstörungen durch Hahnenkrähen geeignet, bei den Betroffenen unmittelbar gesundheitliche Gefahren wie Schlafstörungen herbeizuführen.
Unabhängig von der Einordnung der Emissionen als allgemeine Geräuschemission oder Geräuschspitze wird der zulässige Höchstwert von 60 dB (A) überschritten. Dabei wird der kurzfristige Lärmimpuls – im Vergleich zum Dauergeräusch – regelmäßig als wesentlich beeinträchtigender empfunden. Das Krähen ist insbesondere in der Nachtzeit geeignet, den Schlaf zu stören und damit die Annehmlichkeit des Wohnens in unmittelbarer Nachbarschaft deutlich zu beeinträchtigen.
In der Gesamtbetrachtung ist daher von einer wesentlichen Beeinträchtigung des Grundstücks des V auszugehen.
III. Eine Duldungspflicht besteht auch dann, wenn die Beeinträchtigung ortsüblich ist.
Dies gilt jedoch nur dann, wenn N darlegen und beweisen kann, dass die Einwirkung nicht durch Maßnahmen verhindert werden kann, die Nutzern dieser Art wirtschaftlich unzumutbar sind (§ 906 Abs. 2 Satz 1 BGB).
Fraglich ist daher, ob dem N die Installation von Lärmschutzmaßnahmen zumutbar ist.
Unter wirtschaftlich zumutbaren Maßnahmen i.S.d. § 906 Abs. 2 S. 1 BGB sind alle technischen Einrichtungen sowie betriebswirtschaftliche Möglichkeiten zu verstehen, die die Beeinträchtigung unter die Schwelle der Wesentlichkeit herabsetzen, und zwar aufgrund eines auch insoweit differenziert-objektiven Maßstabs („Benutzer dieser Art“) ohne Rücksicht auf die individuelle Leistungsfähigkeit des Benutzers.
Auch in ländlich geprägten Gebieten kann nicht mit dem pauschalen Hinweis, dass die Tierhaltung lediglich hobbymäßig erfolge und dass damit Lärmschutzmaßnahmen, die über einem gedachten Liebhaberwert liegen würden, unverhältnismäßig seien, jeglicher Lärmschutz ausgehebelt werden. Auch in ländlichen Bezirken muss diesbezüglich eine sorgfältige Abwägung erfolgen: es ist somit das Interesse des Grundstückseigentümers an der möglichst umfassenden Nutzung seines Grundstücks gegen die gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die durch ein Grundstück, von dem Lärm herrührt, verursacht werden, abzuwägen. Bei der festgestellten Lautstärke und den gerade in den Morgenstunden deutlich zunehmenden, den Schlaf jeweils unterbrechenden Störungen der Nachtruhe – mit allen bekannten gesundheitlichen Nachteilen – ist den gesundheitlichen Belangen des Klägers höhere Bedeutung als dem Wunsch der Beklagten, ihre lieberhabermäßig betriebene Hühnerzucht mit Hähnen ungestört auszuüben, zuzumessen. Hinzu kommt, dass im vorliegend zu beurteilenden Sachverhalt der vom Grundstück der Beklagten ausgehende Lärm nicht nur als störend empfunden werden kann, sondern auch gegen eine Verwaltungsvorschrift (TA Lärm) verstößt. Der Verstoß (auch) gegen die Verwaltungsvorschrift führt dazu, dass dem N bessere Lärmschutzmaßnahmen wirtschaftlich zumutbar sind.
In der Gesamtbetrachtung ist eine Investition zur Reduzierung des Lärms von ca. 4000 € zumutbar.
IV. Ergebnis
V hat gegen N einen Unterlassungsanspruch gem. § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB.