Die EU-Kommission macht Ernst: Sie hat ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet. Das interessante an der Begründung: Ein Urteil des BVerfG (- 2 BvR 859/15 -, BVerfGE 154, 17-152) soll gegen EU-Recht verstoßen haben. Denn das höchste deutsche Gericht hatte sich über einen Spruch des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hinweggesetzt und milliardenschwere Anleihekäufe der EZB beanstandet, obwohl der EuGH sie gebilligt hatte. Die deutschen Verfassungsrichterinnen und -richter kamen im Mai 2020 zum Ergebnis, die Notenbank habe mit dem 2015 gestarteten Programm ihr Mandat für die Geldpolitik deutlich und in rechtswidriger Art und Weise überspannt. Bundesregierung und Bundestag sollten darauf hinwirken, dass die EU-Währungshüter nachträglich prüfen, ob die Käufe verhältnismäßig waren.
Am 5. Mai 2020 hatte der 2. Senat des BVerfG in einem Urteil zum Programm zum Ankauf von Wertpapieren des öffentlichen Sektors an den Sekundärmärkten der EZB befunden, dass dieses Vorhaben „ultra vires“ sei und nicht in den Zuständigkeitsbereich der EZB falle. In diesem Zusammenhang stellte das Bundesverfassungsgericht auch fest, dass ein Urteil des Gerichtshofs (vom 11. Dezember 2018 – Rs. C-493/17, Weiss e.a..) ebenfalls „ultra vires“ ergangen sei, ohne die Angelegenheit zurück an den Gerichtshof zu verweisen. Damit sprach das Bundesverfassungsgericht einem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union seine Rechtswirkung in Deutschland ab - und verstieß somit nach Auffassung der Kommission gegen den Grundsatz des Vorrangs des EU-Rechts.
Aus Sicht der EU-Kommission ist das ein gefährlicher Präzedenzfall, weil Urteile des obersten EU-Gerichts für alle Staaten verbindlich sind. Die Behörde monierte einen Verstoß gegen fundamentale Prinzipien des EU-Rechts. Sie sieht ein erhebliches Gefahrenpotential – zum einen für die künftige Praxis des Gerichts selbst, aber auch für die Verfassungsgerichte anderer Mitgliedstaaten. „Dies könnte die Integrität des Unionsrechts gefährden und den Weg für ein Europa ,à la carte‘ öffnen. Die Europäische Union ist und bleibt eine Rechtsgemeinschaft, das letzte Wort zum EU-Recht wird immer in Luxemburg gesprochen“, so ein Kommissionssprecher. Deutschland hat nun zwei Monate Zeit, um zu den Beanstandungen der Kommission Stellung zu nehmen.