Der Entscheidung des BGH (JuS 2020, 985) lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Am frühen Morgen hielt sich der Angeklagte A mit seiner Freundin auf dem Gehweg vor einer Diskothek auf, als sich ihnen B, der in Begleitung seiner Freunde X und Y war, annäherte und in aufdringlicher Art an die Freundin des A heranrückte. Über die nun von A selbstbewusst ausgesprochene Aufforderung, sie in Ruhe zu lassen, ärgerte sich B und ging „mit vorgeschobener Brust, aber anliegenden Armen“ in dessen Richtung. Er wollte ihn nicht schlagen, aber mit der Masse seines Körpers wegschieben und seine Stärke demonstrieren. Als der am Rand stehende X sich B näherte, um ihn zu unterstützen, kam Y, der sich bislang ebenfalls passiv verhalten hatte, dazu, um ein Eingreifen des X zu verhindern und die Situation zu entspannen. A glaubte nun aber, er werde von 3 Personen angegriffen. In Anbetracht der vermeintlichen Überzahl glaubte A, eine Abwehr mit den Fäusten werde nicht reichen, weswegen er ein Messer zückte, welches er zunächst in seiner Hand verbarg. Als B nun weiter mit angelegten Armen auf A zuging, forderte dieser ihn erneut auf, ihn in Ruhe zu lassen. Sodann schlug er mit dem Messer in der Faust in Richtung des B. Er wollte ihn mit der Faust im Kinnbereich treffen, nahm aber zugleich billigend in Kauf, ihn mit dem Messer zu verletzen. Während der Faustschlag den B verfehlte, erreichte A jedoch mit der Rückholbewegung seines Arms mit der Messerklinge den Hals des B und fügte ihm eine mehrere Zentimeter tiefe, quer über den Hals verlaufende Stich-Schnitt-Verletzung zu. A holte sodann zu einem weiteren Schlag in Richtung des Y aus. Wiederum mit der Rückholbewegung seines Arms traf er ihn an der Brust und fügte ihm dort eine etwa 35 cm lange Stich-Schnitt-Verletzung zu. Die jeweiligen Verletzungen waren lebensgefährlich. Das Leben von B und Y konnte jedoch durch Notoperationen gerettet werden.
Sowohl A als auch B und Y waren zur Tatzeit erheblich alkoholisiert. A hatte eine Blutalkoholkonzentration von bis zu 2,34 Promille. Der Blutalkoholwert des B betrug 1,75 Promille, derjenige des Y 1,53 Promille.
Zu prüfen ist nun, wie A sich im Hinblick auf B und Y strafbar gemacht haben könnte.
Natürlich kann man kurz den versuchten Totschlag gem. §§ 212, 22, 23 StGB in Betracht ziehen. Der Sachverhalt enthält aber keine Anhaltspunkte dafür, dass A mit tödlichen Verletzungen gerechnet und diese billigend in Kauf genommen hat.
Von daher kommt eine Strafbarkeit wegen gefährlicher Körperverletzung gem. §§ 223, 224 I Nr. 2 und 5 StGB in Betracht.
Sowohl B als auch Y haben lebensgefährdende Schnittverletzungen erlitten, weswegen in 2 Fällen sowohl eine körperliche Misshandlung als auch das Herbeiführen eines pathologischen Zustands angenommen werden kann. Diese wurden mittels jedenfalls eines gefährlichen Werkzeugs gem. § 224 I Nr. 2 StGB herbeigeführt. Auch stellte der Einsatz des Messers eine das Leben gefährdende Behandlung dar. Zu diesem Ergebnis kämen auch die Literaturvertreter, die eine konkrete Lebensgefahr verlangen.
Bezüglich der Verletzungen handelte A auch mit bedingtem Vorsatz.
Fraglich ist nun, ob er gerechtfertigt sein könnte.
Nehmen wir zunächst die Strafbarkeit des A im Hinblick auf B.
Expertentipp
Selbstverständlich prüfen Sie in einer Klausur die Strafbarkeit des A im Hinblick auf B und Y getrennt voneinander, da höchstpersönliche Rechtsgüter verletzt sind, mithin also 2 Taten vorliegen.
Hier könnte A gem. § 32 StGB gerechtfertigt sein. Dann müsste zunächst ein gegenwärtiger und rechtswidriger Angriff des B auf den A vorgelegen haben. B wollte A zwar nicht schlagen, er wollte ihn aber mit der Masse seines Körpers wegschieben und seine Stärke demonstrieren. Darin lag jedenfalls ein Angriff auf die Willensfreiheit des A. Dieser Angriff war auch rechtswidrig und gegenwärtig, da B bereits auf A zuging und damit die Schwelle zum Versuch überschritten hatte.
Der Einsatz des Messers müsste nun die erforderliche und gebotene Verteidigung sein. Erforderlich ist die Verteidigung, wenn sie geeignet ist, den Angriff zu beenden und von mehreren gleich geeigneten Mitteln das mildeste Mittel ist.
Der Einsatz des Messers war sicherlich geeignet, den Angriff zu beenden. Fraglich ist, ob er das mildeste Mittel darstellte. Bei tödlichen Verteidigungsmitteln wie Schusswaffen und Messern gilt grundsätzlich, dass ihr Einsatz zunächst angedroht werden muss. Danach muss der Täter versuchen, weniger gefährliche Regionen zu verletzen und erst danach darf er eine tödliche Verteidigung wählen. Insgesamt wird dies aber nach der konkreten „Kampflage“ bestimmt.
A hat den Einsatz des Messers nicht angedroht, er hat ganz im Gegenteil das Messer in seiner Hand versteckt, sodass B es nicht sehen konnte. Da B nur seine Dominanz demonstrieren wollte, darf davon ausgegangen werden, dass er von A abgelassen hätte, wenn dieser mit dem Einsatz des Messers gedroht hätte.
Allerdings ist zu berücksichtigen, dass X dabei war, sich in das Geschehen einzumischen, um B zu unterstützen. Welcher Art diese Unterstützung sein sollte, ist offen. Es hätte eine rein verbale Unterstützung sein können, es könnte aber auch sein, dass X tatkräftig hätte eingreifen wollen. Zugunsten des A (in dubio pro reo) muss davon ausgegangen werden, dass auch X dabei war, den A anzugreifen. Dann hätte sich A zwei Angreifern gegenübergesehen, was seine Verteidigung erschwert hätte und evtl. den Einsatz des Messers und den darin liegenden Überraschungsmoment rechtfertigen könnte. Allerdings wurde X von Y, der die Situation deeskalieren wollte, abgehalten, so dass es letztlich doch nur B war, der den A angriff.
Expertentipp
Arbeiten Sie an dieser Stelle sauber! Es geht hier nur darum, welche Angriffe objektiv vorlagen und wie dementsprechend die erforderliche Verteidigung aussah. Was A sich vorgestellt hat, prüfen wir später beim EtBI.
Zur Abwehr des Angriffs des B war allerdings der Einsatz des Messers nicht erforderlich, weswegen A nicht gem. § 32 StGB gerechtfertigt ist.
Fraglich ist nun aber, wie es sich auswirkt, dass A glaubte, er werde sowohl von B als auch jedenfalls von X, wenn nicht auch von Y angegriffen. Nach Einschätzung des A sah dieser sich 3 Angreifern ausgesetzt. A könnte sich in einem Erlaubnistatbestandsirrtum befunden haben.
Ein solcher liegt vor, wenn der Täter tatsächliche Umstände annimmt, die, wenn sie vorlägen, ihn rechtfertigen würden.
Expertentipp
Nachfolgend wird nun der infrage kommende Rechtfertigungsgrund hypothetisch durchgeprüft. Erst wenn alle Voraussetzungen bejaht werden können, kann festgestellt werden, dass ein EtBI auch tatsächlich vorliegt. Erst dann geht es zum Problem der rechtlichen Lösung.
A wäre entsprechend seiner Vorstellung nicht nur von B sondern auch von X und Y angegriffen worden. Wäre das der Fall gewesen, stellt sich nun die Frage, ob das Androhen des Messers erfolgreich gewesen wäre oder ob sich A damit nicht seines einzig wirksamen Verteidigungsmittels begeben hätte. Bei „3 gegen 1“ muss der Angegriffene sicherlich ein Überraschungsmoment ausnutzen, um sich bestmöglich zu verteidigen. Das Androhen des Messers wäre damit nicht die beste Verteidigung gewesen. Allerdings ist fraglich, ob A bei dieser angenommenen Angriffssituation B und Y lebensgefährlich hätte verletzen müssen, oder ob es nicht ausgereicht hätte, beide zunächst an Armen oder Beinen zu treffen. Schon eine Stichverletzung des A hätte sicherlich die anderen beiden von einem weiteren Vorgehen abgehalten, so dass der lebensgefährdende Einsatz des Messers auch bei einem vorgestellten Angriff von 3 Personen nicht die erforderliche Verteidigung gewesen wäre.
Hinweis
Wollte man die Erforderlichkeit des Messereinsatzes bejahen, müsste man nachfolgend noch die Gebotenheit prüfen. Problematisch ist hier die Alkoholisierung der Angreifer. Allerdings begründet nicht jede Alkoholisierung eine Einschränkung des Notwehrrechts. Eine solche kann nur angenommen werden bei erkennbarer Volltrunkenheit oder sonstiger Schuldunfähigkeit.
Damit befand A sich nicht in einem Erlaubnistatbestandsirrtum und hat sich gem. §§ 223, 224 I Nr. 2 und 5 StGB strafbar gemacht.
Dasselbe gilt für seine Strafbarkeit im Hinblick auf Y. Auch hier befand sich A nicht in einem Erlaubnistatbestandsirrtum.
Expertentipp
Natürlich können Sie auch zu einem anderen Ergebnis kommen. In einer Klausur wäre das sicherlich auch sinnvoll, weil Sie dann in die Darstellung der verschiedenen Theorien einsteigen können.
Der BGH hat die Entscheidung aufgehoben und zur erneuten Verhandlung an des LG zurückverwiesen.