Durch die aktuelle Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (15.10.2014, 2 BvR 920/14) wurden die Möglichkeiten für Klausurensteller noch erweitert. Denn der Fall warf die Frage auf, ob die Bundesländer eigene Strafnormen erlassen dürfen, um gegen Schulverweigerer vorzugehen. Es ging um die formelle Verfassungsmäßigkeit des § 182 Abs.1 HessSchulG. Ähnliche Strafnormen gibt es in Bremen, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und dem Saarland. Die anderen Bundesländer begnügen sich mit Ordnungswidrigkeitestatbeständen, könnten aber nach dieser Entscheidung bedenklos umschwenken – oder deren Justizprüfungsämter für Examensklausuren eine Rechtsänderung fingieren.
Sachverhalt:
Die Beschwerdeführer sind Eltern von neun Kindern und berufen sich auf „festgefügte und unumstößliche Glaubens- und Gewissensgründe“, um ihren Kindern den Schulbesuch zu verweigern und sie stattdessen zu Hause zu unterrichten. Aufgrund von § 182 HessSchulG wurden sie von Strafgerichten mehrfach zu Geldstrafen verurteilt. Im konkreten Fall ging es um die Verurteilung zu 140 Tagessätzen zu je fünf Euro. Ihre Rechtsmittel blieben sowohl im Berufungs- und Revisionsverfahren erfolglos.
In der Verfassungsbeschwerde gehen Sie nicht nur gegen die Entscheidungen der Strafgerichte, sondern auch gegen § 182 Abs. 1 HessSchulG vor. Dem Land Hessen fehle die Gesetzgebungszuständigkeit. Der Bundesgesetzgeber habe in § 171 StGB bereits abschließend von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht, sodass für eigene Vorschriften der Länder kein Raum bliebe.
§ 182 HessSchulG
(1) Wer einen anderen der Schulpflicht dauernd oder hartnäckig wiederholt entzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu sechs Monaten oder mit Geldstrafe bis zu einhundertachtzig Tagessätzen bestraft.
(2) ¹Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein. ²Antragsberechtigt ist die untere
Schulaufsichtsbehörde. ³Der Antrag kann zurückgenommen werden
§ 171 StGB
Wer seine Fürsorge- oder Erziehungspflicht gegenüber einer Person unter sechzehn Jahren gröblich verletzt und dadurch den Schutzbefohlenen in die Gefahr bringt, in seiner körperlichen oder psychischen Entwicklung erheblich geschädigt zu werden, einen kriminellen Lebenswandel zu führen oder der Prostitution nachzugehen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
§ 182 Abs. 2 HessSchulG sei darüber hinaus nicht vereinbar mit „dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit, dem allgemeinen Gleichbehandlungsgebot aus Art. 3 Abs. 1 GG, der wertentscheidenden Grundsatznorm aus Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG und der objektiven Wertentscheidung des Art. 11 Abs. 1 GG. Die Strafnorm verletze überdies das Bestimmtheitsgebot aus Art. 103 Abs. 2 GG.“
Das Bundesverfassungsgericht nahm die Entscheidung nicht zur Entscheidung an.
I. Formelle Verfassungsmäßigkeit von § 182 HessSchulG
Eine formelle Verfassungsmäßigkeit wegen fehlender Gesetzgebungszuständigkeit nahm das Gericht nicht an.
Zunächst umriss es generell die Möglichkeiten der Landesgesetzgeber, eigene Strafnormen zu erlassen:
„Nach Art. 72 Abs. 1 GG hat der Landesgesetzgeber die Gesetzgebungsbefugnis, soweit nicht der Bund von der ihm verliehenen Zuständigkeit Gebrauch gemacht hat. Ein Gebrauchmachen im Sinne dieser Vorschrift liegt nicht nur dann vor, wenn der Bund eine Regelung getroffen hat. Auch in dem absichtsvollen Unterlassen einer Regelung kann ein Gebrauchmachen von einer Bundeszuständigkeit liegen, welche dann insoweit eine Sperrwirkung für die Länder erzeugt (...)“
Für die Frage, ob der Bund abschließend von seiner Zuständigkeit Gebrauch gemacht hat, gibt das Bundesverfassungsgericht den Prüfungsrahmen folgendermaßen vor:
„Die Antwort ergibt sich in erster Linie aus dem Bundesgesetz selbst, in zweiter Linie aus dem hinter dem Gesetz stehenden Regelungszweck, ferner aus der Gesetzgebungsgeschichte und den Gesetzesmaterialien.“
Unter diese Voraussetzungen subsumiert das Gericht dann die Frage, ob durch zu § 171 StGB eine abschließende Regelung getroffen worden ist, die eine Regelung des § 182 Abs. 1 HessSchulG verfassungsrechtlich ausschließt.
1. Tatbestand des Bundesgesetzes
„Der äußere Tatbestand des § 171 StGB (...) ist derart allgemein formuliert, dass ein tatbestandliches Handeln oder Unterlassen nicht nur in dem anhaltenden Dulden von (...),sondern auch in dem Abhalten eines schulpflichtigen Kindes vom Schulbesuch erblickt werden kann. Insoweit sind jedenfalls im Ausgangspunkt tatbestandliche Überschneidungen mit der hier in Rede stehenden Strafnorm des § 182 Abs. 1 HessSchulG - insbesondere mit dem dortigen Merkmal des "Entziehens" - denkbar (...). Gleichwohl ist der Wortlaut des § 171 StGB zu indifferent, als dass darin ein absichtsvolles Unterlassen des Bundesgesetzgebers erblickt werden könnte, zusätzliche und konkrete Regelungen seitens des Landesgesetzgebers auszuschließen“
2. Regelungszweck
Von daher war ergänzend der Regelungszweck heranzuziehen. Das Gericht argumentiert wie folgt: Während § 171 StGB die gesunde körperliche und psychische Entwicklung von Jugendlichen – also Einzelinteressen - schütze, bezwecke § 182 Abs. 1 SchulG die Durchsetzung der Schulpflicht, die vor allem auch im Allgemeininteresse liege. Die Strafnormen dienten dem Schutz weitgehend unterschiedlicher Rechtsgüter. Dafür spräche auch, dass § 171 eine Gefahr erheblicher Entwicklungsschäden voraussetze und § 182 Abs. 1 HessSchulG eine Kindeswohlgefährdung gerade nicht erfordere. Kurz: § 171 StGB schützt die Schutzbefohlenen, § 182 Abs. 2 HessSchulG dient zur Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht.
3. Historie
Auch aus der Gesetzesgenese des § 171 StGB könne nichts anderes geschlossen werde.
„Dem Gesetzgeber [kam es] mit Schaffung des § 171 StGB vornehmlich darauf an(..), Kinder in ihrer körperlichen und psychischen Integrität zu schützen (...), indem sie vor einem Abgleiten in ein Kriminellen beziehungsweise Prostituiertenmilieu bewahrt bleiben sollten. Demgegenüber kann den Gesetzesmaterialien nicht entnommen werden, dass der Bundesgesetzgeber mit § 171 StGB (...) die allgemeine Schulpflicht strafrechtlich zu flankieren beabsichtigte, zumal es zweifelhaft ist, ob die von ihm vorausgesetzte und in § 171 StGB angelegte Erheblichkeitsschwelle in Fällen der Schulpflichtverletzung überhaupt erreicht wird.“
II. Materielle Verfassungsmäßigkeit
Hier wiederholt das Gericht seine bereits geäußerte Ansicht zum Verhältnis von Erziehungsrecht der Eltern (Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG) und Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) einerseits und staatlichem Erziehungsauftrag der Schule (Art. 7 I GG) andererseits. Gerade, da Erziehungsrecht und staatlicher Erziehungsauftrag verfassungsrechtlich gleichgestellt seien, ergäben sich keine „verfassungsrechtlichen Bedenken, die Beachtung der Schulpflicht von den Erziehungsberechtigten dadurch einzufordern, dass der (Landes-)Gesetzgeber entsprechende Strafvorschriften schafft und die Strafgerichte bei deren Verletzung Geld- oder Freiheitsstrafen verhängen„
Die Tatsache, dass heimgeschulte Kinder nachweislich gute Schulabschlüsse erreicht hätten, könne daran nichts ändern.
„Denn die Allgemeinheit hat ein berechtigtes Interesse daran, der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten "Parallelgesellschaften" entgegenzuwirken und Minderheiten zu integrieren. Selbst ein mit erfolgreichen Ergebnissen einhergehender Hausunterricht verhindert nicht, dass sich die Kinder vor einem Dialog mit Andersdenkenden und -gläubigen verschließen, und ist deshalb nicht geeignet, die insbesondere in einer Klassengemeinschaft gelebte Toleranz gegenüber einem breiten Meinungsspektrum nachhaltig zu fördern.“
Das Gericht verneint darüber auch einen Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG, weil nicht alle Länder Strafnormen vorgesehen haben (Rn. 23 der Entscheidung) und verneint eine verfassungswidrige Doppelbestrafung gem. Art. 103 Abs. 2 GG wegen wiederholter Verurteilungen der Eltern (vgl. Rn. 26 ff. der Entscheidung). Dies Ausführungen hierzu sind lesenswert und könnten in Examensklausuren aufgegriffen werden.
Zu früheren Entscheidungen: BVerfG, 21.07.2009 - 1 BvR 1358/09; BVerfG, 31.05.2006 - 2 BvR 1693/04