Die Große Kammer hatte einen Ausgleich herzustellen zwischen der nach Art. 10 EMRK gewährleisteten Pressefreiheit und den gem. Art. 8 EMRK geschützten Persönlichkeitsrechten der von den Kommentaren Betroffenen. Mit dieser Rechtssache war das Gericht erstmals dazu aufgerufen, sich in Bezug auf Nutzerkommentare zu den Rechten und Freiheiten von Internetnutzern zu äußern. Dabei galt es einerseits der wichtigen Funktion, die das Internet für den Meinungsaustausch und den öffentlichen, auch politischen Diskurs darstellt, Rechnung zu tragen. Andererseits war die Gefahr zu berücksichtigen, welche für die Persönlichkeitsrechte Einzelner dadurch entstehen, dass im Internet jeder mehr oder weniger unkontrolliert seine Meinung kundtun kann und diese sofort und weltweit abrufbar ist. In diesem Zusammenhang sei an die Problematik erinnert, die dadurch entsteht, dass einmal online gestellte Inhalte mitunter jahrzehntelang im Internet auffindbar sind, wodurch Rechtsverletzungen lange anhalten können – es lohnt sich, das Urteil des EuGH vom 13.05.2014 (C-131/12, NVwZ 2014, 857 ff.) zum Recht auf Vergessenwerden im Internet (ebenfalls in "BGH&Co." besprochen, siehe hier) anzuschauen.
Das Urteil der Großen Kammer in Delfi AS v. Estonia kann als Ausweitung der Haftung von Vertretern der Online-Presse verstanden werden und wurde wegen der potentiell negativen Auswirkungen auf die Meinungs- und Pressefreiheit (Stichworte: Selbstzensur und chilling effect) teilweise sehr kritisch aufgenommen.
Sachverhalt
Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde: 2006 hatte das estnische Nachrichtenportal Delfi einen Bericht darüber veröffentlicht, dass ein estnischer Fährenbetreiber sich durch das Gefrieren des Meeres ausbildende Eisstraßen zerstört hatte, um so sicherzustellen, dass zur Überquerung des Wassers weiterhin seine Fähren benutzt würden.
Unterhalb dieses Artikels konnten Nutzer, wie auf den Seiten von Delfi üblich, Kommentare veröffentlichen, wobei dies auch anonym möglich war. Da einige der Kommentare zu besagtem Artikel beleidigenden Charakter hatten und Drohungen gegen den Fährenbetreiber enthielten, forderte letzterer die Delfi-Seitenbetreiber sechs Wochen nach Veröffentlichung des Artikels auf, die Kommentare umgehend zu löschen. Dem kam Delfi innerhalb einiger Tage nach.
Im Folgenden verklagte der Fährenbetreiber Delfi vor einem estnischen Gericht auf Schadensersatz wegen der Veröffentlichung und wochenlangen Abrufbarkeit der beleidigenden Inhalte. Das estnische Zivilgericht verurteilte Delfi zur Zahlung von 320 Euro Schadensersatz. Insbesondere lehnte das estnische Gericht dabei das Argument Delfis ab, es genieße als Online-Service-Provider oder „Host“ i.S.d. unionsrechtlichen „Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“ bestimmte Haftungsbeschränkungen. Die Rolle eines bloßen Online-Service-Providers nehme Delfi gerade nicht ein, da es nicht lediglich technische Dienste erbringe, die sich in einer passiven Funktion erschöpften.
Nachdem Delfi erfolglos den estnischen Rechtsweg gegen das zivilgerichtliche Urteil beschritten hatte, legte es am 4. Dezember 2009 Beschwerde beim EGMR ein und rügte eine Verletzung seiner in Art. 10 I EMRK verbürgten Pressefreiheit. Mit Urteil vom 10. Oktober 2013 stellte die Kleine Kammer des EGMR einstimmig die Vereinbarkeit des estnischen Urteils mit Art. 10 EMRK fest. Dagegen beantragte Delfi am 17. Februar 2014 die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer des EGMR nach Art. 43 EMRK.
Urteil der Großen Kammer des EGMR
I. Reichweite des Urteils
Da das Gericht zu einer Frage Stellung zu nehmen hatte, die ein sich ständig weiter entwickelndes, hochkomplexes Feld betrifft, grenzte die Kammer zunächst die Reichweite ihrer Untersuchungen ein und beschränkte sich ausdrücklich auf die rechtliche Analyse der vorliegenden Konstellation, mithin die Veröffentlichung von Nutzerkommentaren auf einem kommerziellen Nachrichtenportal. Die Feststellungen seien nicht ohne weiteres übertragbar auf andere Seitenformate, etwa Diskussionsforen oder Plattformen in den sozialen Medien, die Nutzern die Möglichkeit zum Austausch böten, nicht aber zu Kommentaren zu bestimmten Inhalten aufriefen.
II. Rechtliche Beurteilung der veröffentlichten Kommentare
Zunächst untersuchte die Große Kammer die in Frage stehenden Nutzerkommentare und stellte fest, dass einige beleidigender Natur waren und andere gar als Hassreden (sog. hate speech) zu charakterisieren seien, sodass sie nicht den Schutz der Meinungsfreiheit nach Art. 10 I EMRK genössen. Die Kommentare seien so offensichtlich rechtsverletzend, dass dies den Betreibern von Delfi auch ohne nähere Nachforschungen, Abwägungen oder rechtliche Analysen erkennbar gewesen wäre.
III. Eingriff in den Schutzbereich
Die Veröffentlichung von Nutzerkommentaren unterhalb journalistischer Artikel durch Delfi stellte eine von der Pressefreiheit nach Art. 10 I EMRK (right to impart information) geschützte Tätigkeit dar. Das Urteil des estnischen Zivilgerichts, welches Delfi für diese Tätigkeit eine Schadensersatzpflicht auferlegte, beschränkte dieses Recht, und hatte daher den Erfordernissen des Art. 10 II EMRK zu entsprechen.
IV. Rechtfertigung
1. Gesetzmäßigkeit
Zunächst hatte die Beschränkung durch oder aufgrund eines Gesetzes geschehen. Hier setzte sich der EGMR mit der Frage auseinander, ob das estnische Gericht richtigerweise angenommen hatte, dass Delfi sich nicht auf die in der europäischen Richtlinie zum elektronischen Geschäftsverkehr enthaltenen Haftungsbeschränkungen berufen kann. Zwar obliegt es dem EGMR nicht, zu überprüfen, ob nationale oder unionsrechtliche Vorschriften rechtsfehlerfrei angewendet werden. Jedoch ist es Aufgabe des EGMR, zu beurteilen, ob die Anwendung der Rechtsvorschriften vorhersehbar und frei von Willkür ist.
Um sich auf die Haftungsbeschränkungen des Unionsrechts berufen zu können, hätte Delfi die Rolle eines Online-Service-Providers innehaben müssen, welcher lediglich technische Dienste erbringt und hinsichtlich der veröffentlichten Inhalte passive, automatisierte, rein vermittelnde Tätigkeiten ausführt. Insoweit als Delfi aber selbst Artikel und damit Inhalte veröffentlichte und zu Kommentaren zu gerade diesen Inhalten aufrief, nahm das Onlineportal keine rein neutrale Rolle in Bezug auf die Kommentare ein, sondern übte eine gewisse Kontrolle über diese aus. Dass die estnischen Gerichte Delfi in Anbetracht dessen nicht als Online-Service-Provider behandelt hatten, war nach Sicht der Großen Kammer nachvollziehbar, sodass sie die Rechtsanwendung als hinreichend vorhersehbar einschätzte.
2. Legitimer Zweck
Die Beschränkung der Pressefreiheit von Delfi verfolgte den Zweck, die Persönlichkeitsrechte des Fährenbetreibers zu schützen und war insoweit rechtmäßig.
3. Verhältnismäßigkeit / Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft
Schließlich hatte die Beschränkung der Pressefreiheit Delfis in einer demokratischen Gesellschaft notwendig zu sein zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit, Art. 10 II EMRK.
Die Große Kammer stimmte mit der Kleinen Kammer darin überein, dass für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit der Beschränkung folgende Aspekte zu berücksichtigen seien: der Kontext, in dem die Kommentare gemacht wurden; die Möglichkeit, die eigentlichen Autoren der Kommentare zu Verantwortung zu ziehen; die von Delfi getroffenen Maßnahmen, rechtsverletzende Kommentare zu verhindern oder wenn nötig zu löschen; das Ausmaß der Delfi auferlegten Strafe.
a. Kontext
Erstens stellte die Große Kammer in Bezug auf den Kontext der betreffenden Kommentare fest, dass es Delfi als professionelles und kommerziell betriebenes Nachrichtenportal gerade darauf ankam, möglichst viele Leser anzuziehen. Da dies unter anderem auch durch einen regen Austausch über die Nutzerkommentare zu erzielen sei, hätte Delfi gerade ein wirtschaftliches Interesse an der Veröffentlichung zahlreicher Kommentare.
Weiter erlaubten es die Nutzungsbedingungen von Delfi den Nutzern nicht, einmal gepostete Kommentare zu bearbeiten oder zu löschen. Die Autoren verloren vielmehr mit Veröffentlichung die Kontrolle über die Inhalte.
b. Alternative Verantwortlichkeit der eigentlichen Autoren
Zweitens hatte Delfi den Besuchern seiner Seiten die Möglichkeit eröffnet, anonym Kommentare zu posten, ohne dass dazu irgendeine Registrierung notwendig gewesen wäre. Dadurch hatte Delfi keinerlei Instrumentarium geschaffen, um die Urheber rechtsverletzender Beiträge zu identifizieren oder ausfindig zu machen. Es war mithin ausgeschlossen, die eigentlichen Autoren der Kommentare zu Verantwortung zu ziehen.
c. Vorkehrungen zur Verhinderung und Beseitigung rechtsverletzender Kommentare
Drittens hatte Delfi nur unzureichende Vorkehrungen getroffen, rechtsverletzenden Kommentaren vorzubeugen oder diese zeitnah zu löschen. Zwar hatte das Online-Portal Filtermechanismen eingesetzt, die bestimmte Schimpfwörter beinhaltende Kommentare automatisch löschten. Auch verfügte die Seite über ein Notifikationssystem (notice-and-take-down system), wonach Individuen sich bei einer vermeintlichen Verletzung ihrer Rechte an den Seitenbetreiber wenden und die Löschung bestimmter Kommentare verlangen konnten. Jedoch hatten beide Systeme im vorliegenden Fall versagt, sodass die rechtsverletzenden Kommentare für sechs Wochen auf dem Nachrichtenportal abrufbar gewesen waren.
Die Große Kammer stellte fest, dass das Urteil des estnischen Zivilgerichts nicht unverhältnismäßig war insoweit als es von Delfi verlangte, offensichtlich rechtswidrige Kommentare auch ohne vorherige Aufforderung zeitnah nach Veröffentlichung zu löschen. Dies sei schon deswegen gerechtfertigt, weil Delfi als professionelles Internetportal besser in der Lage sei, die auf seinen Seiten veröffentlichten Inhalte zu überprüfen, als dies den möglicherweise verletzten Individuen möglich sei.
In diesem Zusammenhang ging die Große Kammer auch auf zuvor von Seiten verschiedener Nichtregierungsorganisationen geäußerten Bedenken ein, wonach das Festschreiben von Prüf- und Kontrollpflichten für Betreiber von Onlineportalen zu einer weitreichenden Selbstzensur führen könnte. Die Große Kammer teilte diese Sicht nicht und sah keine Gefahr, dass der sogenannte „chilling effect“ zu einer übermäßigen Beschränkung der Meinungs- oder Pressefreiheit führen könnte. Dies beurteilte das Gericht auch anhand der Aktivitäten Delfis nach dem Urteil des estnischen Zivilgerichts: Delfi sei nach wie vor das populärste Online-Nachrichtenportal des Landes und es würden aktuell sogar noch mehr Kommentare gepostet als zuvor. Zwar könnten sich Nutzer mittlerweile auch mithilfe einer Emailadresse registrieren. Immer noch stellten aber anonym abgegebene Kommentare die Mehrzahl dar. Daneben hatte Delfi mittlerweile ein Moderatorenteam eingestellt, welches Kommentare auf mögliche Rechtsverletzungen durchsieht und gegebenenfalls löscht.
d. Umfang der Auferlegten Sanktionen
Viertens untersuchte die Große Kammer das Ausmaß der Delfi auferlegten Strafe und erklärte, dass die Pflicht, Schadensersatz in Höhe von 320 Euro insoweit angemessen sei, als Delfi eines der größten Internetportale Estlands sei.
Feststellung
Ausgehend von diesen Untersuchungen stellte die Große Kammer mit 15 zu 2 Stimmen fest, dass das Urteil des estnischen Zivilgerichts eine verhältnismäßige und damit gerechtfertigte Beschränkung von Delfis nach Art. 10 I EMRK garantierter Pressefreiheit darstellte und damit keine Verletzung der Konvention vorlag.
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