Sachverhalt
Die Beschwerdeführerin ist eine Religionsgemeinschaft, die in der Rechtsform eines Vereins organisiert ist. Sie gehört der Erzdiözese der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien in Deutschland an. In den 1990er Jahren errichtete sie auf einem Grundstück, das in einem Industriegebiet liegt, ein Kirchengebäude. Später beantragte sie die Erteilung einer Baugenehmigung zur Nutzungsänderung eines Raumes im Untergeschoss des Kirchengebäudes, der bisher als Lagerraum genutzt wurde, in eine Krypta mit zehn Begräbnisplätzen.
Die zuständige Baugenehmigungsbehörde lehnte den Antrag ab. Das verwaltungsgerichtliche Verfahren gegen die Versagung der Genehmigung blieb bis zur letztinstanzlichen Entscheidung des BVerwG erfolglos.
Daraufhin hat die Beschwerdeführerin fristgerecht Verfassungsbeschwerde eingelegt.
Entscheidungsgründe
Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde
In den Entscheidungsgründen des BVerfG wird die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nur knapp festgestellt.
In einer Klausur wären dazu folgende Punkte zu prüfen:
Die Zuständigkeit des BVerfG ergibt sich aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG i.V.m. § 13 Nr. 16a BVerfGG i.V.m. § 93 ff. BVerfGG.
Eine privatrechtlich organisierte Religionsgemeinschaft ist ein „jedermann“ und somit zulässiger Beschwerdeführer.
Als Beschwerdegegenstand kommt hier das letztinstanzliche Urteil in Betracht.
Die Beschwerdebefugnis der Religionsgemeinschaft ergibt sich aus einer möglichen Verletzung der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG i.Vm. Art. 19 Abs. 3 GG. Die Religionsgemeinschaft ist durch das Urteil auch selbst, unmittelbar und gegenwärtig betroffen.
Der Rechtsweg wurde gem. § 90 Abs. 2 BVerfGG erschöpft und auch der Grundsatz der Subsidiarität gewahrt.
Schließlich musste die Monatsfrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG und die Form nach § 23 BVerfGG gewahrt werden.
Begründetheit der Verfassungsbeschwerde
1. Schutzbereich
Das BVerfG versteht die in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG genannten Garantien traditionell als einheitliches Grundrecht der Religionsfreiheit, dessen Schutzbereich weit ausgelegt wird.
So umfasst der einer Religionsgemeinschaft zukommende Grundrechtsschutz
„das Recht zu eigener weltanschaulicher oder religiöser Betätigung, zur Verkündigung des Glaubens sowie zur Pflege und Förderung des Bekenntnisses. Hierzu gehören nicht nur kultische Handlungen, die Beachtung und Ausübung religiöser Gebote und Gebräuche wie Gottesdienst, Sammlung kirchlicher Kollekten, Gebete, Empfang der Sakramente, Prozessionen, Zeigen von Kirchenfahnen und Glockengeläut, sondern auch religiöse Erziehung, Feiern und andere Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens sowie allgemein die Pflege und Förderung des jeweiligen Bekenntnisses“.
Eine deutliche Absage erteilt das BVerfG Überlegungen, bestimmte Handlungen seien nur dann von der Religionsfreiheit geschützt, wenn sie sich als zwingende Gebote der Religion darstellen:
„Fällt ein Verhalten (…) in den Schutzbereich der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit, kommt es insoweit nicht mehr darauf an, welche konkrete Bedeutung ihm nach den Glaubenslehren zukommt. Denn das Recht, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln, betrifft nicht nur imperative Glaubenssätze, sondern auch solche religiösen Überzeugungen, die ein Verhalten als das zur Bewältigung einer Lebenslage richtige bestimmen“.
Am Maßstab dieser Grundsätze konnte kein Zweifel bestehen, dass auch das Begehren der Religionsgemeinschaft, in Zukunft einen der Räume ihres Kirchengebäudes als Begräbnisstätte für ihre Priester zu nutzen, vom Schutzbereich der Religionsfreiheit erfasst ist. Zudem konnte die Religionsgemeinschaft ihr religiöses Selbstverständlich mit Hinweis darauf plausibel erklären, dass im syrisch-orthodoxen Glauben die kultische Totensorge und die Hauskirchenbestattung von Priestern traditionell verankert ist. Es entspricht alter syrisch-orthodoxer Kirchenlehre, dass die Pfarrer der Gemeinde, in der sie bis zum Lebensende tätig waren, auch in Nähe des Altars zur letzten Ruhe gebettet werden.
2. Eingriff
Die Versagung der Baugenehmigung zu einer solchen Nutzung des Kirchengebäudes der Beschwerdeführerin stellt einen Eingriff in die Religionsfreiheit dar.
3. Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Der Eingriff müsste verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.
Das BVerfG interpretiert das Grundrecht der Religionsfreiheit seit jeher als vorbehaltlos garantiertes Grundrecht. Danach unterliegt die Religionsfreiheit nur verfassungsimmanenten Schranken, also Grundrechte Dritter und Gemeinschaftsgüter von Verfassungsrang.
Die in der Literatur vielfach vertretene Gegenauffassung, nach der sich aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 136 Abs. 1 WRV ein Gesetzesvorbehalt ergibt, wird vom BVerfG abgelehnt.
Daher muss zunächst eine verfassungsimmanente Schranke der Religionsfreiheit, die den Eingriff rechtfertigen könnte, identifiziert werden. Es ist also ein Verfassungsgut zu finden, dem das Verbot der Nutzung einer Krypta im Industriegebiet dient.
Das BVerfG schließt dabei zunächst den postmortalen Achtungsanspruch, der aus Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitet wird, als kollidierendes Verfassungsgut aus. Denn eine Beeinträchtigung des postmortalen Persönlichkeitsschutzes sei nur anzunehmen, wenn der (mutmaßliche) Wille des Verstorbenen dies nahelege. Aufgrund der konkreten Umstände sei es aber fernliegend, dass es dem freiwilligen und eigenverantwortlichen Handeln widersprechen würde, die Geistlichen in einer Krypta zu beerdigen, nur weil diese sich in einem Industriegebiet befindet.
Ebenfalls lehnt das BVerfG eine Rechtfertigung des Eingriffs im Hinblick auf die Totenruhe oder das Pietätsempfinden der Hinterbliebenen oder der Allgemeinheit ab. Diese Begriffe sind offen und können nur unter Achtung des mutmaßlichen Willens der Verstorbenen bestimmt werden. Es müsse Raum bleiben für eine individuelle Definition würdigen Totengedenkens. Es sei nicht Aufgabe des Staates, zu entscheiden, welche industriegebietstypischen Immissionen ein pietätsvollen Totengedenken ausschließen und welche nicht.
Als kollidierendes Verfassungsgut anerkennt das BVerfG dagegen das Eigentumsgrundrecht aus Art. 14 Abs. 1 GG und die Berufsfreiheit gem. Art. 12 Abs. 1 GG der Nachbarn des Grundstücks der Kirche. Diese Grundrechte schützen das Recht, benachbarte Produktionsanlagen zu nutzen und Grundstücke in einem Industriegebiet auch für Tätigkeiten zu verwenden, die in erheblichem Umfang Lärm und andere Immissionen verursachen. Wenn sich aus der Nutzung der Krypta als Begräbnisstätte bestimmte Auflagen für die benachbarten Nutzer ergeben, z.B. bei einer Beerdigung oder einem anderen Ritus des Totengedenkens, liegt darin ein Eingriff in die Berufs- und Eigentumsgarantie.
Somit kommt es zu einem Grundrechtskonflikt zwischen der Religionsfreiheit der Beschwerdeführerin einerseits und dem Grundrecht auf Eigentum und der Berufsfreiheit der benachbarten Grundstückseigentümer und Betriebsinhaber. Dieser Konflikt ist nach den klassischen Regeln unter Abwägung aller Umstände nach dem Grundsatz der praktischen Konkordanz aufzulösen. Das erfordert, dass nicht eine der widerstreitenden Rechtspositionen bevorzugt und maximal durchgesetzt wird, sondern alle einen möglichst schonenden Ausgleich erfahren.
Das BVerfG kommt zu dem Ergebnis, dass die Entscheidungen der Verwaltungsgerichte diesen Anforderungen nicht gerecht werden und der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit der Religionsgemeinschaft bei der Auslegung und Anwendung des § 31 Abs. 2 BauGB nicht hinreichend Rechnung getragen hat.
Dabei kritisiert das BVerfG vor allem drei Punkte:
Zum einen werde in der Entscheidung des VGH nicht ausreichend deutlich, inwieweit allein aus der Einrichtung der auf zehn Begräbnisplätze für Gemeindepfarrer beschränkten Krypta überhaupt konkrete und nennenswerte Auswirkungen auf die Nutzung der benachbarten Grundstücke haben und den ursprünglich bauplanungsrechtlich verfolgten Interessenausgleich gefährden könne.
Zweitens gewichte das Verwaltungsgericht die Bedeutung der Religionsfreiheit in der Abwägung zu gering. Damit ist das religiöse Selbstverständnis angesprochen, ein zentraler Argumentationspunkt bei der Prüfung der Religionsfreiheit:
„Ist für die betreffende Glaubensgruppe das Bestehen verpflichtender Vorgaben dargelegt, hat sich der Staat, der ein solches religiöses Selbstverständnis nicht unberücksichtigt lassen darf, einer Bewertung dieser Glaubenserkenntnis zu enthalten. Es überschreitet die Grenzen der – verfassungsrechtlich zulässigen – gerichtlichen Plausibilitätsprüfung, wenn das Gericht der Beschwerdeführerin einen – für sie – zwingenden Charakter des Gebots einer Hauskirchenbestattung für Priester abspricht.“
Drittens setze sich das Verwaltungsgericht nicht ausreichend mit anderen Möglichkeiten auseinander, praktische Konkordanz herzustellen. So seien als mildere Maßnahme gegenüber einem Verbot der Nutzung als Krypta die Anordnung baulicher Maßnahmen zur Vermeidung unzumutbarer Belästigungen oder Störungen denkbar. Schließlich komme auch eine dinglich gesicherte Erklärung der Kirchengemeinde in Betracht, auf den immissionsrechtlichen Schutz zu verzichten.
Insgesamt ist das Urteil unangemessen und daher verfassungswidrig.
Examensrelevanz und zusätzliche Hinweise
Der Fall ist wie geschaffen für eine Verwendung in Prüfungsaufgaben. Diese Entscheidung des BVerfG wird mit Sicherheit in Zukunft als Vorlage von Examensklausuren dienen.
Abgesehen von einer Verfassungsbeschwerde kommt auch eine baurechtliche Klausur in Betracht. Prozessual bietet sich dabei eine Verpflichtungsklage auf Erteilung einer Baugenehmigung an. Bauplanungsrechtlich lässt § 9 Abs. 3 BauNVO die Nutzung von Bauvorhaben für kirchliche Zwecke ausnahmsweise zu. Es geht dann um eine Ausnahmegenehmigung nach § 31 Abs. 1 BauGB. oder eine Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB.
Verfassungsrechtlich könnte man in den Fall noch als zusätzliches Problem einbauen, dass keine privatrechtlich, sondern eine Religionsgemeinschaft in der Rechtsform einer Körperschaft des öffentlichen Rechts nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 5 WRV handelt. Öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften genießen jedoch nach Art. 19 Abs. 3 GG ebenfalls Grundrechtsschutz und bilden zusammen mit Fakultäten (Art. 5 Abs. 3 GG) und Rundfunkanstalten (Art. 5 Abs. 1 GG) die klassische Ausnahmetrias vom Grundsatz, dass die Grundrechte auf öffentlich-rechtliche juristische Personen ihrem Wesen nach nicht anwendbar sind.