Das OVG Lüneburg hat sich in seinem Beschluss vom 17.09.2014 (Az. 10 LA 42/14, NVwZ-RR 2014, 977) mit folgendem Sachverhalt auseinandergesetzt:
Die Kläger sind in der laufenden Wahlperiode Mitglieder des Gemeinderats der Stadt C. Sie vertreten die Ansicht, dass zwei andere Ratsmitglieder, die Herren E und F, an vom Gemeinderat getroffenen Entscheidungen im Zusammenhang mit der Neuvergabe der Konzessionsverträge für die Gas- und Stromleitungen hätten ausgeschlossen werden müssen und dass die unter ihrer Beteiligung ergangenen Entscheidungen deshalb unwirksam seien.
Herr E ist Beschäftigter der EWE Vertriebs-GmbH, einer Tochter der EWE-AG. Herr F ist Vertreter des Landkreises C. in der Verbandsversammlung des Ems-W.-E. Versorgungs- und Entsorgungsverbandes, einer Vereinigung der kommunalen Anteilseigener der EWE-AG, sowie Aufsichtsratsmitglied der Stadtwerke B., einer weiteren Tochter der EWE-AG. Auf der Tagesordnung der Ratssitzung vom 16.12.2013 stand unter Punkt 9 die Beteiligung der Stadt C. an der Kommunalen Netzbeteiligung Nordwest-GmbH u. Co KG (KNN), die wiederum (von der EWE-AG) Anteile an der EWE Netz-GmbH als potenzieller zukünftiger Konzessionär übernehmen solle. Die Klägern wandten sich mit ihren Klagen deshalb mit ihrem Begehren gegen „Entscheidungen“ des Gemeinderats.
Lösung:
Schon beim Durchlesen des Sachverhalts sollte auffallen, dass hier zwei Gemeinderatsmitglieder gegen einen Gemeinderatsbeschluss vorgehen. Ein klassischer Fall eines kommunalen Organstreitverfahrens. Welche Klageart die statthafte ist, richtet sich dabei stets nach dem konkreten Klagebegehren – eine gesonderte Klageart „Kommunalverfassungsstreit“ existiert nicht.
Anmerkung: Ausführungen hierzu und zu den Besonderheiten beim richtigen Klagegegner finden Sie in den juriq-Examensskripten.
Die zentrale Frage, mit der sich das OVG Lüneburg beschäftigt, ist, ob A und B überhaupt klagebefugt sind. Hierfür müssten sie in eigenen Rechten betroffen sein. Die notwendige Klagebefugnis in einem kommunalen Organstreitverfahren setzt eine mögliche Verletzung eigener organschaftlicher Rechte des Ratsmitglieds voraus. Der Verstoß gegen die objektive Rechtsordnung reicht hierfür nicht. Das OVG Lüneburg verneint in Bezug auf die Mitwirkung von E und F am einschlägigen Gemeinderatsbeschluss eine Klagebefugnis von A und B.
Zu F:
„Bezogen auf die Mitwirkung von Herrn F folgt dies daraus, dass er von den in Rede stehenden
Entscheidungen persönlich iSd § 41 I 1 Nrn. 1 - 3 NKomVG offensichtlich nicht betroffen ist und er als (…) Verbands- und Aufsichtsratsmitglied auch keine juristische Person iSv § 41 I 1 Nr. 4 NKomVG „kraft Gesetzes oder Vollmacht“ vertritt. Ebenso wenig steht er auf Grund dieser Positionen gegen Entgelt in einem Beschäftigungsverhältnis iSd § 41 II NKomVG. Schließlich sind die umstrittenen Sachentscheidungen weder für den E.-W. Versorgungs- und Entsorgungsverband noch für die Stadtwerke B. „unmittelbar“ vor- oder nachteilig iSd § 41 NKomVG.“
Zu E:
„Gleiches gilt für den Ratsherrn E. Denn keine der in Rede stehenden Sachentscheidungen (…) hat ihm persönlich (§ 41 I NKomVG) oder als Beschäftigter der EWE Vertriebs-GmbH (§ 41 II NKomVG) „unmittelbar“ einen Vorteil verschafft. Dieses Tatbestandsmerkmal ist bewusst formal gefasst und setzt nach der Legaldefinition in § 41 I 2 NKomVG voraus, dass der Vorteil ohne weitere Ereignisse oder Maßnahmen allein auf dem bereits getroffenen Beschluss oder dessen Ausführung beruht. Die o. a. streitigen Sachentscheidungen des Bekl. bereiten jedoch die Konzessionsvergabe an die EWE Netz-GmbH nur vor. Ein vorliegend allenfalls in Betracht kommender Vorteil für Herrn E als Beschäftigter der EWE Vertriebs-GmbH setzte also zusätzlich mindestens einen weiteren, im jeweiligen Entscheidungszeitpunkt im Jahr 2013 noch ausstehenden Zwischenschritt voraus, nämlich die Konzessionsvergabe an die EWE Netz-GmbH. Selbst dann wäre sehr fraglich, ob allein die Zugehörigkeit dieses Unternehmens und der EWE Vertriebs-GmbH, der Herr E angehört,
zu demselben (EWE-) Konzern für die Annahme eines unmittelbaren Vorteils hinreichend ist. Entsprechende vorbereitende Ratsbeschlüsse können daher allein durch die Mitwirkung des ggf. von einer späteren Ratsentscheidung „betr. Ratsmitgliedes“ andere Ratsmitglieder nicht in ihren organschaftlichen Rechten verletzen.“
Merken Sie sich, dass die „Unmittelbarkeit“ als unbestimmter Rechtsbegriff zentrale Stellschraube dafür ist, die Befangenheit eines Ratsmitglieds bei einem konkreten Beschluss, zu bejahen oder zu verneinen. Die Gerichte können auf diese Weise vermeiden, dass der Ausschluss von Ratsmitgliedern uferlos stattfindet. Soweit eine Legaldefinition des Begriffs in der Kommunalverfassung fehlt, ist die Unmittelbarkeit nach h.M. gegeben, „wenn bei vernünftiger Betrachtungsweise aufgrund besonderer Umstände ein individuelles Sonderinteresse festzustellen war, das aus der Sicht des Bürgers den bösen Schein der Korruption begründen und damit das Vertrauen in die Unvoreingenommenheit und Integrität der Kommunalverwaltung untergraben konnte“.
In Ländern mit Legaldefinition von „unmittelbar“ kommt es vorwiegend – wie z.B. in NRW oder hier in § 41 I S. 2 NKomVG – auf eine „formal-kausale“ Interpretation an. Für die Unmittelbarkeit des Vorteils kommt es darauf an, ob „er sich kausal direkt aus dem Beschluss ergibt oder nicht. Es ist dann zu untersuchen, ob eine „unmittelbare“ Betroffenheit besteht oder ob – wie hier – erst weitere Zwischenschritte notwendig sind, um diese Vorgabe erfüllen.
Sollten die Hürde des unmittelbaren Vorteils überwunden werden, kommt jedoch immer noch ein Ausschluss in Frage, wenn die Ratsmitglieder „als Angehörige einer Berufs- oder Bevölkerungsgruppe beteiligt sind, deren gemeinsame Interessen durch die Angelegenheit berührt werden“ (vgl. für den vorliegenden Fall in Niedersachen § 41 I S. 3 NKomVG) bzw. die erforderliche „Ergebnisrelevanz“ (§ 41 VI S. 1 NKomVG) fehlt.
Zur Vertiefung der hier aufgeworfenen Fragen eignet sich unser Fall „Die Raum einnehmende Fachhochschule“ aus dem Klausurenkurs im Öffentliches Recht.