Der Berliner Verfassungsgerichtshof beschloss eine komplette Wiederholung der Wahl zum Abgeordnetenhaus (Urteil vom 16.11.2022, Az. VerfGH 154/21). Gleichzeitig erklärte das Gericht auch die Wahlen zu allen zwölf Berliner Bezirksverordnetenversammlungen für ungültig und ordnete Neuwahlen an. Der VerfGH ging damit weiter als gedacht.
Bei der Wahl hatte es zahlreiche schwere Mängel gegeben: zu wenige Wahlurnen, Stimmzettel waren falsch oder fehlten völlig, daraufhin mussten mehrere der 2256 Wahlräume teils über Stunden schließen und es gab mehrstündige Wartezeiten. Dadurch bedingt wurden teils noch Ende des Wahltages um 18 Uhr Stimmen abgegeben, in fast der Hälfte der Wahlräume noch nach 18 Uhr, 244 waren sogar noch nach 18:30 geöffnet. Zu diesem Zeitpunkt wurden aber bereits erste Prognosen veröffentlicht, wodurch Wahlberechtigten bei der Stimmabgabe potentiell beeinflusst wurden. Tausende Wahlberechtigte konnten somit ihre Stimme nicht, nicht wirksam, nicht unter zumutbaren Bedingungen oder nicht unbeeinflusst abgeben.
Gerichtspräsidentin Ludgera Selting nahm in der Begründung kein Blatt vor den Mund und verwies auf „schwere systemische Mängel“ schon während der Wahlvorbereitung sowie eine „Vielzahl schwerer Wahlfehler“. Auch die Schuldigen sind schnell ausgemacht: Zwar gab es keinerlei Manipulationen der Wahl wie gefälschte Stimmzettel oder Wählerbeeinflussung. Aber: Die Landeswahlleitung und die Senatsverwaltung für Inneres habe den Wahlvorgang derartig schlecht geplant und organisiert, dass allein hierin schon ein Wahlfehler zu sehen sei, der dann weitere zur Folge hatte. Die 38.000 ehrenamtlichen Wahlhelfer*innen haben nach Überzeugung des Gerichts alles versucht, um die Wahl ordnungsgemäß zu veranstalten. Dies sei jedoch in vielen Fällen nicht gelungen und konnte ob der schweren systemischen Mängel in der Wahlvorbereitung auch gar nicht gelingen. Nach dem Urteil gab es bereits zahlreiche Rücktritte in den Behörden.
Die Wahlrechtsgrundsätze der Allgemeinheit, Gleichheit und Freiheit sind nach Ansicht des Gerichts verletzt worden. Aber es gab nicht nur Pannen, diese wirkten sich schließlich auch auf die Zusammensetzung des Parlaments aus, waren also mandatsrelevant. Der VerfGH geht davon aus, dass die festgestellten Wahlfehler die Verteilung der Sitze im Abgeordnetenhaus beeinflusst haben, dies stehe für die Erststimme in 19 der überprüften 22 Wahlkreise und für die Zweitstimme im gesamten Wahlgebiet fest.
Fraglich war nun, ob dies zu einer Wiederholung in ganz Berlin führen muss. Und diese Auffassung vertritt das Gericht: Nur nur eine Wiederholung der Wahl im gesamten Wahlgebiet könne verfassungsrechtliche Standards wiederherstellen. Eine Wiederholung lediglich in einzelnen Bezirken komme in Anbetracht der schwerwiegenden und flächendeckenden Fehler nicht in Betracht. Letztlich sei es unmöglich, mit mathematischer Genauigkeit zu belegen, wie die Sitzverteilung konkret beeinflusst wurde. Es bestehe aber die Möglichkeit, und ein Defizit bei der Sachverhaltsermittlung gehe zu Lasten der Senatsverwaltung. Damit sei eine Wahlwiederholung „unvermeidlich“.
Und auch die Zweitstimme in gesamt Berlin nachwählen zu lassen, die Erststimme aber lediglich in einzelnen Bezirken, entspreche ebenfalls nicht den Wahlrechtsgrundsätzen sowie dem Demokratieprinzip. Eine Repräsentation des Volkswillens durch Wahlen sei nur dann gesichert, wenn der Willen der Wählenden zu einem bestimmten Zeitpunkt abgebildet wird, argumentiert das Gericht.
Verfassungsrichterin Prof. Dr. Ulrike Lembke verfasste ein Sondervotum. Das Urteil „überdehnt den Grundsatz der potentiellen Kausalität erheblich“, sagt sie. Auch sie stellt gravierende Wahlfehler fest, im Hinblick auf die Zweitstimmen seien diese auch mandatsrelevant. Bezüglich der Erststimmen sehe das jedoch anders aus, hier hätte das Gericht nach Lembke die Mandatsrelevanz detailliert prüfen müssen. Eine komplette Wiederholung sei nicht schlüssig, zumindest hätte eine solch weitreichende Entscheidung deutlich besser begründet werden müssen.
Schon während der mündlichen Verhandlung am 28. September (wegen des großen Andrangs im Hörsaal der FU Berlin) hatte der VerfGH zu verstehen gegeben, dass er eine vollständige Wiederholung der Wahlen zum Abgeordnetenhaus für möglich halte. Eine solch klare Positionierung ohne folgendes klärendes Rechtsgespräch mit den Beteiligten sorgte für Irritationen. Bei der Verkündung betonte Selting, dass der VerfGH sich ein umfassendes Bild von den Ereignissen am Wahltag gemacht habe. 2.256 Wahlniederschriften der Urnenwahllokale, Protokolle der Bezirkswahlausschüsse und des Landeswahlausschusses, ca. 100 schriftliche Stellungnahmen der Einsprechenden und sonstigen Beteiligten und den Antworten der Landeswahlleitung auf einen Fragenkatalog, wie auch eine nachgereichte Stellungnahme seien in das Urteil eingeflossen.
Eine Wahlwiederholung muss nun innerhalb von 90 Tagen erfolgen, vermutlich am 12. Februar 2023. Wahlberechtigt sind alle, die am 26. September 2021 wahlberechtigt waren. Dies kann zu einer neuen Regierung in Berlin führen, möglich sind auch Auswirkungen auf den Bundestag – die Wahl in Berlin fand ja zeitgleich mit der Wahl zum Bundestag statt und die Fehler wirkten sich auch auf diese aus. Ob aber eine Mandatsrelevanz festzustellen sein wird blieb offen. Von einer Vorlage an das BVerfG sah der VerfGH ab.
Mittlerweile sind 19 Wahlprüfungsbeschwerden in Karlsruhe anhängig. Hierüber wird aber erst nach der Wahl entschieden, diese geschieht also „unter Vorbehalt“. Einen Eilantrag wies das BVerfG jedoch zurück (BVerfG, Beschl. v. 25.01.2023, Az. 2 BvR 2189/22).