Ob ein rechtlicher Hinweis oder aber eine Nachtragsanklage erforderlich wird, richtet sich zunächst einmal danach, ob die neuen Erkenntnisse eine neue, bislang noch nicht angeklagte prozessuale Tat betreffen oder nicht.
Unter einer prozessualen Tat wird ein geschichtlicher Lebensvorgang verstanden, der nach allgemeiner Lebensauffassung einheitlich erscheint und sich von anderen ähnlich gelagerten Lebensvorgängen unterscheidet Joecks/Jäger StPO § 264 Rn. 2 Orientieren können Sie sich am materiell-rechtlichen Tatbegriff: bei Tateinheit gem. § 52 StGB liegt i.d.R. auch eine prozessuale Tat vor, bei Tatmehrheit gem. § 53 StGB liegen i.d.R. mehrere prozessuale Taten vor.
Hinweis
Mit der prozessualen Tat haben wir uns bereits in diesem Artikel näher befasst:
Stellt sich nun in einer Hauptverhandlung heraus, dass der Täter neben der angeklagten prozessualen Tat eine weitere prozessuale Tat begangen hat, dann muss die Staatsanwaltschaft gem. § 266 StPO eine Nachtragsanklage erheben.
Haben sich hingegen nur rechtliche Aspekte innerhalb der angeklagten prozessualen Tat verändert, dann reicht ein rechtlicher Hinweis gem. § 265 StPO. Das gilt z.B. auch dann, wenn der Täter wegen einer milderen Qualifikation verurteilt als angeklagt wird. So wurde in einem vom BGH in 2022 entschiedenen Fall ein Täter wegen besonders schweren Raubes gem. §§ 249, 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB angeklagt aber nur wegen schweren Raubes gem. § 250 Abs. 1 Nr. 1b StGB verurteilt ohne dass zuvor ein rechtlicher Hinweis erteilt wurde.
Der BGH (Beschl. v. 20.09.2022 – 3 StR 200/22 abgedruckt in NStZ 2023, 511) hat darin einen relativen Revisionsgrund gem. § 337 Abs. 1 StPO gesehen und das Urteil hinsichtlich des Strafausspruches aufgehoben und dazu folgendes ausgeführt:
„Zwar ist § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StGB gegenüber § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB der mildere Qualifikationstatbestand. Daher wäre ein Hinweis auf die mögliche Verurteilung nach der weniger strengen Norm entbehrlich gewesen, wenn deren Anwendbarkeit nur darauf beruht hätte, dass ein den schwereren Qualifikationstatbestand begründender Umstand entfallen wäre, und hierdurch die Verteidigung des Angeklagten nicht berührt worden wäre…
Dies war aber nicht der Fall. Dem Angeklagten war in der Anklageschrift als qualifizierender Umstand im Sinne von § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB angelastet worden, er oder einer seiner Komplizen habe einen Elektroschocker gegen einen der Geschädigten verwendet. Die Verurteilung des Angeklagten beruht dagegen darauf, dass die Mittäter Klebeband als Fesselungswerkzeug mit sich führten und einsetzten….
Damit wird zur Begründung der Tatqualifikation des § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StGB ein Sachverhalt herangezogen, der sich gegenüber dem Geschehen, auf das die Anklage den Tatvorwurf nach § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB stützt, nicht lediglich ein Weniger darstellt, sondern abweichende Tatumstände umfasst. Der in der Anklageschrift geschilderte Sachverhalt enthielt zwar die Fesselung der Geschädigten mit Klebeband. Sie verhielt sich jedoch nicht dazu, dass hierdurch der Qualifikationstatbestand des § 250 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. b StGB erfüllt sein könnte.“