Zunächst einmal müssen Sie den prozessualen Tatbegriff von dem materiellen Tatbegriff abgrenzen, der sich an der Handlung orientiert. Mit dem materiellen Tatbegriff befassen Sie sich in einer Klausur spätestens am Ende der Bearbeitung, wenn Sie die Konkurrenzen gem. §§ 52 ff. StGB prüfen.
Expertentipp
Die Gesetzeskonkurrenzen sollten Sie allerdings schon während der Bearbeitung beachten, da zurücktretende Taten nicht geprüft werden müssen. So wird die fahrlässige Tötung gem. § 222 StGB von der Körperverletzung mit Todesfolge gem. § 227 StGB und der Hausfriedensbruch gem. § 123 StGB vom Wohnungseinbruchsdiebstahl gem. § 244 Abs. 4 StGB verdrängt.
Der prozessuale Tatbegriff orientiert sich nicht an der Handlung, sondern an einem geschichtlichen Vorgang. Die prozessuale Tat erstreckt sich auf das gesamte Verhalten des Täters, welches bei natürlicher Betrachtung ein einheitliches Geschehen bildet (BGH NStZ 2023, 252).
Die Einheitlichkeit des Lebensvorgangs hängt nach Meinung des BGH von der inneren Verbindung der einzelnen Verhaltensweisen des Täters ab. Maßgebliche Kriterien sind Tatzeit, Tatort, Taterfolg und die Ziele, die der Täter durch seine Taten zu erreichen beabsichtigt. Eine Einheitlichkeit kann dann bejaht werden, wenn eine Aufspaltung des Geschehens unnatürlich wäre BGH NStZ 2020, 705.
Der materielle Tatbegriff dient dabei als Orientierung: bei Tateinheit gem. § 52 StGB liegt in der Regel auch nur eine prozessuale Tat vor, bei Tatmehrheit gem. § 53 StGB hingegen können Sie in der Regel von mehreren prozessualen Taten ausgehen.
Aber wie so oft bestätigen Ausnahmen die Regel. In folgendem Fall hat der BGH (NStZ 2023, 252) trotz Tatmehrheit nur eine prozessuale Tat angenommen:
A bedrängte seine Ehefrau E, die sich von ihm getrennt hatte, an der Wohnungstüre mit einem Messer und verschaffte sich Zutritt zu ihrer Wohnung, wo es zu Handgreiflichkeiten und einer durch das Vorhalten des Messers verstärkten Drohung, die E umzubringen, kam. Wegen dieser Tat wurde A rechtskräftig verurteilt.
Später wurde er dann erneut angeklagt wegen einer kurze Zeit darauf in der Wohnung stattgefunden habenden Vergewaltigung. Nachdem es nach dem Eindringen in die Wohnung zwischen A und E zu einem Gespräch gekommen war und sich die Situation etwas beruhigt hatte, entschloss sich A, nachdem E sich geweigert hatte, mit ihm zu schlafen, den Geschlechtsverkehr zu erzwingen. E gab später an, dass sie dem Zwang des A auch wegen des Messers, welches er wieder in seine Hosentasche gesteckt hatte und der zuvor ausgesprochenen Drohung nachgegeben habe.
Aufgrund der zeitlichen Zäsur und er Aufgabe des Vorsatzes, E zu bedrohen, stehen die Taten vor der Beruhigung der Situation und die schwere Vergewaltigung zueinander in Tatmehrheit. Der BGH hat aber einen einheitlichen Zusammenhang gesehen und das Verfahren gem. § 206a i.V.m. § 354 Abs. 1 StPO wegen des Verfahrenshindernisses des Strafklageverbrauchs eingestellt.