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Die Staatsgewalt wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). In der mittelbaren Demokratie des Grundgesetzes kommen neben den Bundestagswahlen Abstimmungen, also unmittelbare Entscheidungen des Volkes in Sachfragen, kaum vor (Ausnahmen: Neugliederung des Bundesgebietes nach Art. 29 GG und Abstimmung über eine neue Verfassung nach Art. 146 GG).
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Die Kommunen üben wie der Staat Hoheitsgewalt aus. Ihre Organe sind deshalb durch die Kommunalwahlen ebenfalls demokratisch legitimiert. Auf kommunaler Ebene wird das repräsentativ-demokratische System der Kommunalverfassung aber um ein wichtiges Element „unmittelbarer oder direkter“ Demokratie ergänzt. Bürger und in beschränktem Umfang auch Einwohner können mittels gesetzlich vorgesehener plebiszitärer Rechtsinstrumente unmittelbaren Einfluss auf die Kommunalverwaltung nehmen. Mit einem Bürgerentscheid treffen die Bürger – an Stelle des Rates oder möglicherweise sogar gegen den Rat – eine eigene Entscheidung unmittelbar über eine Angelegenheit der Gemeinde.
Durch die Einführung des Bürgerentscheides ist das repräsentativ-demokratische System allerdings nicht überlagert worden. Vielmehr sind beide Entscheidungsformen (Bürgerentscheid und repräsentative Entscheidungen) rechtlich gleichwertig.OVG NRW Beschlüsse vom 19.3.2004 – 15 B 522/04 – und vom 6.12.2007 – 15 B 1744/07 –, juris. Diese Feststellung hat zur Folge, dass ein Sicherungsanspruch zu Gunsten eines Bürgerbegehrens grundsätzlich selbst dann nicht besteht, wenn eine Entscheidung der gemeindlichen Repräsentativorgane dem widersprechenden Bürgerbegehren zuvorkommt.OVG NRW Beschluss vom 24.4.2017 – 15 B 479/17 –, juris, hierzu auch Schmidt KommJur 2018, 165, 168. Der Sinn des repräsentativ-demokratischen Systems besteht schließlich gerade darin, eine organisatorisch und zeitlich handhabbare Form demokratischer Willensbildung für mitgliederstarke Körperschaften wie Kommunen bereitzustellen. Erst wenn die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens vom Rat festgestellt worden ist, besteht für die Gemeindeorgane eine Sperrwirkung für dem Bürgerbegehren entgegenstehende Entscheidungen (§ 26 Abs. 6 S. 7 GO). Nur unter ganz besonderen Umständen kann sich eine Beschränkung der Handlungsmacht der Repräsentativorgane aus dem auch auf das Verhältnis der Gemeindeorgane zur Bürgerschaft anwendbaren Gebot der Organtreue ergeben.Vgl. hierzu im Einzelnen: Bätge Bürgerbegehren und Bürgerentscheid im Spiegel der aktuellen Rechtsprechung in Heußner/Pautsch/Wittreck, FS für Otmar Jung, 2021, 387, 406.
Beispiel
Gegen die vom Rat in Kürze beabsichtigte Fällung von Alleebäumen richtet sich ein Bürgerbegehren. Da die Sammlung der für das Bürgerbegehren erforderlichen Unterschriften einige Zeit dauert und eine Baumfällung zu befürchten ist, wollen die Vertreter des Bürgerbegehrens im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vom Verwaltungsgericht festgestellt wissen, dass die Gemeinde die Baumfällarbeiten unterlässt, bis über das Bürgerbegehren und einen nachfolgenden Bürgerentscheid entschieden ist.
Der Antrag hat keinen Erfolg, da es hierfür keinen Anordnungsanspruch gibt. Als mögliche Anspruchsgrundlage scheidet § 26 Abs. 6 S. 7 GO aus, da es an einer die Sperrwirkung des Bürgerbegehrens auslösenden Feststellung der Zulässigkeit des Bürgerbegehrens fehlt. Auch der Grundsatz der Organtreue rechtfertigt im vorliegenden Fall keinen „außergesetzlichen Handlungsstopp“ der Gemeindeorgane. Wegen der Gleichwertigkeit von Entscheidungen der Gemeindeorgane einerseits und von Bürgerbegehren andererseits ist die Treuepflicht nicht schon dann verletzt, wenn die Entscheidung des Gemeindeorgans dem Bürgerbegehren zuvorkommt. Besondere tatsächliche Umstände für ein treuwidriges Verhalten der Gemeindeorgane sind von den Vertretern des Bürgerbegehrens nicht dargetan und bewiesen worden.VG Düsseldorf Beschluss vom 13.3.2015 – 1 L 891/15 –, juris.