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Insolvenzrecht - Das Verbraucherinsolvenzverfahren

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Insolvenzrecht

Das Verbraucherinsolvenzverfahren

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4. Teil Eröffnetes Insolvenzverfahren

A. Wirkungen der Insolvenzeröffnung

I. Beschlagnahme des Schuldnervermögens

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Ziel des Insolvenzverfahrens ist die gemeinschaftliche Befriedigung der Insolvenzgläubiger (§ 1 S. 1 InsO). Um zu gewährleisten, dass das Schuldnervermögen (sog. Insolvenzmasse) tatsächlich zur Befriedigung der Gläubiger zur Verfügung steht, hat die Eröffnung des Insolvenzverfahrens seine Beschlagnahme zur Folge (sog. Insolvenzbeschlag). Sie ist im Gesetz nicht ausdrücklich erwähnt, folgt aber aus § 80 Abs. 1 InsO. Bork Insolvenzrecht Rn. 140. Mit der Beschlagnahme verliert der Schuldner das Recht, sein Vermögen selbst zu verwalten und über es zu verfügen. Die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis geht auf den gerichtlich bestellen Insolvenzverwalter über (§ 80 Abs. 1 InsO). Seine Bestellung erfolgt durch das Insolvenzgericht im Eröffnungsbeschluss (§ 27 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 Nr. 2 InsO). Regelmäßig wird der vorläufige Insolvenzverwalter zum endgültigen Insolvenzverwalter ernannt.

1. Insolvenzmasse

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Der Insolvenzbeschlag erfasst die Insolvenzmasse, die in §§ 35 Abs. 1, 36 InsO definiert wird. Nach der Grundsatznorm des § 35 Abs. 1 InsO fällt das gesamte Vermögen, das dem Schuldner zur Zeit der Eröffnung des Verfahrens gehört (Altvermögen) und das er während des Insolvenzverfahrens erlangt (Neuerwerb), in die Insolvenzmasse. BGH NZI 2021, 923 Rn. 9; Foerste Insolvenzrecht Rn. 158. Nicht zur Insolvenzmasse gehören unpfändbare Sachen (§ 36 Abs. 1 InsO) oder Gegenstände, die vom Insolvenzverwalter freigegeben werden oder im Eigentum eines Dritten stehen (Aussonderungsrechte § 47 InsO).

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Der Insolvenzbeschlag erfasst das „gesamte Vermögen“, also auch das Auslandsvermögen (sog. Universalitätsprinzip). BGH NZI 2016, 365 Rn. 16; Braun/Bäuerle InsO § 35 Rn. 3. Im Einzelnen gehören zur Insolvenzmasse: Grundstücke, dingliche Rechte (Hypotheken etc.), Eigentum an beweglichen Sachen (Fuhrpark, Maschinen etc.), Anwartschaftsrechte, Immaterialgüterrechte (z.B. Patente, Markenrechte), Forderungen (z.B. Ansprüche auf Kaufpreiszahlung, Steuererstattungsansprüche, Schadensersatzansprüche), das Unternehmen selbst (Kundenstamm und „Goodwill“) sowie die Mitgliedschaftsrechte an einer Gesellschaft (z.B. GmbH, AG). Vgl. BGH NZI 2018, 668 Rn. 15: MüKoInsO/Peters InsO § 35 Rn. 194 ff. Da auch die Firma in die Insolvenzmasse fällt, egal ob Fantasie-, Sach- (z.B. „Windreich“, „Air Berlin“) oder Personenfirma (z.B. „Grundig“, „Metz“, „Schießer“), Vgl. Foerste Insolvenzrecht Rn. 162 (auch bei Einzelkaufleuten). kann der Insolvenzverwalter das Handelsgeschäft an einen Dritten veräußern und ihm die Zustimmung zur Fortführung unter der bisherigen Firma erteilen (§§ 22 Abs. 1, 23 HGB). BGH NZI 2020, 234 Rn. 10. Wegen des Gebots der Firmenunterscheidbarkeit (§§ 18 Abs. 2, 30 HGB) ist umstritten, ob die noch im Handelsregister eingetragene Firma des Schuldners nach der Veräußerung (bis zum Abschluss des Insolvenzverfahrens) umbenannt werden muss. Der BGH erlaubt eine zeitlich begrenzte Doppelfirmierung, außer bei Firmengleichheit am selben Ort (§ 30 HGB). BGH NZI 2020, 234 Rn. 18 ff.

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Zur Insolvenzmasse gehört nach § 35 Abs. 1 InsO auch das Vermögen, das der Schuldner während des Insolvenzverfahrens neu erlangt (sog. Neuerwerb). BGH NZI 2007, 407; Kritik übt Foerste Insolvenzrecht Rn. 166. Wichtigstes Beispiel ist das Erwerbseinkommen, sei es aus selbstständiger, sei es aus unselbstständiger Tätigkeit. Grundsätzlich fällt die persönliche Arbeitskraft nicht in die Insolvenzmasse, da niemand zur Arbeit gezwungen werden kann (Art. 2 Abs. 1, 12 GG). BGH NZI 2013, 797, 799; BAG NJW 2015, 107, 108; NZI 2022, 76 Rn. 40. Arbeitet der Schuldner jedoch weiter, was er tun wird, um Restschuldbefreiung zu erlangen, fällt sein pfändbares Arbeitseinkommen in die Insolvenzmasse (§ 36 Abs. 1 S. 2, §§ 850 ff. ZPO). BAG NZI 2022, 76 Rn. 39; Bork Insolvenzrecht Rn. 144. Bei Selbstständigen (z.B. Ärzte, Architektinnen, Anwälte) sind sämtliche Einkünfte Bestandteile des Neuerwerbs. BGH NZI 2007, 407; Graf-Schlicker/Kexel InsO § 35 Rn. 21. Zum Neuerwerb gehören auch Erbschaften oder Lottogewinne.

2. Unpfändbare Gegenstände und ihre Zugehörigkeit zur Masse

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Nach § 36 Abs. 1 S. 1 InsO gehören Gegenstände, die nicht der Zwangsvollstreckung unterliegen, nicht zur Insolvenzmasse und bilden insolvenzfreies Vermögen. Dem Schuldner sollen wie in der Einzelzwangsvollstreckung die lebensnotwendigen Mittel verbleiben. Graf-Schlicker/Kexel InsO § 36 Rn. 1. Die Pfändungsverbote sind in der ZPO geregelt. In § 36 Abs. 2 InsO sind zum Schutz der Gläubiger wiederum Ausnahmen von den Pfändungsverboten vorgesehen.

a) Geschäftsbücher

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Nach § 811 Abs. 1 Nr. 4 ZPO sind Geschäftsbücher eigentlich unpfändbar. Jedoch ist in § 36 InsO Abs. 2 Nr. 1 InsO explizit geregelt, dass die Geschäftsbücher des Schuldners zur Insolvenzmasse und nicht zum pfändungsfreien Bereich gehören. Damit wird sichergestellt, dass der Betrieb des Schuldners in der Insolvenz als funktionsfähige Einheit fortgeführt und später weiterveräußert werden kann. BGH NZI 2021, 598 Rn. 23 (keine Informationsgrundlage für die Öffentlichkeit).

b) Bewegliche Sachen und Tiere

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Für bewegliche Sachen sind die Pfändungsverbote des § 811 Abs. 1 ZPO maßgebend. Näher Ahrens NZI 2021, 531. Danach sind Sachen unpfändbar, die für eine bescheidene Lebensführung (§ 811 Abs. 1 Nr. 1 lit. a ZPO) oder für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit (§ 811 Abs. 1 Nr. 1 lit. b ZPO) benötigt werden, wie Computer, Büroinventar, Maschinen, Geschäftsauto, Lieferwagen etc. Foerste Insolvenzrecht Rn. 168. Unterkünfte, wie Wohnlauben (§ 811 Abs. 1 Nr. 2 ZPO), sowie Bargeld in bestimmtem Umfang (§ 811 Abs. 1 Nr. 3 ZPO) unterliegen ebenfalls dem Pfändungsschutz. Auch Tiere sind grundsätzlich unpfändbar (§ 811 Abs. 1 Nr. 8 ZPO).

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In § 36 Abs. 2 Nr. 2 InsO, der seit dem 1.1.2022 Geltung hat, sind Ausnahmen zu den eben genannten Pfändungsbeschränkungen angeordnet. Ist der Schuldner selbstständig tätig, werden Sachen, die er zur Berufsausübung (§ 811 Abs. 1 Nr. 1 lit. b ZPO) oder Tiere, die er zur Erwerbstätigkeit benötigt (§ 811 Abs. 1 Nr. 8 lit. b ZPO) explizit der Insolvenzmasse und nicht dem pfändungsfreien Bereich zugewiesen. Damit wird dem Insolvenzverwalter die Betriebsfortführung in der Insolvenz erleichtert. Sind die Sachen oder Tiere allerdings für eine Erwerbstätigkeit erforderlich, die in der Erbringung persönlicher Leistungen besteht, sieht § 36 Abs. 2 Nr. 2 Hs. 2 InsO eine Rückausnahme vor. In diesem Fall werden diese Sachen (bzw. Tiere) dem insolvenzfreien Vermögen zugeordnet. Die Norm soll nur für Kleinselbstständige gelten (z.B. Schere der Frisörin, Chirurgenbesteck der Tierärztin). Braun/Bäuerle InsO § 36 Rn. 34.

c) Forderungen

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Forderungen sind unpfändbar, soweit sie nicht übertragbar sind (§ 36 Abs. 1 S. 1 InsO i.V.m. §§ 851 Abs. 1 ZPO, 399 BGB). An der Übertragbarkeit fehlt es, wenn die Abtretung eine Inhaltsänderung nach sich zieht (§ 399 Alt. 1 BGB). Dies ist insbesondere bei höchstpersönlichen und zweckgebundenen Ansprüchen der Fall. Dazu gehören Corona-Hilfen, LG Köln NZI 2020, 494 Rn. 13; BFH NZI 2020, 801 Rn. 24 ff. nicht aber die Energiepreispauschale AG Köln NZI 2023, 28 Rn. 11; AG Lüneburg NZI 2023, 29 Rn. 8 (aber Freigabe gem. § 765a ZPO). oder Ansprüche aus § 15 Abs. 2 AGG. BGH NZI 2020, 839 Rn. 20.

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Hinsichtlich der Unpfändbarkeit von Arbeitseinkommen und sonstigen Einkünften verweist § 36 Abs. 1 S. 2 InsO auf die Vorschriften der §§ 850, 850a, 850c, 850e, 850f Abs. 1, 850g bis 850k, 851c, 851d ZPO. Ist der Schuldner Arbeitnehmer, bestimmt sich der Umfang des unpfändbaren Arbeitseinkommens nach § 850c ZPO. Das unpfändbare Arbeitseinkommen beträgt derzeit 1252,64 EUR monatlich (§ 850c Abs. 1 Nr. 1 ZPO i.V.m. Pfändungsfreigrenzenbekanntmachung). Dieser Teil des Arbeitseinkommens unterliegt nicht der Einziehungsbefugnis des Insolvenzverwalters. Nerlich/Römermann/Andres InsO § 36 Rn. 35d. Zudem sind bestimmte Einkommensbestandteile nicht der Pfändung unterworfen (§ 850a ZPO). Dies gilt etwa für Treugelder, wie Jubiläumszuwendungen (§ 850a Nr. 2 ZPO), oder für Sonn- und Feiertagszuschläge (§ 850a Nr. 3 ZPO). BGH NZI 2022, 72 Rn. 64 f.; NZI 2018, 986 Rn. 8. Sollte das unpfändbare Einkommen nicht ausreichen, weil der Schuldner besondere individuelle Bedürfnisse hat (z.B. wegen Krankheit) oder weil das Einkommen nicht den notwendigen Lebensunterhalt abdeckt, kann der Schuldner gem. § 850f Abs. 1 ZPO eine Erhöhung des Pfändungsfreibetrags beantragen. BGH NJW 2018, 954 Rn. 7; NZI 2018, 218 Rn. 20 ff.

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Hat der Schuldner ein Pfändungsschutzkonto (§ 850k ZPO), kann er gem. § 899 Abs. 1 S. 1 ZPO in Höhe des monatlichen Freibetrags (i.S.d. § 850c Abs. 1 ZPO) bis zum Ende des Kalendermonats frei verfügen (derzeit 1252,64 EUR). Die Guthabenbeträge sind unabhängig von ihrer Herkunft geschützt. BGH NZI 2019, 975 Rn. 18. Der neu eingefügte § 36 Abs. 1 S. 3 InsO stellt klar, dass Verfügungen des Schuldners über das Guthaben nicht der Freigabe durch den Insolvenzverwalter bedürfen. In § 902 Nr. 1 bis 6 ZPO sind weitere Erhöhungsbeiträge aufgelistet, die von der Pfändung des Guthabens auf dem Pfändungsschutzkonto ausgenommen sind, wie z.B. Kindergeld.

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Die Einkünfte, die ein selbstständiger Schuldner nach Insolvenzeröffnung erzielt, gehören in vollem Umfang zur Insolvenzmasse. BGH NZI 2018, 275 Rn. 9.a Pfändungsschutz wird hier über die Norm des § 850i ZPO gewährt. Die Pfändungsschutzvorschrift des § 850i Abs. 1 S. 1 ZPO erfasst sämtliche selbst erwirtschafteten Einkünfte des Schuldners, wozu Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit, Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung oder aus Kapitalvermögen gehören. BGH NZI 2021, 923 Rn. 20; NZI 2020, 116 Rn. 5; NZI 2019, 975 Rn. 8; NZI 2019, 977 Rn. 5; NZI 2018, 326 Rn. 7. Das Gericht hat dem Schuldner auf Antrag während eines angemessenen Zeitraums so viel zu belassen, wie ihm nach freier Schätzung aus einem laufenden Arbeits- oder Dienstverhältnis nach den Vorschriften der §§ 850c, 850e ZPO verbliebe. BGH NZI 2021, 923 Rn. 19; NZI 2019, 975 Rn. 8; LG Berlin NZI 2022, 275 Rn. 3. Für die Entscheidung ist das Insolvenzgericht aufgrund seiner besonderen Sachnähe zuständig (§ 36 Abs. 4 S. 1 InsO). BGH NZI 2016, 457 Rn. 11; BeckOK InsR/Kirchner InsO § 36 Rn. 35.

d) Streit über Massezugehörigkeit

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Ist zwischen dem Schuldner und dem Insolvenzverwalter streitig, ob ein bestimmter Gegenstand zur Insolvenzmasse gehört, ist der Streit (mittels Feststellungsklage) vor dem Prozessgericht, nicht vor dem Insolvenzgericht, auszutragen. BGH NZI 2016, 633 Rn. 8; NZI 2016, 607 Rn. 7; NZI 2012, 672 Rn. 6; NZI 2008, 244 Rn. 7. Ist zwischen den Parteien hingegen streitig, ob der Gegenstand der Zwangsvollstreckung (§ 36 InsO) unterliegt, ist nach § 36 Abs. 4 InsO das Insolvenzgericht wegen der größeren Sachnähe zuständig. Es handelt funktional als Vollstreckungsgericht. Graf-Schlicker/Kexel InsO § 36 Rn. 36.

3. Freigabe

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Nicht zur Insolvenzmasse gehört Vermögen, das der Insolvenzverwalter „freigibt“. Dieses insolvenzfreie Vermögen unterliegt der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Schuldners, nicht des Insolvenzverwalters.

a) Einzelne Vermögensgegenstände

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Die „echte“ Freigabe von Vermögensgegenständen ist in der InsO nur punktuell geregelt. Für Grundstücke ist diese Möglichkeit in § 32 Abs. 3 S. 1 InsO vorgesehen, für Prozesse in § 85 Abs. 2 InsO. Daneben ist die Freigabe einzelner Vermögensgegenstände allgemein anerkannt. BGH NZI 2018, 708 Rn. 29; NZI 2017, 345 Rn. 8; NZI 2007, 407; Haberzettl NZI 2017, 474. Sie wird dann genutzt, wenn die Kosten der Verwaltung erheblich größer als die zu erwartenden Einnahmen aus der Verwertung sind. Klassisches Beispiel ist die Zugehörigkeit eines bodenverseuchten Grundstücks zur Masse. BVerwG NZI 2005, 51, 52 ff.; BeckOK InsR/Kirchner InsO § 35 Rn. 58. Mit der Freigabe durch den Insolvenzverwalter wird der Gegenstand zum insolvenzfreien Vermögen. Die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis fällt an den Schuldner zurück, BGH NZI 2017, 345 Rn. 8; NZI 2016, 484 Rn. 20. so dass er wieder für das Grundstück mit seinen Grundsteuern und Altlasten zuständig ist. Die vor Freigabe entstandenen Verbindlichkeiten bleiben Masseverbindlichkeiten. BGH NZI 2016, 484 Rn. 20.

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Umstritten ist, ob eine Freigabe möglich ist, wenn der Schuldner eine juristische Person ist, die mit der Insolvenz aufgelöst wird (z.B. § 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG). Teils wird die Auffassung vertreten, dass es kein massefreies Vermögen geben darf und der Insolvenzverwalter die insolvente Gesellschaft vollständig abwickeln und die Löschung im Handelsregister (§ 394 FamFG) herbeiführen muss. OLG Karlsruhe BeckRS 2003, 08267; K. Schmidt NJW 2010, 1489, 1493. Diese „Einheitslösung“ vermeidet ein Nebeneinander von insolvenzrechtlicher und gesellschaftsrechtlicher Abwicklung. Nach zutreffender Ansicht ist die Freigabe auch in der Gesellschaftsinsolvenz zulässig, da Hauptziel des Insolvenzverfahrens die bestmögliche Befriedigung der Gläubiger (§ 1 S. 1 InsO) ist, so dass der Insolvenzverwalter nicht gezwungen werden kann, masseschmälernde Vermögensgegenstände zu behalten. BGH NZI 2007, 173, 174; NJW 2005, 2015, 2016; Haberzettl NZI 2017, 474, 476. Das freigegebene Objekt ist in einem separaten gesellschaftsrechtlichen Liquidationsverfahren zu verwerten. Bewegliche Gegenstände, an denen ein Aussonderungsrecht besteht, können ebenfalls „freigegeben“ werden. Diese Erklärung ist rein deklaratorisch und wird als „unechte“ Freigabe bezeichnet. Braun/Bäuerle InsO § 35 Rn. 19.

b) Selbstständige Tätigkeit

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Einen besonderen Fall stellt die Freigabe der selbstständigen Tätigkeit des Schuldners dar (§ 35 Abs. 2 bis 4 InsO). Ist der Schuldner eine natürliche Person, kann der Insolvenzverwalter nach § 35 Abs. 2 S. 1 InsO die gesamte gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit des Schuldners freigeben und unwiderruflich auf seine Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis verzichten. Das wird sinnvoll sein, wenn die selbstständige Tätigkeit nur verlustbringend ist, so dass das Entstehen von Masseverbindlichkeiten (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO) durch die Freigabe gestoppt werden kann. Dem Schuldner wiederum wird durch die Freigabe bereits während des Insolvenzverfahrens der Aufbau einer neuen wirtschaftlichen Existenz (Art. 2 Abs. 1 GG) ermöglicht. Vgl. BGH NJW 2019, 2156 Rn. 42.

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Der Schuldner muss den Verwalter zunächst darüber informiert, ob er seine selbstständige Tätigkeit fortführen will (§ 35 Abs. 3 S. 1 InsO). Solange er Geschäfte ohne Wissen des Verwalters tätigt, werden keine Masseverbindlichkeiten begründet. BFH NZI 2020, 184 Rn. 16 ff. Der Insolvenzverwalter ist verpflichtet, sich zum Freigabewunsch zu erklären (§ 35 Abs. 2 S. 1 InsO). BFH NZI 2020, 184 Rn. 16. Dem Schuldner steht sogar ein (einklagbarer) Anspruch auf Abgabe der Erklärung zu (§ 35 Abs. 3 S. 2 InsO). Es gibt zwei Entscheidungsoptionen. Der Insolvenzverwalter kann entweder erklären, dass die Einkünfte aus der selbstständigen Tätigkeit weiterhin in die Insolvenzmasse fallen (Positiverklärung) oder dass sie freigegeben werden (Negativerklärung). Die Erklärung muss unverzüglich, spätestens innerhalb eines Monats erfolgen. Sie ist gegenüber dem Gericht anzuzeigen (§ 35 Abs. 4 S. 1 InsO).

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Die Freigabe wird mit dem Zugang der Erklärung gegenüber dem Schuldner wirksam (ex nunc). BGH NZI 2019, 374 Rn. 23; BayOblG NZI 2022, 142 Rn. 25; BFH NZI 2020, 626 Rn. 23. Sie bewirkt, dass die pfändbaren Vermögensgegenstände des Schuldners, die zu seiner selbstständigen Tätigkeit gehören, sowie die entsprechenden Vertragsverhältnisse von der Masse auf den Schuldner übergeleitet werden. BGH NZI 2019, 374 Rn. 20, 27 f.; BayOblG NZI 2022, 142 Rn. 26; Braun/Bäuerle InsO § 35 Rn. 67. Es entsteht ein insolvenzfreies Sondervermögen, das der ausschließlichen Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis des Schuldners unterliegt. BGH NZI 2022, 118 Rn. 16; NZI 2019, 745 Rn. 44 ff.; BFH NZI 2020, 626 Rn. 24. Damit gibt es zwei getrennte Haftungsmassen. Die Einkünfte, die der Schuldner nach der Freigabe erzielt, sind nicht mehr massezugehörig (sog. Neuerwerb) und stehen nur noch den Neugläubigern zu. BGH NZI 2022, 118 Rn. 16; NZI 2019, 374 Rn. 19, 24; NJW 2019, 2156 Rn. 47; BFH NZI 2020, 626 Rn. 24. Zum Neuerwerb gehören auch Vergütungsforderungen, die der Schuldner vor Verfahrenseröffnung im Voraus an einen Dritten abgetreten hat, da § 91 InsO nach der Freigabe keine Geltung mehr hat. BGH NZI 2019, 745 Rn. 35 ff. Die Freigabe beendet das Entstehen von Masseverbindlichkeiten i.S.d. § 55 InsO. Vertragliche Ansprüche, die aus der weitergeführten Tätigkeit resultieren, z.B. aus fortbestehenden Miet- und Arbeitsverträgen, muss der Schuldner ab Zugang der Freigabeerklärung selbst bezahlen. BGH NJW 2012, 1361, 1362 ff.; BayOblG NZI 2022, 142 Rn. 25. Dagegen bleiben die vor der Freigabe entstandenen Verbindlichkeiten Masseverbindlichkeiten und die vor Freigabe erzielten Einkünfte massezugehörig. BGH NZI 2019, 374 Rn. 21, 25 ff.; NJW 2019, 2156 Rn. 46 ff.

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In § 35 Abs. 2 S. 2 InsO wird auf § 295a InsO verwiesen, der dem Schuldner Zahlungspflichten auferlegt. Danach muss der Schuldner bereits während des Insolvenzverfahrens so viel an die Masse zahlen, wie wenn er ein angemessenes Dienstverhältnis eingegangen wäre (= fiktives Nettoeinkommen). Die Zahlungen sind im Kalenderjahresturnus zu leisten. Das „Gericht“, gemeint ist das Insolvenzgericht, nicht das Prozessgericht, setzt den Betrag auf Antrag des Selbstständigen fest (§ 35 Abs. 1 S. 2 i.V.m. § 295a Abs. 2 InsO). BeckOK InsR/Kirchner InsO § 35 Rn. 75; offengelassen BGH NZI 2022, 118 Rn. 16. § 35 Abs. 2 S. 2 InsO stellt eine echte Anspruchsgrundlage dar, so dass der Verwalter die Beträge vom Schuldner einklagen kann. BeckOK InsR/Riedel InsO § 295a Rn. 7; Piper NZI 2022, 964, 968.

II. Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis auf den Insolvenzverwalter

1. Verfügungsbefugnis

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§ 80 Abs. 1 InsO ist eine der wichtigsten Schlüsselnormen im Insolvenzverfahren. Zum Schutz der Insolvenzmasse ordnet die Vorschrift an, dass das Recht des Schuldners, das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen zu verwalten und über es zu verfügen, auf den Insolvenzverwalter übergeht. BGH NZI 2021, 440 Rn. 17. Der Schuldner bleibt zwar formal Eigentümer der Massegegenstände, verliert aber sämtliche Einwirkungsmöglichkeiten. BGH NZI 2018, 601 Rn. 47; MüKoInsO/Vuia InsO § 80 Rn. 6. Verfügungen des Schuldners, die er nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens über Massegegenstände trifft, sind nach § 81 Abs. 1 S. 1 InsO gegenüber jedermann unwirksam. Von § 80 Abs. 1 InsO ist auch der Übergang der Prozessführungsbefugnis auf den Insolvenzverwalter erfasst. BGH NZI 2013, 641 Rn. 11; BayOblG NZI 2022, 142 Rn. 19.

Expertentipp

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Die Norm des § 80 Abs. 1 InsO bewirkt, dass der Insolvenzverwalter während des gesamten Insolvenzverfahrens faktisch und rechtlich in die Rechtsstellung des Schuldners einrückt.  

2. Verwaltungsaufgaben und Befugnisse

a) Inbesitznahme der Insolvenzmasse

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Die Aufgaben des Insolvenzverwalters ergeben sich zum Teil aus der Grundnorm des § 80 Abs. 1 InsO, zum Teil sind seine Aufgaben verstreut in der InsO geregelt. Nach § 148 InsO hat der Insolvenzverwalter sofort die gesamte Insolvenzmasse in Besitz und Verwaltung zu nehmen (§ 148 InsO). BGH NZI 2016, 365 Rn. 16; NZI 2016, 892 Rn. 8. Gibt der Schuldner die zur Insolvenzmasse gehörenden Gegenstände nicht freiwillig heraus, kann der Verwalter gegen ihn die Herausgabevollstreckung nach §§ 883, 885 ZPO betreiben. Die vollstreckbare Ausfertigung des Eröffnungsbeschlusses stellt einen Herausgabetitel i.S.d. § 794 Abs. 1 Nr. 3 ZPO dar (§ 148 Abs. 2 S. 1 InsO). BGH NZI 2022, 814, Rn. 8 ff.; NZI 2022, 519 Rn. 13; NZI 2022, 118 Rn. 19; NZI 2012, 666, 667. Nach dem Berichtstermin ist der Verwalter verpflichtet, die gesamte in Besitz genommene Insolvenzmasse „zu Geld zu machen“, d.h. bestmöglich zu verwerten (§ 159 InsO). BGH NZI 2016, 773 Rn. 23. Die Durchführung der Verwertung erfolgt auf Grund der ihm gem. § 80 Abs. 1 InsO zustehenden Verfügungsbefugnis.

b) Erstellen der Verzeichnisse

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Eine wichtige Aufgabe ist die Dokumentation des Schuldnervermögens sowie aller Verbindlichkeiten. Nach Inbesitznahme der Masse hat der Verwalter ein Masseverzeichnis aufzustellen und jeden Gegenstand zu bewerten (§ 151 Abs. 1, 2 InsO). Ist offen, ob es zur Liquidation oder Unternehmensfortführung kommt, sind Liquidations- und Going-Concern-Werte anzugeben (§ 151 Abs. 2 S. 2 InsO). Notfalls kann ein Sachverständiger hinzugezogen werden (§ 151 Abs. 2 S. 3 InsO). Der Verwalter muss ein Vermögensverzeichnis aufstellen, in dem er die bewerteten Massegegenstände den Verbindlichkeiten gegenüberstellt (§ 153 Abs. 1 S. 1 InsO). Zudem muss er ein Gläubigerverzeichnis erstellen (§ 152 InsO). Anzugeben sind die Insolvenzgläubiger, die absonderungsberechtigten Gläubiger sowie die nachrangigen Gläubiger. Die Masseverbindlichkeiten sind zu schätzen. Sämtliche Verzeichnisse sind spätestens eine Woche vor dem Berichtstermin in der Geschäftsstelle des Insolvenzgerichts zur Einsicht niederzulegen (§ 154 InsO).

c) Schuldnerbezogene Aufgaben

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Mit dem Übergang der Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis (§ 80 Abs. 1 InsO) rückt der Insolvenzverwalter in die Arbeitgeberstellung ein. Braun/Kroth InsO § 80 Rn. 26; Uhlenbruck/Mock InsO § 80 Rn. 146. Nach § 34 Abs. 3 InsO hat der Insolvenzverwalter alle steuerlichen Pflichten des Schuldners so weit wahrzunehmen, wie die Insolvenzverwaltung reicht. MüKoInsO/Vuia § 80 Rn. 131. Er hat die internen (§§ 66 ff. InsO) und externen Rechnungslegungspflichten (§ 155 InsO) zu erfüllen. Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens beginnt ein neues Geschäftsjahr (§ 155 Abs. 2 InsO), so dass eine Eröffnungsbilanz zu erstellen ist. Der Insolvenzverwalter kann aus Praktikabilitätserwägungen in den alten, in der Satzung bestimmten Geschäftsjahresrhythmus zurückkehren; dies muss er gegenüber dem Registergericht erklären. BGH NZI 2017, 630 Rn. 10; NZI 2015, 135, 136.; KG NZI 2019, 823 Rn. 14.

d) Gläubigerbezogene Aufgaben

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Der Insolvenzverwalter hat die Aufgabe, die Forderungsanmeldung zu managen (§§ 174 ff. InsO). BGH NZI 2016, 352 Rn. 22. Er muss die Insolvenztabelle führen und die von den Gläubigern angemeldeten Forderungen eintragen. Er ist verpflichtet, ein elektronisches Gläubigerinformationssystem für die anmeldenden Gläubiger vorzuhalten, zumindest im Fall von Großunternehmen, d.h. bei Erfüllen der Kriterien des § 22a InsO (§ 5 Abs. 5 S. 1, 2 InsO). Zur alten Rechtslage: BGH NZI 2016, 802 Rn. 15, 20. Über das Informationssystem müssen alle Entscheidungen des Insolvenzgerichts, alle Berichte sowie alle Informationen zu der angemeldeten Forderung abrufbar sein. Den Einsichtsberechtigten sind die Zugangsdaten unverzüglich zur Verfügung zu stellen (§ 5 Abs. 5 S. 3 InsO). Aus der Insolvenztabelle muss der Insolvenzverwalter ein Verteilungsverzeichnis erstellen (§ 188 InsO), das Grundlage für die Befriedigung der Insolvenzgläubiger ist. Er muss die Massegläubiger vorweg befriedigen (§ 53 InsO) und die Rechte der Aussonderungsberechtigten (§ 47 InsO) beachten. Zudem ist er für die Verwertung der Absonderungsrechte (§§ 49 ff. InsO) zuständig.

3. Insolvenzzweckwidrige Rechtshandlungen

237

Der Insolvenzverwalter kann von seiner Verfügungsbefugnis nach § 80 Abs. 1 InsO grundsätzlich freien Gebrauch machen. Bork Insolvenzrecht Rn. 152. Ihm steht aufgrund der schwierigen und vielfältigen Aufgaben ein weiter Ermessensspielraum zu. BGH NZI 2021, 637 Rn. 23; NZI 2018, 708 Rn. 13. Er kann Gegenstände aus der Masse freigeben, auf die Geltendmachung von Ersatzansprüchen verzichten oder sich vergleichen. BGH NZI 2018, 708 Rn. 29. Seine Rechtsmacht ist allerdings durch den Insolvenzzweck (§ 1 S. 1 InsO) begrenzt. Insolvenzzweckwidrige Rechtshandlungen, die der gleichmäßigen Gläubigerbefriedigung eindeutig und klar zuwiderlaufen, sind unwirksam und verpflichten die Masse nicht. BGH NZI 2021, 637 Rn. 23; NZI 2020, 671 Rn. 38; NJW 2019, 3578 Rn. 11; NZI 2018, 708 Rn. 13. Dies muss für einen objektiven Beobachter ohne weiteres ersichtlich und evident sein. Dazu gehören beispielsweise Schenkungen aus der Masse, die Anerkennung eines nicht bestehenden Aus- oder Absonderungsrechts oder die entgeltliche Ablösung einer wertlosen Grundschuld. Nur unzweckmäßige Verfügungen sind hingegen wirksam. BGH NZI 2021, 637 Rn. 23; NZI 2018, 708 Rn. 13. Derartige Handlungen können aber zu einer Haftung nach § 60 InsO führen.

III. Verfügungsbeschränkungen

1. Verfügungen des Schuldners

238

Mit dem Übergang der Verfügungsbefugnis auf den Insolvenzverwalter (§ 80 Abs. 1 InsO) wird der Schuldner zum „Nichtberechtigten“. Becker Insolvenzrecht § 3 Rn. 33. In § 81 Abs. 1 InsO ist angeordnet, dass Verfügungen, die der Schuldner nach Verfahrenseröffnung über einen Massegegenstand trifft, absolut unwirksam sind. BGH NJW 2015, 341, 343 f. Erfasst sind alle dinglichen Rechtsgeschäfte; d.h. die Übereignung von beweglichen (§ 929 BGB) und unbeweglichen Sachen (§§ 873 Abs. 1, 925 BGB), die Abtretung von Forderungen (§ 398 BGB) oder die Bestellung einer Hypothek (§ 1113 BGB). Zum Schutz der Insolvenzmasse wird der Verfügungsbegriff weit verstanden. Als Verfügungen sind auch Prozesshandlungen mit verfügendem Charakter, wie z.B. Anerkenntnis (§ 307 ZPO) oder Verzicht (§ 306 ZPO), anzusehen. Realakte (z.B. Vermischung) und Verpflichtungsgeschäfte sind nicht von § 81 InsO erfasst. BGH NZI 2018, 601 Rn. 41; Jauernig/Berger/Thole Insolvenzrecht § 17 Rn. 6 f.

Beispiel

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Gloria (G), Geschäftsführerin der MODEHAUS GmbH, verkauft und übereignet einen Tag nach Insolvenzeröffnung ein T-Shirt aus der neuesten Kollektion an ihre Freundin Fanny (F). Der Insolvenzverwalter kann von (F) Herausgabe des T-Shirts an die Masse verlangen (§§ 985 BGB, 80 Abs. 1 InsO), da die Verfügung von (G) nach § 81 Abs. 1 InsO absolut unwirksam ist. (F) konnte das T-Shirt auch nicht gutgläubig erwerben, da ein gutgläubiger Erwerb nach § 81 Abs. 1 S. 2 InsO nur bei Grundstücken möglich ist. (F) erhält den gezahlten Kaufpreis zurück (§ 81 Abs. 1 S. 3 InsO). Alternativ kann der Insolvenzverwalter analog § 185 Abs. 2 S. 1 BGB die Verfügung genehmigen und den Kaufpreis in der Masse behalten.

Ist der Schuldner eine natürliche Person und tritt er künftige Forderungen aus Dienstverhältnissen nach Insolvenzeröffnung an einen Dritten ab, ist § 81 Abs. 2 InsO einschlägig, der auf § 81 Abs. 1 InsO verweist. Die Abtretung des künftigen Arbeitseinkommens, auch für die Zeit nach Beendigung des Insolvenzverfahrens, ist absolut unwirksam. Becker Insolvenzrecht § 3 Rn. 63; kritisch Lüke in: Kübler/Prütting/Bork InsO § 81 Rn. 27 ff. Hat der Schuldner seine Vergütungsforderungen bereits vor Insolvenzeröffnung abgetreten, gilt § 91 InsO, da die Forderung erst nach Eröffnung entsteht (der rechtliche Erfolg tritt erst nach der Eröffnung ein). Für Leistungen von Drittschuldnern an den Schuldner ist nicht § 81 Abs. 1 InsO, sondern vorrangig § 82 InsO anzuwenden. BGH NZI 2018, 601 Rn. 59.

239

Bei unbeweglichen Sachen (nicht beweglichen Sachen) besteht trotz Insolvenzeröffnung die Möglichkeit eines gutgläubigen Erwerbs (§§ 81 Abs. 1 S. 2 InsO, 892, 893 BGB). Gegen die Gutgläubigkeit von potenziellen Erwerbern hilft der Insolvenzvermerk im Grundbuch (§ 32 InsO i.V.m. § 892 Abs. 1 S. 2 BGB), der zu einer Grundbuchsperre führt. Folge ist, dass Eintragungsanträge nicht mehr bearbeitet werden dürfen.

2. Leistungen an den Schuldner

240

Für Leistungen von Dritten an die Masse ist der Insolvenzverwalter nach § 80 Abs. 1 InsO empfangszuständig. Hat die MODEHAUS GmbH noch offene Kundenforderungen, müssen die Kunden an den Insolvenzverwalter leisten. Die Norm des § 82 S. 1 InsO (lex specialis zu § 81 InsO) beinhaltet einen Gutglaubensschutz für Leistungen an den nicht (mehr) empfangszuständigen Schuldner. BGH NZI 2018, 601 Rn. 39; HambKomm-InsR/Kuleisa InsO § 82 Rn. 1. Leistet der Drittschuldner an den Schuldner (statt an den Insolvenzverwalter), wird er von seiner Verbindlichkeit befreit, wenn er die Insolvenzeröffnung zur Zeit der Leistung nicht kannte. Eine zeitliche Zäsur bildet die Bekanntmachung des Eröffnungsbeschlusses im Internet gem. § 9 InsO (www.insolvenzbekanntmachungen.de), die am Tag der Verfahrenseröffnung erfolgt. Ab diesem Zeitpunkt wird die positive Kenntnis des Leistenden vermutet (§ 82 S. 2 InsO). Der Leistende kann die Vermutung widerlegen. Insbesondere Betriebe mit großem Zahlungsverkehr (Banken, Versicherungen) müssen sich nicht automatisch die Kenntnis ihrer (untergeordneten) Mitarbeiter zurechnen lassen. BGH NZI 2010, 480, 481 f.; abw. BFH NZI 2016, 44 Rn. 15 ff. (Finanzamt). Jedoch muss durch organisatorische Maßnahmen ein Informationsaustausch zwischen Führungsebene und Mitarbeitern, die Zugriff auf die Informationen haben, sichergestellt werden. BGH NZI 2006, 175, 176; Braun/Kroth InsO § 82 Rn. 9. Wird das versäumt, kann sich der Leistende nicht auf Gutgläubigkeit berufen.

3. Sonstiger Rechtserwerb vom Schuldner

241

Ein Auffangtatbestand ist in § 91 InsO enthalten. BGH NZI 2021, 826 Rn. 9; Foerste Insolvenzrecht Rn. 212. Danach kann jeder Rechtserwerb, der nicht von §§ 81, 89, 90 InsO erfasst ist, unwirksam sein. Die Norm gilt nur im eröffneten Verfahren. BGH NZI 2018, 601 Rn. 49; NZI 2012, 614 Rn. 6. § 91 InsO erfasst vor allem gestreckte Verfügungen, die vor Insolvenzeröffnung eingeleitet und danach ohne Zutun des Schuldners vollendet werden. Vgl. Foerste Insolvenzrecht Rn. 213 f. (auch zum gutgläubigen Erwerb bei Grundstücken).

Beispiel

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Die MODEHAUS GmbH übersendet noch vor Insolvenzeröffnung das von Stammkundin Sara (S) bestellte Abendkleid. Das Abendkleid kommt erst nach Verfahrenseröffnung bei (S) an. Zwar ist die Einigung (§ 929 Abs. 1 BGB) vor Insolvenzeröffnung erfolgt, die Übergabe aber erst danach. Das ist ein Fall des § 91 InsO. Der Rechtserwerb von (S) ist unwirksam. Hat (S) den Kaufpreis bereits vor Insolvenzeröffnung bezahlt, ist sie einfache Insolvenzgläubigerin (§ 38 InsO).

 

Auch die Abtretung künftiger Forderungen vor Insolvenzeröffnung fällt unter § 91 InsO. Grund ist, dass die Verfügung mit Abschluss des Abtretungsvertrags (also vor Eröffnung) beendet ist, so dass kein Fall des § 81 Abs. 1 InsO vorliegt. Entsteht die Forderung später (nach Eröffnung), kann der Zessionar wegen § 91 Abs. 1 InsO kein Forderungsrecht erwerben. Vgl. BGH NZI 2019, 745 Rn. 35 ff.; OLG Düsseldorf NZI 2019, 241, 242. Erst mit Beendigung des Insolvenzverfahrens kann der Zessionar von der Vorausabtretung wieder Gebrauch machen (dann gilt § 91 InsO nicht mehr). Von § 91 InsO wird auch die Valutierung einer bereits bestellten Grundschuld erfasst. BGH NZI 2018, 601 Rn. 31 ff. Ein weiterer Anwendungsfall sind Verfügungen des Schuldners über Grundstücke oder dingliche Rechte an Grundstücken vor Verfahrenseröffnung. Allerdings ist hier ein rechtswirksamer Erwerb über § 91 Abs. 2 InsO i.V.m. §§ 878, 892, 893 BGB möglich. Beispiele bei Becker Insolvenzrecht § 3 Rn. 42 (Fall 10); Foerste Insolvenzrecht Rn. 214 (Fall 2).

IV. Vollstreckungsverbot und Rückschlagsperre

1. Verbot von Einzelvollstreckungsmaßnahmen

242

Einzelzwangsvollstreckungsmaßnahmen

Ziel des Insolvenzverfahrens ist es, die Gläubiger gemeinschaftlich zu befriedigen (§ 1 S. 1 InsO). Dieses Ziel lässt sich nur erreichen, wenn ausgeschlossen ist, dass einzelne Insolvenzgläubiger über die Einzelzwangsvollstreckung (mit ihrem Prioritätsprinzip) auf das Schuldnervermögen zugreifen. Daher ordnet § 89 Abs. 1 InsO an, dass Vollstreckungsmaßnahmen einzelner Insolvenzgläubiger ab Verfahrenseröffnung unzulässig sind (sog. Vollstreckungsverbot). BGH NZI 2012, 560. Erfasst sind sämtliche Vollstreckungsmaßnahmen, d.h. die Vollstreckung in körperliche Sachen (§ 808 ZPO), in Forderungen (§§ 828 ff. ZPO), die Eintragung einer Zwangshypothek im Grundbuch (§§ 866, 867 ZPO) sowie das Verfahren zur Abgabe der eidesstattlichen Versicherung (§§ 802c ff. ZPO).

243

Wird gegen § 89 Abs. 1 InsO verstoßen, ist die Pfändung nicht nichtig, sondern es entsteht lediglich kein Pfändungspfandrecht. Pfändet der Gerichtsvollzieher nach Verfahrenseröffnung für Gläubigerin Greta die Schaufensterdekoration der MODEHAUS GmbH, erlangt Greta kein Pfändungspfandrecht. Da die Pfändung unter Verstoß gegen § 89 Abs. 1 InsO nach h.M. nicht nichtig ist, tritt Verstrickung ein, die bis zur förmlichen Aufhebung fortbesteht. BGH NZI 2021, 489 Rn. 9; NZI 2017, 892 Rn. 10, 15; Braun/Kroth InsO § 89 Rn. 14. Wurde eine (künftige) Forderung des Schuldners nach Verfahrenseröffnung gepfändet (z.B. das künftige Bankguthaben), folgt daraus, dass der Drittschuldner die Auszahlung des gepfändeten Betrags an den Insolvenzverwalter, die ohne Verstrickungsbruch nicht möglich wäre, verweigern kann. BGH NZI 2017, 892 Rn. 14; BeckOK InsR/Cymutta InsO § 89 Rn. 28. Der Insolvenzverwalter muss ggfs. Erinnerung (§ 766 ZPO) einlegen, um die Aufhebung der Verstrickung zu erreichen. Zuständig ist das Insolvenzgericht (§ 89 Abs. 3 InsO), nicht das Vollstreckungsgericht. Nach der Rechtsprechung des BGH stehen für die Beseitigung der Verstrickung zwei Optionen zur Verfügung. Das Vollstreckungsorgan kann die Vollstreckungsmaßnahme entweder aufheben oder die (vorläufige) Aussetzung der Vollziehung, die allerdings keine gesetzliche Grundlage im 8. Buch der ZPO hat, anordnen. BGH NZI 2021, 489 Rn. 10 ff.; NZI 2017, 892 Rn. 14 ff. Nach Ansicht des BGH ist die Aussetzung der Vollziehung zur Wahrung der Rechte des Vollstreckungsgläubigers (Art. 14 Abs. 1 GG) vorrangig. Während bei der Aussetzung der Vollziehung das (unwirksame) Pfändungspfandrecht nach Beendigung des Insolvenzverfahrens rangwahrend wieder auflebt (Heilung ex nunc), Vgl. BeckOK InsR/Cymutta InsO § 89 Rn. 29; MüKoInsO/Breuer/Flöther InsO § 89 Rn. 61. ist das Gläubigerrecht bei Aufhebung der Verstrickung endgültig verloren; der Gläubiger müsste erneut die Pfändung der (künftigen) Forderung beantragen.

244

Vollstreckungsmaßnahmen der aussonderungsberechtigten Gläubiger (§ 47 InsO), insbesondere die Herausgabevollstreckung (§ 883 ZPO), bleiben zulässig. Gläubiger, die ein Absonderungsrecht an einem Grundstück haben (§ 49 InsO), können nach Maßgabe des ZVG die Zwangsversteigerung oder die Zwangsverwaltung betreiben. Auch Massegläubiger (§ 53 InsO) können grundsätzlich in das Schuldnervermögen vollstrecken, wobei die Vollstreckung in das künftige Arbeitseinkommen des Schuldners unzulässig ist (§ 89 Abs. 2 S. 1 InsO). Die laufenden Mittel (der Neuerwerb) sollen allen Gläubigern zur Verfügung stehen. Zudem gibt es zeitliche Einschränkungen. In den ersten sechs Monaten ab Insolvenzeröffnung unterliegen Masseverbindlichkeiten, die nicht durch eine Rechtshandlung des Verwalters entstanden sind (sog. oktroyierte Masseverbindlichkeiten), einem Vollstreckungsverbot (§ 90 Abs. 1 InsO), wie die nach Eröffnung entstandenen Lohnansprüche der Arbeitnehmer (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 2 InsO). BeckOK InsR/Cymutta InsO § 90 Rn. 4. Die anderen Massegläubiger (z.B. Stromanbieter, Lieferanten) können dagegen sofort in die Masse vollstrecken (sog. gewillkürte Masseverbindlichkeiten). Sie sind besonders schutzwürdig, da ihre Forderungen auf einem aktiven Verwalterhandeln beruhen.

2. Rückschlagsperre

245

Hat ein Gläubiger bereits vor Verfahrenseröffnung ein Pfändungspfandrecht im Wege der Zwangsvollstreckung erlangt, ordnet § 80 Abs. 2 S. 2 InsO an, dass die Vorschriften über die Wirkung einer Pfändung unberührt bleiben. Das Pfändungspfandrecht würde dem Gläubiger demnach ein Recht auf abgesonderte Befriedigung gewähren (§ 50 Abs. 1 InsO). Allerdings sieht § 88 Abs. 1 InsO eine Rückschlagsperre vor. Nach § 88 Abs. 1 InsO wird eine durch Vollstreckung erlangte Sicherung unwirksam, die ein Gläubiger im letzten Monat vor dem Eröffnungsantrag oder danach durch Zwangsvollstreckung erlangt hat. Bei einem vorausgegangenen Restrukturierungsverfahren verlängert sich der Monatszeitraum nach § 91 StaRUG um den Zeitraum der Rechtshängigkeit der Restrukturierungssache. Graf-Schlicker/Breitenbücher InsO § 88 Rn. 7. In Verbraucherinsolvenzverfahren beträgt die Sperrfrist drei Monate (§ 88 Abs. 2 InsO).

246

Mit „Sicherung“ ist das Pfändungspfandrecht gemeint. Wird es im Zeitraum der Rückschlagsperre erlangt, wird es mit Eröffnung des Verfahrens absolut (schwebend) unwirksam. Die Verstrickung bleibt bestehen. BGH NZI 2021, 489 Rn. 8; NZI 2021, 125 Rn. 10f.; NZI 2017, 892 Rn. 14; Bast/Becker NZI 2021, 481 f. Im Fall der Forderungspfändung kann der Drittschuldner daher bis zur förmlichen Aufhebung der Verstrickung das Zahlungsverlangen des Insolvenzverwalters zurückweisen. Die Beseitigung der Verstrickung kann von Amts wegen oder auf Antrag des Insolvenzverwalters erfolgen. Ähnlich wie bei § 89 InsO kann das Vollstreckungsorgan zwischen zwei Methoden wählen. Es kann entweder die Verstrickung aufheben oder die Aussetzung der Vollziehung anordnen. BGH NZI 2017, 892 Rn. 14. Da die Rückschlagsperre in das verfassungsrechtlich geschützte Eigentumsrecht des Gläubigers eingreift (Art. 14 Abs. 1 GG), ist die Aussetzung der Vollziehung als milderes Mittel vorrangig. Wird die Vollziehung ausgesetzt, lebt die Sicherung des Gläubigers (rangwahrend) ex iure wieder auf, sobald der betroffene Gegenstand vom Insolvenzverwalter freigegeben oder das Insolvenzverfahren ohne Verwertung des Gegenstandes wieder aufgehoben wird. BGH NZI 2021, 125 Rn. 12; Graf-Schlicker/Breitenbücher InsO § 88 Rn. 16 f. Einer erneuten Vornahme der Pfändung bedarf es nicht.

247

Die Rückschlagsperre des § 88 InsO gilt nicht, wenn der Gläubiger bereits die Befriedigung seiner Forderung erlangt hat.[5]OLG Frankfurt NZI 2002, 491, 492; Jauernig/Berger/Thole Insolvenzrecht § 23 Rn. 1. Das ist der Fall, wenn Gerichtsvollzieher im Zeitraum der Rückschlagsperre den Erlös aushändigt oder der Drittschuldner auf die gepfändete Forderung zahlt. Allerdings können Vollstreckungsmaßnahmen, die zwischen zwei und drei Monaten vor dem Eröffnungsantrag erfolgt sind, vom Insolvenzverwalter nach §§ 129 ff. InsO angefochten werden.

V. Aufrechnung

1. Grundlagen

248

Die §§ 94 bis 96 InsO befassen sich mit der Aufrechnung im Insolvenzverfahren. Hier ist geregelt, ob ein Insolvenzgläubiger auch noch nach Verfahrenseröffnung aufrechnen kann. Als Grundregel gilt, dass eine bei Verfahrenseröffnung bestehende Aufrechnungsbefugnis erhalten bleibt (§ 94 InsO). Damit wird an die BGB-Normen angeknüpft. Die Aufrechnungsbefugnis setzt das Vorliegen einer Aufrechnungslage (§ 387 BGB) voraus, d.h. Gegenseitigkeit, Gleichartigkeit, Fälligkeit und Durchsetzbarkeit der Gegenforderung (= Forderung des Insolvenzgläubigers gegen den Schuldner) sowie Erfüllbarkeit der Hauptforderung (= Forderung des Schuldners gegen den Insolvenzgläubiger). Die Aufrechnung setzt außerdem voraus, dass keine vertraglichen oder gesetzlichen Aufrechnungsverbote (z.B. §§ 393, 394, 395 BGB, 19 Abs. 2 S. 2 GmbHG, 66 Abs. 1 S. 2 AktG) bestehen. Zudem muss die Aufrechnung erklärt werden (§ 388 BGB). Folge der Aufrechnung ist, dass die Forderungen, soweit sie sich decken, erlöschen (§ 389 BGB = Erfüllungssurrogat).

Expertentipp

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Die §§ 94 bis 96 InsO knüpfen an die Aufrechnungsvorschriften des BGB an. Wiederholen Sie in diesem Zusammenhang die Voraussetzungen einer Aufrechnung nach den §§ 387 bis 396 BGB.

2. Aufrechnungslage vor Verfahrenseröffnung

249

§ 94 InsO enthält den Grundsatz, dass ein Insolvenzgläubiger zur Aufrechnung berechtigt bleibt, sofern die Aufrechnungslage bereits vor Verfahrenseröffnung bestanden hat. Der Gläubiger muss seine Forderung nicht zur Tabelle anmelden. Er kann sich durch Aufrechnungserklärung gegenüber dem Insolvenzverwalter, der nach § 80 Abs. 1 InsO Erklärungsempfänger ist, „befriedigen“. Vgl. Bork Insolvenzrecht Rn. 312. Grund ist der Vertrauensschutz in eine bestehende Aufrechnungslage. Die Aufrechnung ist allerdings ausgeschlossen, wenn der Gläubiger die Möglichkeit der Aufrechnung durch eine anfechtbare Handlung („in Kenntnis der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners“) erlangt hat (§ 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO).

Beispiel

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Schreiner Simon (S) hat der MODEHAUS GmbH im März ein neues Regal geliefert. Den Kaufpreis von 600 EUR hat die MODEHAUS GmbH noch nicht bezahlt. Im selben Monat hatte (S) von der MODEHAUS GmbH einen Anzug für 600 EUR erworben. Beide Forderungen sind noch offen. Lösung: Da beide Forderungen vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden sind, ist eine Aufrechnung möglich (§ 94 InsO). Die Forderungen sind gegenseitig, gleichartig (auf Geld gerichtet), die Gegenforderung von (S) ist fällig und die Hauptforderung erfüllbar. (S) kann daher die Aufrechnung gegenüber dem Insolvenzverwalter erklären (§ 388 BGB). Damit ist die Forderung der MODEHAUS GmbH gegen (S) erloschen (§ 389 BGB).

3. Aufrechnungslage im Verfahren

250

§ 95 InsO schafft einen Vertrauenstatbestand im Hinblick auf eine künftige entstehende Aufrechnungslage. Besteht bei Insolvenzeröffnung die Gegenforderung, soll der Insolvenzgläubiger darauf vertrauen dürfen, dass er sich später durch Aufrechnung befriedigen kann. Braun/Lojowsky InsO § 95 Rn. 1. § 95 Abs. 1 InsO setzt voraus, dass die wechselseitigen Forderungen in ihrem rechtlichen Kern schon vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens angelegt sind. Die Aufrechnung ist insbesondere zulässig, wenn die Fälligkeit der Gegenforderung erst nach Verfahrenseröffnung, aber noch vor oder gleichzeitig mit der Fälligkeit der Hauptforderung, eintritt (§ 95 Abs. 1 S. 1, 3 InsO). BGH NZI 2016, 347 Rn. 19. Besitzt dagegen der Schuldner zuerst eine durchsetzbare Forderung, verbietet § 95 Abs. 1 S. 3 InsO die Aufrechnung.

4. Insolvenzrechtliche Aufrechnungsverbote

251

In § 96 InsO sind vier Aufrechnungsverbote normiert. Die Norm knüpft an die fehlende Schutzwürdigkeit des Gläubigers an. Nach § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO ist die Aufrechnung unstatthaft, wenn die Hauptforderung erst nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden ist, d.h. das Geschäft zwischen Gläubiger und Insolvenzverwalter erst nach Eröffnung getätigt wurde. Die Norm ist überflüssig, da die Aufrechnung schon gar nicht zulässig ist (weder nach § 94 InsO noch nach § 95 InsO). Foerste Insolvenzrecht Rn. 225. Nach § 96 Abs. 1 Nr. 2 InsO ist die Aufrechnung verboten, wenn der Gläubiger die aufrechenbare Forderung nach Insolvenzeröffnung von einem anderen Gläubiger erworben hat. Derartige taktische Handlungen verdienen keinen Schutz.

Beispiel

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Kundin Kim (K) hat im Mai eine Handtasche für 1500 EUR bei der MODEHAUS GmbH gekauft. Die Rechnung wurde nicht bezahlt. Der Insolvenzverwalter fordert (K) zur Zahlung auf. (K) erfährt zufällig, dass die MODEHAUS GmbH ihrem Handwerker Hans (H) noch 1500 EUR schuldet. (K) kauft (H) dessen Forderung kurzentschlossen für 300 EUR ab und lässt sich diese abtreten (§ 398 BGB). Sodann erklärt (K) die Aufrechnung. Lösung: Derartige Rechtshandlungen verbietet § 96 Abs. 1 Nr. 2 InsO unter dem Gesichtspunkt der Gläubigergleichbehandlung. Die Aufrechnung ist unzulässig. (K) muss die 1500 EUR in die Masse zahlen.

252

Eine in der Praxis wichtige Regelung stellt § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO dar. Die Norm umfasst auch Aufrechnungslagen, die vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens entstanden sind. BGH NZI 2017, 349 Rn. 8. Anknüpfungspunkt ist, dass die Aufrechnungssituation durch eine anfechtbare Rechtshandlung (§§ 129 ff. InsO) erlangt worden ist. In diesem Fall wird die Aufrechnungserklärung des Gläubigers mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens (kraft Gesetzes) unwirksam. BGH NZI 2020, 687 Rn. 19; NZI 2012, 323; NJW 2007, 78, 79. Der Verwalter kann Zahlung verlangen. Zahlt der Gläubiger nicht, muss der Verwalter die Zahlung innerhalb der Frist des § 146 Abs. 1 InsO klageweise geltend machen. BGH NZI 2018, 721 Rn. 39. Die vierte Fallkonstellation ist in § 96 Abs. 1 Nr. 4 InsO geregelt. Danach ist die Aufrechnung unzulässig, wenn ein Gläubiger etwas zur Masse schuldet und mit einem Gegenanspruch aufrechnen will, der aus dem insolvenzfreien Vermögen des Schuldners zu erfüllen ist (sog. Neugläubiger). Vgl. Foerste Insolvenzrecht Rn. 228.

VI. Folgen für den Schuldner

1. Auskunft- und Mitwirkungspflichten des Schuldners

253

Die Insolvenzeröffnung führt dazu, dass der Schuldner einer umfassenden Auskunftspflicht unterliegt (§ 97 Abs. 1 InsO), die erst mit der Aufhebung des Insolvenzverfahrens endet (§ 200 Abs. 1 InsO) und auch noch im Fall der Nachtragsverteilung gilt. BGH NZI 2016, 365 Rn. 12. Nach § 97 Abs. 1 S. 1 InsO ist der Schuldner verpflichtet, über alle das Verfahren betreffenden Verhältnisse Auskunft zu geben. Ist der Schuldner eine juristische Person oder rechtsfähige Personengesellschaft, müssen die aktuell bestellten Vertretungsorgane (§ 101 Abs. 1 S. 1 InsO), aber auch die in den letzten zwei Jahren vor Eröffnung ausgeschiedenen Vertretungsorgane (§ 101 Abs. 1 S. 2 InsO) die Auskunftspflicht erfüllen. Die Pflicht zur Auskunft bezieht sich auf alle wirtschaftlichen, rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse, z.B. Aktiva (auch im Ausland), Passiva, Aus- und Absonderungsrechte sowie Insolvenzanfechtungstatbestände. Braun/Lojowsky InsO § 97 Rn. 10; Nerlich/Römermann/Kruth InsO § 97 Rn. 6. Der Schuldner muss sogar dann Auskunft erteilen, wenn er damit eine von ihm begangene Straftat preisgibt (§ 97 Abs. 1 S. 2 InsO). In einem Strafprozess können seine Aussagen aber nicht verwertet werden (§ 97 Abs. 1 S. 3 InsO), unter Umständen jedoch die aufgrund der Auskunft gefundenen Unterlagen. LG Frankfurt (Oder) NZI 2020, 1070 Rn. 6. Verweigern Schuldner oder Leitungsorgane die Auskunft, kann das Gericht Zwangsmittel (Vorführung und Haft) anordnen (§§ 98 Abs. 2, 101 Abs. 1 S. 1, 2 InsO). Beispiel BGH NJW 2005, 1505, 1506 ff. Häufig wird auch das „mittlere Management“ als Auskunftsquelle herangezogen (vgl. § 101 Abs. 2 InsO). Dieses bleibt von einer Haftanordnung verschont (kein Verweis auf § 98 in § 101 Abs. 2, 3 InsO). Seit 1.11.2022 kann das Insolvenzgericht von Amts wegen von anderen Stellen Auskünfte über den Schuldner einholen; So bereits zum früheren Rechtszustand AG Köln NZI 2018, 622, 623. auskunftspflichtige Stellen sind die Träger der Rentenversicherung, das Bundeszentralamt für Steuern sowie das Kraftfahrtbundesamt (§ 98 Abs. 1a Nr. 2 InsO i.V.m. § 802l ZPO). Im Übrigen kann das Gericht dem Schuldner aufgeben, sich jederzeit für Auskünfte zur Verfügung zu halten (§ 97 Abs. 3 InsO).

254

Nach § 97 Abs. 2 InsO ist der Schuldner allgemein verpflichtet, den Insolvenzverwalter bei der Erfüllung seiner Aufgaben zu unterstützen (z.B. Einreichen von Steuererklärungen, Forderungsprüfung). Für Auslandsvermögen muss der Schuldner eine Auslandsvollmacht erteilen. BGH NZI 2016, 365 Rn 17, 22. Auch Passwörter muss er offenbaren. Foerste Insolvenzrecht Rn. 151. § 97 Abs. 2 InsO umfasst die Pflicht, pfändbares Arbeitseinkommen und Einkünfte aus selbstständiger Tätigkeit vollständig an den Insolvenzverwalter abzuführen. BGH NZI 2018, 702 Rn. 7. Bei Freigabe der selbstständigen Tätigkeit muss der Schuldner gem. § 35 Abs. 2 S. 2 i.V.m. § 295a InsO von sich aus Zahlungen in der Höhe abführen, die er in einem abhängigen Dienstverhältnis erzielen würde. Verstöße hiergegen können zur Versagung der Restschuldbefreiung führen (§ 290 Abs. 1 Nr. 5 InsO).

2. Berufsrechtliche Beschränkungen bei natürlichen Personen

255

Für manche freien Berufe hat die Insolvenzeröffnung einschneidende Folgen. Bei Rechtsanwälten, Patentanwältinnen, Steuerberaterinnen und Notaren kann die zuständige Kammer die Zulassung widerrufen, wenn die Person in Vermögensverfall geraten ist. Näher MüKoInsO/Vuia InsO § 80 Rn. 14 ff. Eine ähnliche Regelung gilt für Wirtschaftsprüfer. Der Eintritt des Vermögensverfalls wird gesetzlich vermutet, wenn ein Insolvenzverfahren eröffnet wird (§ 14 Abs. 2 Nr. 7 BRAO, § 21 Abs. 2 Nr. 8 PAO, § 50 Abs. 1 Nr. 6 BNotO, § 46 Abs. 2 Nr. 4 StBerG, §§ 20 Abs. 2 Nr. 5, 16 Abs. 1 Nr. 7 WPO). Die gesetzliche Vermutung wird nicht dadurch widerlegt, dass der Insolvenzverwalter die selbstständige Tätigkeit des Schuldners freigibt. BGH NZI 2018, 422 Rn. 11; BeckRS 2015, 7398 Rn. 4. Auch die (bloße) Ankündigung der Restschuldbefreiung (§ 287a InsO) beseitigt die Vermutung nicht. BGH NZI 2017, 215 Rn. 9; Ganter NZI 2022, 409, 410. Vielmehr muss das Restschuldbefreiungsverfahrens erfolgreich abgeschlossen sein (§ 301 InsO) oder ein vom Gericht bestätigter Insolvenzplan (§ 248 InsO) vorgelegt werden. BGH NZI 2018, 422 Rn. 9; BeckRS 2015, 7398 Rn. 4. Bei einem Rechtsanwalt kann der Widerruf bei Vermögensverfall ausnahmsweise unterbleiben, wenn ein Eigenantrag vorliegt, keine Forderungen von Mandanten angemeldet wurden, die künftigen Mandate im Auftrag und für Rechnung der Sozietät abgeschlossen werden und er nicht nach außen in Erscheinung tritt. BGH NZI 2019, 95 Rn. 5 ff.; NZI 2017, 215 Rn. 15; Foerste Insolvenzrecht Rn. 155.

256

Gewerbetreibende dürfen ihr Gewerbe trotz Insolvenzeröffnung in der Regel weiterführen. Zwar sieht § 35 GewO bei ungeordneten Vermögensverhältnissen grundsätzlich den Widerruf der Gewerbeerlaubnis vor. Nach § 12 S. 1 Nr. 1 bis 4 GewO finden jedoch die Vorschriften, die eine Untersagung wegen Unzuverlässigkeit normieren, während eines Insolvenzverfahrens keine Anwendung. AG Köln NZI 2020, 327 15; MüKoInsO/Vuia InsO § 80 Rn. 17. Apotheker dagegen dürfen ihren Beruf ab Verfahrenseröffnung nicht länger ausüben, da der Übergang der Verfügungsbefugnis auf den Verwalter (§ 80 Abs. 1 InsO) der Norm des § 7 S. 1 ApoG widerspricht.    

3. Auflösung insolventer Gesellschaften

257

Hinweis

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Die Auflösung der insolventen Gesellschaft ist die zwingende Folge des Regelverfahrens. Am Ende des Verfahrens erfolgt die Löschung aus dem Register.

Gesellschaften werden durch die Insolvenzeröffnung aufgelöst. Die entsprechenden Regelungen finden sich in den einschlägigen gesellschaftsrechtlichen Normen (z.B. für die GmbH § 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG). Die Gesellschaft besteht bis zur endgültigen Verteilung der Insolvenzmasse als „Abwicklungsgesellschaft“ fort. Nach der Schlussverteilung tritt die Vollbeendigung der Gesellschaft wegen Vermögenslosigkeit ein. Kapitalgesellschaften werden von Amts wegen aus dem Handelsregister gelöscht (§ 394 FamFG). Gibt der Insolvenzverwalter einen Gegenstand aus dem Gesellschaftsvermögen frei, muss noch ein eigenständiges gesellschaftsrechtliches Liquidationsverfahren nachfolgen.

B. Folgen für bestehende Verträge

I. Einführung

258

Wird ein Unternehmen insolvent, existieren zum Zeitpunkt des Eröffnungsbeschlusses im Regelfall noch zahlreiche (offene) Verträge (z.B. Kaufverträge, Werkverträge, Werklieferungsverträge, Darlehensverträge, Mietverträge, Arbeitsverträge, Geschäftsbesorgungsverträge). Ob und wie diese Rechtsbeziehungen abzuwickeln sind, ist in den §§ 103 bis 119 InsO näher geregelt. Manche Rechtsverhältnisse erlöschen, manche bleiben unverändert, manche können vorzeitig beendet werden. Dieses (komplizierte) Regelungsgeflecht bietet dem Insolvenzverwalter die Möglichkeit, die Belastung der Masse gering zu halten und vorteilhafte Verträge weiterzuführen.

II. Wahlrecht bei gegenseitigen Verträgen

259

Die Grundregel für gegenseitige Verträge ist in § 103 InsO enthalten. Ist ein gegenseitiger Vertrag zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens weder vom Schuldner noch vom anderen Teil nicht oder nicht vollständig erfüllt, hat der Insolvenzverwalter nach § 103 Abs. 1, 2 InsO die Wahl, ob er den Vertrag erfüllen will oder nicht. Typische gegenseitige Verträge sind Kaufverträge (§ 433 BGB), Werkverträge (§ 631 BGB) oder Werklieferungsverträge (§ 650 BGB). Das Wahlrecht des Insolvenzverwalters entsteht nach dem eindeutigen Wortlaut des § 103 Abs. 1 InsO erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Es gilt daher nicht für den vorläufigen Verwalter. BGH NZI 2018, 111 Rn. 19; NZI 2008, 36 Rn. 9; K. Schmidt/Ringstmeier InsO § 103 Rn. 21.

260

§ 103 InsO knüpft an die beidseitige Nichterfüllung an und scheidet daher von vornherein aus, wenn der Vertrag von beiden Seiten bereits vollständig erfüllt war. Zum Lizenzvertrag BGH NZI 2016, 97 Rn. 45; Becker Insolvenzrecht § 7 Rn. 8. Hat eine Partei im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung ihre Hauptpflicht aus dem gegenseitigen Vertrag bereits einseitig vollständig erfüllt hat (= Vorleistung), findet § 103 InsO ebenfalls keine Anwendung, da der Schutzzweck des § 320 BGB nicht tangiert ist. BGH NZI 2019, 587 Rn. 16 ff. Im Fall der Vorleistung gelten die allgemeinen Folgen. Hat der Gläubiger den Vertrag im Eröffnungszeitpunkt bereits vollständig erfüllt (z.B. die Kaufsache übereignet), kann er seinen Anspruch (auf Kaufpreiszahlung § 433 Abs. 2 BGB) nur als Insolvenzforderung (§ 38 InsO) geltend machen. Hat umgekehrt der Schuldner den Vertrag einseitig erfüllt, muss der Gläubiger seine Gegenleistung in die Masse erbringen.

261

Vom Wortlaut her unterscheidet § 103 InsO nicht nach Art und Umfang der beidseitigen Nichtleistung. Jedoch rechtfertigt nicht jede kleinste Nichtleistung die Anwendung des § 103 InsO. Denn Zweck der Vorschrift ist, den Schutz des § 320 BGB (Einrede des nichterfüllten Vertrags) zu erhalten und dem Verwalter die Möglichkeit zu geben, den gegenseitigen Vertrag zum Vorteil der Masse auszuführen. BGH NZI 2019, 587 Rn. 21, 23; NZI 2018, 746 Rn. 22. Daher kommt § 103 InsO nach überwiegender Ansicht nur bei nicht erfüllten Hauptleistungspflichten, die im Synallagma stehen, oder bei sonstigen vertraglichen Pflichten, die nach dem Vertragszweck von wesentlicher Bedeutung sind, nicht aber Nebenpflichten, zum Einsatz. BGH NZI 2019, 587 Rn. 19 ff., 28; a.A. MüKoInsO/Huber InsO § 103 Rn. 123. Diese synallagmatischen Pflichten dürfen beidseitig noch nicht vollständig erfüllt sein. BGH NZI 2019, 587 Rn. 23; NZI 2018, 111 Rn. 13; NZI 2018, 22 Rn. 16.

Beispiel

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Die MODEHAUS GmbH hat mit Bauunternehmer Ben (B) einen Werkvertrag geschlossen und Werkleistungen an den Fenstern des Modehauses (Kosten 5000 EUR) in Auftrag gegeben. Die Fenster wurden vor Insolvenzeröffnung mangelhaft eingebaut. Der Werklohn wurde wegen der Mängel nicht bezahlt. Lösung: Das ist ein Fall des § 103 InsO. Der Werkvertrag ist von beiden Seiten noch nicht vollständig erfüllt, da die Vergütung nicht erbracht wurde und die Bauleistung zwar ausgeführt und abgenommen wurde, aber (beseitigungsfähige) Mängel hat. Der Verwalter hat die Wahl, ob er den Vertrag erfüllen will oder nicht, d.h. je nach Nutzen für die Masse und ohne Rücksicht auf den Vertragspartner. Vgl. etwa BGH NZI 2016, 128 Rn. 17.

1. Anwendungsbereich

259

Die Grundregel für gegenseitige Verträge ist in § 103 InsO enthalten. Ist ein gegenseitiger Vertrag zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens weder vom Schuldner noch vom anderen Teil nicht oder nicht vollständig erfüllt, hat der Insolvenzverwalter nach § 103 Abs. 1, 2 InsO die Wahl, ob er den Vertrag erfüllen will oder nicht. Typische gegenseitige Verträge sind Kaufverträge (§ 433 BGB), Werkverträge (§ 631 BGB) oder Werklieferungsverträge (§ 650 BGB). Das Wahlrecht des Insolvenzverwalters entsteht nach dem eindeutigen Wortlaut des § 103 Abs. 1 InsO erst nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens. Es gilt daher nicht für den vorläufigen Verwalter. BGH NZI 2018, 111 Rn. 19; NZI 2008, 36 Rn. 9; K. Schmidt/Ringstmeier InsO § 103 Rn. 21.

260

§ 103 InsO knüpft an die beidseitige Nichterfüllung an und scheidet daher von vornherein aus, wenn der Vertrag von beiden Seiten bereits vollständig erfüllt war. Zum Lizenzvertrag BGH NZI 2016, 97 Rn. 45; Becker Insolvenzrecht § 7 Rn. 8. Hat eine Partei im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung ihre Hauptpflicht aus dem gegenseitigen Vertrag bereits einseitig vollständig erfüllt hat (= Vorleistung), findet § 103 InsO ebenfalls keine Anwendung, da der Schutzzweck des § 320 BGB nicht tangiert ist. BGH NZI 2019, 587 Rn. 16 ff. Im Fall der Vorleistung gelten die allgemeinen Folgen. Hat der Gläubiger den Vertrag im Eröffnungszeitpunkt bereits vollständig erfüllt (z.B. die Kaufsache übereignet), kann er seinen Anspruch (auf Kaufpreiszahlung § 433 Abs. 2 BGB) nur als Insolvenzforderung (§ 38 InsO) geltend machen. Hat umgekehrt der Schuldner den Vertrag einseitig erfüllt, muss der Gläubiger seine Gegenleistung in die Masse erbringen.

261

Vom Wortlaut her unterscheidet § 103 InsO nicht nach Art und Umfang der beidseitigen Nichtleistung. Jedoch rechtfertigt nicht jede kleinste Nichtleistung die Anwendung des § 103 InsO. Denn Zweck der Vorschrift ist, den Schutz des § 320 BGB (Einrede des nichterfüllten Vertrags) zu erhalten und dem Verwalter die Möglichkeit zu geben, den gegenseitigen Vertrag zum Vorteil der Masse auszuführen. BGH NZI 2019, 587 Rn. 21, 23; NZI 2018, 746 Rn. 22. Daher kommt § 103 InsO nach überwiegender Ansicht nur bei nicht erfüllten Hauptleistungspflichten, die im Synallagma stehen, oder bei sonstigen vertraglichen Pflichten, die nach dem Vertragszweck von wesentlicher Bedeutung sind, nicht aber Nebenpflichten, zum Einsatz. BGH NZI 2019, 587 Rn. 19 ff., 28; a.A. MüKoInsO/Huber InsO § 103 Rn. 123. Diese synallagmatischen Pflichten dürfen beidseitig noch nicht vollständig erfüllt sein. BGH NZI 2019, 587 Rn. 23; NZI 2018, 111 Rn. 13; NZI 2018, 22 Rn. 16.

Beispiel

Die MODEHAUS GmbH hat mit Bauunternehmer Ben (B) einen Werkvertrag geschlossen und Werkleistungen an den Fenstern des Modehauses (Kosten 5000 EUR) in Auftrag gegeben. Die Fenster wurden vor Insolvenzeröffnung mangelhaft eingebaut. Der Werklohn wurde wegen der Mängel nicht bezahlt. Lösung: Das ist ein Fall des § 103 InsO. Der Werkvertrag ist von beiden Seiten noch nicht vollständig erfüllt, da die Vergütung nicht erbracht wurde und die Bauleistung zwar ausgeführt und abgenommen wurde, aber (beseitigungsfähige) Mängel hat. Der Verwalter hat die Wahl, ob er den Vertrag erfüllen will oder nicht, d.h. je nach Nutzen für die Masse und ohne Rücksicht auf den Vertragspartner. Vgl. etwa BGH NZI 2016, 128 Rn. 17.

2. Dogmatische Fragen

262

Nach neuerer Ansicht des BGH führt die Eröffnung des Insolvenzverfahrens bei gegenseitigen, noch nicht oder nicht vollständig erfüllten Verträgen nicht zum Erlöschen der Ansprüche (so die frühere Erlöschenstheorie); Näher BeckOK InsR/Berberich InsO § 103 Rn. 5 ff. vielmehr verlieren die Ansprüche auf Leistung und Gegenleistung ihre Durchsetzbarkeit (Durchsetzbarkeitstheorie). BGH NZI 2018, 111 Rn. 13; NZI 2016, 128 Rn. 18; NZI 2016, 97 Rn. 43. Wählt der Verwalter Erfüllung, erlangt der Erfüllungsanspruch des Vertragspartners die Rechtsqualität einer originären Masseverbindlichkeit; der Vertragspartner wird so behandelt, als hätte er mit dem Verwalter einen neuen Vertrag mit identischem Inhalt abgeschlossen. Diese Aufwertung zur Masseverbindlichkeit wird als „Qualitätssprung“ bezeichnet. BeckOK InsR/Berberich InsO § 103 Rn. 10; Foerste Insolvenzrecht Rn. 239. Lehnt der Verwalter die Erfüllung ab, bleibt der Vertrag in der Lage bestehen, in welcher er sich bei Eröffnung des Insolvenzverfahrens befand. BGH NZI 2016, 128 Rn. 19; NJW 2013, 1245 Rn. 8.

3. Erfüllungswahl des Insolvenzverwalters

a) Ausübung des Wahlrechts

263

Das Wahlrecht wird durch einseitige, empfangsbedürftige Erklärung gegenüber dem Vertragspartner ausgeübt. Der Insolvenzverwalter muss seine Entscheidung danach ausrichten, welche der beiden Handlungsalternativen für die Masse günstiger ist. Uhlenbruck/Wegener InsO § 103 Rn. 97. Ihm steht gem. § 103 InsO nur das Recht zu, entweder Erfüllung des Vertrags zu verlangen oder die Erfüllung abzulehnen. Er ist nicht berechtigt, den Vertrag inhaltlich zu modifizieren. Unklare Erklärungen des Insolvenzverwalters sind nach §§ 133, 157 BGB auszulegen. BGH NJW 2007, 1594; K. Schmidt/Ringstmeier InsO § 103 Rn. 25. So kann der stillschweigende Bezug von Versorgungsleistungen (Strom, Wasser) als konkludente Erfüllungswahl angesehen werden. BGH NZI 2016, 484 Rn. 9. Demgegenüber ist die Erfüllungsannahme unter Vorbehalt regelmäßig als Ablehnung zu werten. BGH NZI 2018, 111 Rn. 18. Der Vertragspartner kann den Insolvenzverwalter aktiv unter Fristsetzung auffordern, das Wahlrecht auszuüben (§ 103 Abs. 2 S. 2 InsO). Reagiert er nicht unverzüglich auf die Anfrage, gilt sein Schweigen als Ablehnung (§ 103 Abs. 2 S. 2, 3 InsO).

b) Rechtsfolgen bei Erfüllungswahl

264

Verlangt der Insolvenzverwalter Erfüllung des Vertrags, muss der Vertragspartner seine vertraglich geschuldete Leistung zur Insolvenzmasse erbringen. Umgekehrt muss der Insolvenzverwalter die geschuldete Gegenleistung aus der Insolvenzmasse erfüllen (§ 103 Abs. 1 InsO). Die Leistungen sind Zug um Zug zu erbringen (§§ 320, 322 BGB). Vom Inhalt her richtet sich das Vertragsverhältnis danach, wie es ursprünglich vereinbart war. Vgl. BGH NZI 2013, 891, 893; Braun/Fehl-Weileder InsO § 103 Rn. 45. Durch die Erfüllungswahl erhält der Vertragspartner eine originäre Masseverbindlichkeit nach § 55 Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 InsO. Grundlegend BGH NJW 2002, 2783, 2785.

4. Ablehnung der Erüllung

265

Lehnt der Verwalter die Erfüllung ab, hat die Ablehnung nach der Rechtsprechung des BGH keine rechtsgestaltende Wirkung. Die Ansprüche erlöschen nicht, sondern sind während des Insolvenzverfahrens nicht durchsetzbar. Vgl. BGH NZI 2013, 296 Rn. 8; HambKomm-InsR/Ahrendt § 103 Rn. 38, 40. Daraus folgt, dass der Vertragspartner seine vertraglichen Ansprüche nach Verfahrensbeendigung wieder durchsetzen könnte, wenn er die Gegenleistung erbringt. Vgl. Becker Insolvenzrecht § 7 Rn. 17. Das gelingt (in der Theorie) nur bei natürlichen Personen. Im Fall der MODEHAUS GmbH ist dieser Weg nicht gangbar, da die GmbH am Ende des Insolvenzverfahrens aus dem Handelsregister gelöscht wird. Vgl. Uhlenbruck/Wegener InsO § 103 Rn. 159. Der Vertragspartner sollte daher abwägen, ob er statt dessen seinen Anspruch auf Schadensersatz statt der Leistung (§§ 280, 281 BGB) zur Insolvenztabelle anmeldet, der allerdings bloße Insolvenzforderung ist (§ 103 Abs. 2 S. 1 InsO).

Expertentipp

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Das Wahlrecht des Insolvenzverwalters bei gegenseitigen Verträgen ist ein besonders wichtiges Thema, da es Vertragsrecht und Insolvenzrecht miteinander verzahnt. Es spielt auch in der Praxis eine erhebliche Rolle.

5. Sonderregelung für teilbare Leistungen

266

§ 105 InsO enthält eine Grundregel zu teilbaren Leistungen. Teilbare Leistungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sich in vor und nach Verfahrenseröffnung erbrachte Leistungen (wertmäßig) aufspalten lassen. Vgl. BGH NZI 2022, 554 Rn. 27 ff. Beispiele sind Sukzessivlieferungsverträge, Energielieferungsverträge, Werklieferungsverträge oder Bauverträge. Wählt der Verwalter die Erfüllung des Vertrags, kommt es zu einer Vertragsspaltung. Die Teilleistungen des Vertragspartners vor der Verfahrenseröffnung („Vorleistungen“) sind bloße Insolvenzforderung (§ 105 S. 1 InsO). Für diese Vorleistungen muss sich der Vertragspartner mit der Quote zufriedengeben. Für die nach der Eröffnung erbrachten Teilleistungen kann der Vertragspartner seinen Vergütungsanspruch vollumfänglich (100 %) als Massegläubiger (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO) gegenüber dem Insolvenzverwalter geltend machen.

6. Lösungsklauseln

267

In Verträgen finden sich häufig Vertragsklauseln, die den Vertragspartner „im Fall der Insolvenz des anderen Teils zum Rücktritt oder zur Kündigung berechtigen“ oder eine automatische Vertragsbeendigung vorsehen (sog. Lösungsklauseln). Nach § 119 InsO sind vertragliche Vereinbarungen, welche die Anwendung der §§ 103–108 InsO im Voraus ausschließen oder beschränken, unwirksam.  Damit soll die Entscheidungsfreiheit des Verwalters geschützt werden. BeckOK InsR/Berberich InsO § 119 Rn. 1. Von § 119 InsO werden auch Vereinbarungen erfasst, die den Zeitpunkt des Beendigungsrechts auf den Zeitpunkt der Zahlungseinstellung oder des Eröffnungsantrags vorverlagern. Denn auch sie verhindern, dass der Insolvenzverwalter sein Wahlrecht nach § 103 InsO ausüben kann. BGH NZI 2016, 627 Rn. 58; NJW 2013, 1159, 1160 f.; NZI 2014, 25, 26.

268

Dagegen sind vertragliche „Lösungsklauseln“, die nur die gesetzlich vorgesehenen Lösungsmöglichkeiten beinhalten, erlaubt. BGH NZI 2016, 532 Rn. 25 f.; NJW 2013, 1159, 1160. Derartige Lösungsklauseln, die nicht an das Wahlrecht des Insolvenzverwalters anknüpfen, sind der Vermögensverfall des Schuldners (z.B. § 490 BGB), der Verzug des Schuldners (§ 286 BGB), sonstige Vertragsverletzungen (§ 280 Abs. 1 BGB) oder die Abweisung mangels Masse (§ 26 InsO). Zudem bleiben gesetzlich vorgesehene Rücktrittsrechte (z.B. §§ 323, 543 BGB) weiter möglich. BeckOK InsR/Berberich InsO § 119 Rn. 5. Lösungsklauseln in Tarifverträgen sind zulässig, da es sich bei Tarifverträgen nicht um gegenseitige Verträge i.S.d. § 103 InsO handelt. LAG München NZI 2019, 708 Rn. 18 ff.

III. Fixgeschäfte, Finanzleistungen, vertragliches Liquidationsnetting

269

Kein Wahlrecht des Insolvenzverwalters besteht nach § 104 Abs. 1 S. 1 InsO für Warenfixgeschäfte, die einen Börsenpreis haben (z.B. Getreide, Strom) sowie nach § 104 Abs. 1 S. 2 InsO für Finanzleistungen (definiert in § 104 Abs. 1 S. 3 InsO), wenn der Termin für deren Erfüllung auf die Zeit nach der Insolvenzeröffnung fällt. § 104 InsO ist lex specialis zu § 103 InsO. Es kann keine Erfüllung verlangt werden, sondern nur eine Forderung wegen Nichterfüllung. Grund ist, dass der Vertragspartner angesichts der Marktpreisrisiken vor der Ungewissheit bewahrt werden soll, ob er sich um ein Ersatzgeschäft kümmern muss. Braun/Fehl-Weileder InsO § 104 Rn. 1; Bretthauer/Garbers/Streit NZI 2017, 953, 955. Wie die (einzelne) Forderung wegen Nichterfüllung zu berechnen ist, wird in § 104 Abs. 2 InsO bestimmt. Besondere Regelungen sind in § 104 Abs. 3, 4 InsO für Rahmenverträge, die ein Liquidationsnetting vorsehen und die in der Finanzwirtschaft, Transportwirtschaft sowie im Energiesektor eine Rolle spielen, enthalten.

IV. Vormerkung

270

Die Norm des § 106 InsO trifft für durch Auflassung gesicherte Ansprüche eine Sonderregelung. Danach sind (Rückübertragungs-)Ansprüche, die durch Vormerkung gesichert sind (§ 883 BGB), insolvenzfest (§ 106 InsO). Sie sind dem Wahlrecht des Insolvenzverwalters (§ 103 InsO) entzogen. Er muss den durch Auflassung gesicherten Anspruch erfüllen. BGH NZI 2018, 22 Rn. 17. Bei einer Auflassungsvormerkung muss der Verwalter daher die Auflassung (§§ 873 Abs. 1, 925 BGB) erklären und die Eintragung bewilligen (§ 19 GBO). BGH NZI 2016, 451 Rn. 18. Insofern verleiht § 106 Abs. 1 InsO dem Vormerkungsberechtigten eine mit dem Aussonderungsrecht vergleichbare Befugnis. BVerfG NZI 2020, 1112 Rn. 61; BGH NZI 2018, 22 Rn. 25. Der von der Vormerkung erfasste Vermögensgegenstand gehört von vorneherein nicht zur Masse. Auf den Rechtsgrund der gesicherten Forderung kommt es nicht an, so dass auch ein unentgeltliches Grundgeschäft vom Vormerkungsschutz des § 106 Abs. 1 InsO erfasst ist. BGH NZI 2021, 577 Rn. 38 ff.

Beispiel

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Hat die MODEHAUS GmbH vor Verfahrenseröffnung ein Lagergrundstück unter Eintragung einer Auflassungsvormerkung an Käufer Kenzo (K) veräußert, kann der Insolvenzverwalter den Erwerb nicht mehr verhindern. Der vormerkungsberechtigte (K) kann vom Insolvenzverwalter Auflassung (§ 925 BGB) und Bewilligung der Grundbucheintragung verlangen.

V. Kauf unter Eigentumsvorbehalt

271

§ 107 InsO regelt als Spezialnorm zu § 103 InsO den Kauf unter Eigentumsvorbehalt, der an sich ein „Paradefall“ des § 103 InsO ist (vor vollständiger Kaufpreiszahlung ist er von beiden Seiten noch nicht vollständig erfüllt). HambKomm-InsR/Ahrendt InsO § 107 Rn. 1. § 107 Abs. 1 InsO schließt bei Insolvenz des Vorbehaltsverkäufers das Wahlrecht des Insolvenzverwalters aus, während es bei Insolvenz des Vorbehaltskäufers durch § 107 Abs. 2 InsO einfach nur zeitlich nach hinten verschoben wird.

1. Insolvenz des Vorbehaltsverkäufers

272

Hat der Schuldner vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens eine bewegliche Sache unter Eigentumsvorbehalt verkauft und dem Käufer den Besitz an der Sache übertragen, kann der Käufer vom Insolvenzverwalter nach § 107 Abs. 1 S. 1 InsO die Erfüllung des Kaufvertrags verlangen. Das Anwartschaftsrecht des Käufers ist insolvenzfest. Becker Insolvenzrecht § 7 Rn. 29; Foerste Insolvenzrecht Rn. 265. Die Norm des § 103 InsO gilt nicht, da der Insolvenzverwalter das Anwartschaftsrecht nicht durch Ausübung des Wahlrechts zerstören darf. Zahlt der Käufer den restlichen Kaufpreis an die Masse, erstarkt sein Anwartschaftsrecht zum Vollrecht und er wird Eigentümer. BeckOK InsR/Berberich InsO § 107 Rn. 21.

Beispiel

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Die MODEHAUS GmbH verkauft zwei Monate vor Insolvenzeröffnung ihr Lieferauto an Klara (K) unter Eigentumsvorbehalt für 35 000 EUR (zahlbar in 5 Monatsraten). Das Auto wird (K) sogleich übergeben. Dem Insolvenzverwalter steht kein Wahlrecht gem. § 103 InsO zu. Nach der Spezialregelung des § 107 Abs. 1 S. 1 InsO kann (K) Erfüllung des Kaufvertrags verlangen. Zahlt (K) die Raten weiter, erwirbt sie mit Zahlung der letzten Rate Eigentum an dem Lieferwagen.

2. Insolvenz des Vorbehaltskäufers

273

Hat der Schuldner eine bewegliche Sache unter Eigentumsvorbehalt gekauft und vom Verkäufer den Besitz an der Sache erlangt, bleibt es beim Wahlrecht des Insolvenzverwalters (§§ 103, 107 Abs. 2 S. 1 InsO). Der Insolvenzverwalter hat die Wahl, ob er den Kaufvertrag erfüllt und das Anwartschaftsrecht des Schuldners in ein Vollrecht verwandelt. Dem Verwalter steht für seine Entscheidung („Ja“ oder „Nein“) ein besonders langer Entscheidungszeitraum zur Verfügung. Fordert der Vertragspartner (Verkäufer) den Insolvenzverwalter auf, sein Wahlrecht auszuüben, muss die Entscheidung (entgegen § 103 Abs. 2 InsO) erst unverzüglich nach dem Berichtstermin (§ 156 InsO) getroffen werden (§ 107 Abs. 2 S. 2 InsO). Die großzügige Frist dient dazu, dem Insolvenzverwalter „den Rücken frei zu halten“, bis im Berichtstermin entschieden wird, ob das Unternehmen fortgeführt wird und die unter Eigentumsvorbehalt gekaufte Sache zur Betriebsfortführung benötigt wird (z.B. größere Maschinen, Produktionsanlagen). Andres/Leithaus/Andres InsO § 107 Rn. 3.

274

Lehnt der Verwalter die Erfüllung des Vertrags ab, entfällt das Besitzrecht (§ 986 BGB) des Schuldners. Der Verkäufer ist zur Aussonderung nach § 47 InsO berechtigt und kann Herausgabe der Sache verlangen (§ 985 BGB). Foerste Insolvenzrecht Rn. 263. Er muss den vom Schuldner bezahlten Kaufpreis nach Bereicherungsrecht zurückerstatten.

VI. Erlöschen von Aufträgen und Vollmachten

275

Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens erlöschen Auftragsverhältnisse, die sich auf die Insolvenzmasse beziehen, kraft Gesetzes (§ 115 Abs. 1 InsO). Das gilt auch für Geschäftsbesorgungsverträge gem. §§ 675 Abs. 1, 675c Abs. 1 BGB (z.B. Steuerberatervertrag, Anwaltsvertrag, Factoringvertrag), die ebenfalls erlöschen (§§ 116 S. 1 i.V.m. § 115 Abs. 1 InsO). BGH NZI 2022, 216 Rn. 13; NZI 2019, 374 Rn. 11; NZI 2018, 746 Rn. 21; NZI 2006, 637. Hierdurch wird verhindert, dass der Auftragnehmer weiterhin auf das Schuldnervermögen einwirken kann; zugleich wird sichergestellt, dass die Verwaltung der Masse allein beim Insolvenzverwalter liegt. BGH NZI 2017, 105 Rn. 32; Uhlenbruck/Sinz InsO § 116 Rn. 1. Des Weiteren erlöschen gem. § 117 Abs. 1 InsO die vom Schuldner erteilten Vollmachten (Prokura, Generalvollmacht, Prozessvollmacht). Hingegen bleibt der Insolvenzverwalter an eine vor Eröffnung getroffene Schiedsvereinbarung gebunden, da diese weder Auftrag noch gegenseitiger Vertrag ist. BGH NZI 2018, 62 Rn. 13 ff. (auch zu den Ausnahmen); NZI 2017, 60 Rn. 12; NZI 2016, 804. Eine Durchbrechung der §§ 115, 116 InsO ist in § 155 Abs. 3 S. 2 InsO geregelt, wonach die Bestellung eines Abschlussprüfers für das vor Eröffnung liegende Geschäftsjahr und für frühere Jahre wirksam bleibt. BGH NZI 2022, 554 Rn. 12; NZI 2018, 647 Rn. 12 ff.

VII. Mietverträge

276

Bei Miet- und Pachtverhältnissen ist zwischen beweglichen Sachen und Grundstücken sowie zwischen der Insolvenz des Mieters und des Vermieters zu differenzieren.

1. Bewegliche Sachen

277

Für Mietverträge oder Leasingverträge über bewegliche Sachen (z.B. Firmenauto) bleibt es bei der Grundregel des § 103 InsO. Der Insolvenzverwalter kann wählen, ob er den Mietvertrag fortführen will oder nicht. BGH NJW 2015, 1109, 1112; Bork Insolvenzrecht Rn. 205. Da die Leistungen in einem solchen Dauerschuldverhältnis teilbar sind (§ 105 InsO), bildet die Verfahrenseröffnung eines Zäsur. Verlangt der Verwalter Erfüllung, sind die vor Verfahrenseröffnung entstandenen Mietzinsansprüche Insolvenzforderungen (§§ 105 S. 1, 38 InsO) und die danach entstandenen Mietforderungen Masseverbindlichkeiten (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO). Lehnt der Verwalter die Vertragserfüllung ab, ist der Vertragspartner zur Aussonderung (§ 47 InsO) berechtigt und kann Herausgabe der beweglichen Sache (§§ 546, 985 BGB) verlangen. Der Anspruch aus § 546a BGB wegen verspäteter Rückgabe der Mietsache durch den Verwalter ist Masseverbindlichkeit. BGH NJW 2015, 1109, 1117; NJW 2007, 1594, 1595. Die Ausführungen gelten auch für Leasingverträge, wobei für das Finanzierungsleasing Besonderheiten bestehen (§ 108 Abs. 1 S. 2 InsO). Ist der Schuldner mit den Mietzahlungen vor dem Eröffnungsantrag in Verzug geraten, ist es dem Vermieter ab Stellung des Eröffnungsantrags verboten, den Mietvertrag wegen Zahlungsverzugs zu kündigen (§ 112 Nr. 1 InsO). Zweck der Kündigungssperre ist es, dem Insolvenzverwalter die Entscheidungsfreiheit (§ 103 InsO) offen zu halten, ob er die gemietete Sache für die künftige Betriebsfortführung nutzen will. Tritt der Verzug nach dem Eröffnungsantrag ein, unterliegt das Kündigungsrecht keiner Beschränkung. OLG Hamm NZI 2020, 830 Rn. 51.

Beispiel

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Die MODEHAUS GmbH hat bei der Finanzierungsgesellschaft F-AG einen LKW geleast. Zum Zeitpunkt der Stellung des Eröffnungsantrags sind drei Leasingraten offen. Die F-AG kündigt deshalb den Leasingvertrag und verlangt Herausgabe des LKW. Der Verwalter kann die Herausgabe unter Hinweis auf § 112 Nr. 1 InsO verweigern, da der Mietvertrag durch die Kündigung nicht wirksam beendet wurde. Ein Kündigungsrecht der F-AG besteht erst dann, wenn der Insolvenzverwalter mit den Zahlungen in Verzug gerät.

2. Unbewegliche Sachen

278

Bei Mietverhältnissen über Grundstücke steht dem Verwalter kein Wahlrecht zu, da § 103 InsO durch § 108 InsO verdrängt wird. BGH NZI 2019, 731 Rn. 8; NJW 2015, 1109, 111; NJW 2014, 2585. Nach § 108 Abs. 1 S. 1 InsO bestehen (noch nicht gekündigte) Mietverhältnisse des Schuldners über unbewegliche Gegenstände nach Insolvenzeröffnung weiter fort, unabhängig davon, ob der Schuldner in der Rolle des Vermieters oder Mieters ist. Vgl. nur BGH NZI 2016, 484 Rn. 15. War das Mietverhältnis bereits vor Insolvenzeröffnung (durch Kündigung oder Aufhebungsvertrag) beendet, hat der Vermieter einen Aussonderungsanspruch (§§ 985, 546 BGB), der auf Einräumung des unmittelbaren Besitzes gerichtet ist. Der (zusätzliche) Räumungsanspruch des Vermieters nach § 546 BGB, der den insolventen Mieter zur Entfernung der eingebrachten Gegenstände und Einrichtungen sowie zur Beseitigung von Schäden verpflichtet, ist grundsätzlich einfache Insolvenzforderung i.S.v. § 38 InsO, die mit ihrem Schätzwert anzumelden ist. BGH NZI 2020, 995 Rn. 10; NZI 2019, 536 Rn. 36.

a) Vermieterinsolvenz

279

Ist der insolvente Schuldner Vermieter eines Grundstücks, besteht das Mietverhältnis in der Insolvenz nach § 108 Abs. 1 S. 1 InsO weiter fort, vorausgesetzt dem Mieter war der Besitz an der Mietsache bereits überlassen (andernfalls gilt § 103 InsO). BGH NJW 2015, 627, 629 f.; NJW 2015, 162. Der Verwalter muss dem Mieter die Mietsache weiter zum Gebrauch überlassen und die vereinbarten Nebenpflichten erfüllen (Sicherstellung von Heizung und Energie); im Gegenzug fließt der Mietzins als Neuerwerb des Schuldners (§ 35 Abs. 1 Fall 2 InsO) in die Masse. BGH NZI 2016, 484 Rn. 15. Die Ansprüche des Mieters vor Insolvenzeröffnung sind einfache Insolvenzforderungen (§ 108 Abs. 3 InsO).

280

Hat der Schuldner seine Ansprüche auf Zahlung des künftigen Mietzinses vor Insolvenzeröffnung an einen Dritten abgetreten (oder sind diese gepfändet oder verpfändet), wird § 91 Abs. 1 InsO durch § 110 Abs. 1 InsO geringfügig modifiziert. BGH NJW 2013, 2429, 2432; Becker Insolvenzrecht § 7 Rn. 33. Die Verfügung ist nach § 110 Abs. 1 S. 1 InsO insofern wirksam, als sie sich auf die Miete für den zur Zeit der Eröffnung des Verfahrens laufenden Kalendermonat bezieht. Erfolgt die Eröffnung nach dem 15. eines Kalendermonats gilt sie auch für den folgenden Kalendermonat (§ 110 Abs. 1 S. 2 InsO).

b) Mieterinsolvenz

aa) Allgemeine Grundsätze

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Ist der insolvente Schuldner Mieter einer Immobilie, besteht das Mietverhältnis mit Wirkung für die Insolvenzmasse weiter fort (§ 108 Abs. 1 S. 1 InsO). Die Ansprüche des Vermieters gegen den Insolvenzverwalter auf Mietzinszahlung sind ab Insolvenzeröffnung Masseverbindlichkeiten (§ 108 Abs. 1 S. 1 i.V.m. § 55 Abs. 1 Nr. 2 Fall 2 InsO). BGH NZI 2021, 431 Rn. 2; NJW 2015, 1109, 1112; NJW 2015, 627, 628; NJW 2015, 162. Ansprüche für die Zeit vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens kann der Vermieter dagegen nur als Insolvenzforderungen geltend machen (§ 108 Abs. 3 InsO). BGH NZI 2021, 431 Rn. 2; NJW 2015, 1109, 1112. Für rückständigen Mietzins des Schuldners vor Verfahrenseröffnung gewährt das Vermieterpfandrecht ein Absonderungsrecht an den eingebrachten Sachen des Mieters; dieses ist allerdings auf die letzten 12 Monate vor Eröffnung begrenzt (§ 50 Abs. 2 S. 1 InsO).

bb) Sonderkündigungsrecht des Insolvenzverwalters

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Hinweis

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Das Sonderkündigungsrecht des Verwalters stellt eine wichtige Erleichterung in der Insolvenz dar. Lesen Sie daher § 109 Abs. 1 InsO vollständig durch.

§ 109 Abs. 1 InsO räumt dem Insolvenzverwalter in der Mieterinsolvenz ein Sonderkündigungsrecht ein. Damit kann er unrentable Mietverhältnisse (schnell) beenden und die Masse entlasten. Voraussetzung ist, dass das Mitobjekt bereits überlassen war (sonst gilt § 109 Abs. 2 InsO) und es sich nicht um Wohnraum des Schuldners handelt. Das Kündigungsrecht besteht auch dann, wenn es vertraglich ausgeschlossen wurde. Die Kündigungsfrist beträgt drei Monate zum Monatsende, außer im Mietvertrag ist eine kürzere Frist vorgesehen (§ 109 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 InsO). Da die Norm keinen Zeitpunkt für die Ausübung des Sonderkündigungsrechts vorsieht, kann der Insolvenzverwalter daher jederzeit während des Insolvenzverfahrens kündigen. BeckOK InsR/Berberich InsO § 109 Rn. 15; Vogel NZI 2018, 588, 595. Alternativ kann der Insolvenzverwalter die selbstständige Tätigkeit des Schuldners (sofort) freigeben (§ 35 Abs. 2 InsO), wodurch das Mietverhältnis auf den Schuldner übergeleitet wird. HambKomm-InsR/Pohlmann-Weide InsO § 109 Rn. 6.

283

Mit der Kündigung endet das Mietverhältnis. Die Schadensersatzansprüche des Vermieters wegen der vorzeitigen Beendigung des Mietvertrags (Mietausfall) sind einfache Insolvenzforderungen (§ 109 Abs. 1 S. 3 InsO). Hat der Mieter dem Vermieter ein Sparbuch verpfändet, ist der Vermieter zur abgesonderten Befriedigung gem. § 50 Abs. 1 InsO auch in Bezug auf die Schadensersatzansprüche aus § 109 Abs. 1 S. 3 InsO berechtigt. BGH NZI 2022, 374 Rn. 5 ff. Aufgrund der Beendigung des Mietvertrags steht dem Vermieter ein Anspruch auf Herausgabe des Mietobjekts, also die Einräumung des unmittelbaren Besitzes, zu (§ 47 InsO i.V.m. §§ 985, 546 BGB). Eine über die Herausgabe hinausgehende Räumungspflicht (§ 546 BGB) besteht grundsätzlich nicht. Waren Gegenstände bereits vor der Verfahrenseröffnung auf dem Grundstück gelagert, handelt es sich bei der Räumungspflicht um eine bloße Insolvenzforderung (§ 38 InsO). BGH NZI 2020, 995 Rn. 11; NZI 2019, 536 Rn. 39. Wurden erst nach der Eröffnung nachteilige Veränderungen vorgenommen, handelt es sich bei der Räumungspflicht um eine Masseverbindlichkeit. Die Entfernung eines Teils der vor Eröffnung eingebrachten Gegenstände durch den Insolvenzverwalter führt nach Ansicht des BGH nicht dazu, dass die Räumung der restlichen Gegenstände zur Masseverbindlichkeit wird. BGH NZI 2020, 995 Rn. 17, 23 Das ermöglicht dem Insolvenzverwalter ein „Rosinenpicken“, indem er wertvolle Sachen räumt (mitnimmt) und wertlose Sachen auf dem Grundstück belässt. Vgl. Cymutta NZI 2020, 997 f. (Anm. zu BGH NZI 2020, 995).

284

Eine Besonderheit gilt, wenn der Vermieter zugleich Gesellschafter des Schuldners ist. Hier ist § 135 Abs. 3 S. 1 InsO vorrangig, wenn der Mietvertrag durch wirksame Kündigung vor oder nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens beendet wurde. Der Aussonderungsanspruch (§ 47 InsO) kann während der Dauer des Insolvenzverfahrens, höchstens aber für ein Jahr ab Insolvenzeröffnung, nicht geltend gemacht werden, sofern das Objekt für die Unternehmensfortführung von erheblicher Bedeutung ist. Der Gesellschafter muss dem Insolvenzverwalter das Grundstück zur Verfügung stellen. Er erhält als Ausgleich den durchschnittlichen Mietzins, der im letzten Jahr vor Insolvenzeröffnung erzielt wurde (§ 135 Abs. 3 S. 2 InsO). Lehrreich BGH NJW 2015, 1109, 1115.

cc) Enthaftungserklärung

285

Ist Gegenstand des Mietverhältnisses die Wohnung des Schuldners, ist dem Insolvenzverwalter eine Kündigung nach § 109 Abs. 1 S. 1 InsO verwehrt, Vgl. BGH NZI 2018, 668 Rn. 20. um den Schuldner vor Obdachlosigkeit zu schützen. BGH NZI 2017, 444 Rn. 8; Foerste Insolvenzrecht Rn. 272. Andererseits muss vermieden werden, dass durch den Gebrauch einer „Luxuswohnung“ weiterhin Masseverbindlichkeiten entstehen. Der Insolvenzverwalter kann daher gem. § 109 Abs. 1 S. 2 InsO eine sog. Enthaftungserklärung abgeben. Die Enthaftungserklärung (Freigabe) bewirkt, dass das Mietverhältnis zu Lasten der Insolvenzmasse nur noch bis zum Ablauf der Kündigungsfrist fortbesteht. Danach wird das Mietverhältnis von der Masse auf den Schuldner übergeleitet, so dass er die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über die Mietsache in vollem Umfang zurückerlangt. BGH NZI 2022, 519 Rn. 30; NZI 2017, 444 Rn. 9; NZI 2014, 614 Rn. 14. Auch die Mietkaution wird „frei“ und ist insolvenzfreies Vermögen.

dd) Kündigungssperre zu Lasten des Vermieters

286

Das Sonderkündigungsrecht des § 109 Abs. 1 S. 1 InsO gilt nur für den Insolvenzverwalter. Der Vermieter muss die allgemeinen BGB-Regelungen befolgen. Allerdings schließt § 112 Nr. 1 InsO eine Verzugskündigung des Vermieters (vgl. § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BGB) für Mietrückstände, die sich vor dem Zeitpunkt des Eröffnungsantrags angesammelt haben, aus. Damit kann der Insolvenzverwalter die Mietsache zur Betriebsfortführung weiter nutzen, ohne eine Räumungsklage des Vermieters befürchten zu müssen. Ein Verstoß gegen § 112 Nr. 1 InsO hat die Nichtigkeit der Kündigung zur Folge. OLG Hamm NZI 2020, 322 Rn. 29. Der durch § 112 Nr. 1 InsO aufgebaute Schutzwall darf auch nicht durch Lösungsklauseln (§ 119 InsO) unterlaufen werden. Nutzt der (vorläufige) Insolvenzverwalter die Mietsache nach dem Eröffnungsantrag weiter und kommt er mit den Mietzahlungen selbst in Verzug, kann sich der Vermieter wieder uneingeschränkt auf die Regelung des § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 BGB berufen und den Mietvertrag fristlos kündigen. Foerste Insolvenzrecht Rn. 273; vgl. auch BGH NJW 2002, 3326, 3330.

VIII. Arbeitsverträge

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Bei Unternehmensinsolvenzen ist die Gruppe der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zahlenmäßig am stärksten betroffen. Die InsO enthält kein eigenes Insolvenzarbeitsrecht. Nur punktuell finden sich Regelungen zum individuellen und kollektiven Arbeitsrecht. Es gilt § 80 Abs. 1 InsO – der Insolvenzverwalter tritt mit Insolvenzeröffnung in die Rechte und Pflichten des Schuldners als Arbeitgeber ein.

1. Fortbestehen der Arbeitsverhältnisse und Lohnansprüche

288

Nach § 108 Abs. 1 InsO, der lex specialis zu § 103 InsO ist, bestehen Arbeitsverhältnisse („Dienstverträge“) auch über die Eröffnung des Insolvenzverfahrens hinaus mit Wirkung für die Masse fort. BAG NZI 2021, 446 Rn. 4. Die vereinbarten Bedingungen gelten weiter (§ 108 Abs. 1 InsO). Arbeitnehmer (und Geschäftsführer) sind zur Erbringung ihrer vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung verpflichtet. Die Entgeltansprüche sind für den Zeitraum nach Insolvenzeröffnung Masseverbindlichkeiten gem. § 55 Abs. 1 Nr. 2 Fall 2 InsO. BAG NZI 2013, 357, 358; (für Geschäftsführer) Brete/Thomsen NZI 2020, 1028, 1029 f. Dies gilt auch im Fall der Freistellung, wenn Ansprüche aus Annahmeverzug (§ 615 S. 1 BGB) bestehen. BAG NZI 2019, 130 Rn. 27 f. Offene Lohnansprüche vor Insolvenzeröffnung sind dagegen einfache Insolvenzforderungen (§§ 108 Abs. 3, 38 InsO). BAG NZA 2005, 408, 409; Foerste Insolvenzrecht Rn. 274. Lohnansprüche in den letzten drei Monaten vor Verfahrenseröffnung sind durch das Insolvenzgeld (§§ 165 ff. SGB III) abgefedert. Kündigt der Verwalter den Arbeitsvertrag nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens, sind die Schadensersatzansprüche der Arbeitnehmer und Geschäftsführer wegen einer verfrühten Beendigung bloße Insolvenzforderungen (§ 113 S. 3 InsO). BAG NZI 2016, 175 Rn. 39, 44 f.; OLG Celle NZI 2018, 946.

Lohnansprüche

2. Kündigung

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Das Arbeitsverhältnis kann während des Insolvenzverfahrens mit verkürzter Frist gekündigt werden (§ 113 S. 2 InsO). Da der Insolvenzverwalter Partei kraft Amtes ist, muss die Kündigungsschutzklage (§ 4 KSchG) gegen ihn und nicht gegen den Schuldner erhoben werden. Wird fälschlicherweise der Schuldner verklagt, ist eine Berichtigung des Rubrums nur ausnahmsweise möglich. BAG NZI 2007, 182, 183 mit Beispielen.

a) Besondere Kündigungsfrist

290

Hinweis

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Lesen Sie § 113 InsO und machen Sie sich mit dem Sonderkündigungsrecht des Verwalters vertraut.

In § 113 S. 1 InsO ist geregelt, dass ein Arbeitsverhältnis (Dienstverhältnis) sowohl vom Insolvenzverwalter als auch vom Arbeitnehmer ohne Rücksicht auf eine vereinbarte Vertragsdauer gekündigt werden kann. Das Kündigungsrecht aus § 113 S. 1 InsO ist zwingendes Recht. Es kann nicht durch einzelvertragliche oder tarifvertragliche Vereinbarungen ausgeschlossen werden. BAG NZI 2019, 818 Rn. 23. Nach § 113 S. 2 InsO beträgt die Kündigungsfrist drei Monate (zum Monatsende). Die allgemeinen Kündigungsfristen (§ 622 BGB, Tarifvertrag, Einzelarbeitsvertrag) gelten nicht, außer sie sehen kürzere Fristen als die Drei-Monats-Frist vor. Auch tariflich unkündbare oder befristete Arbeitsverhältnisse, bei denen die ordentliche Kündigung ausgeschlossen ist, können mit dieser kurzen Frist gekündigt werden. BAG NJW 2001, 317 f. Dies erleichtert den Personalabbau und schützt die Masse vor einer übermäßigen Belastung mit Personalkosten. Wurde einem Arbeitnehmer bereits vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens (mit einer langen Kündigungsfrist) gekündigt, kann der Insolvenzverwalter mit der Drei-Monats-Frist des § 113 S. 2 InsO nachkündigen. Ascheid/Preis/Schmidt/Künzl Kündigungsrecht 2. Teil InsO § 113 Rn. 10.

Expertentipp

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§ 113 InsO schafft nach einhelliger Auffassung keinen materiellen Kündigungsgrund, sondern modifiziert lediglich die allgemeinen arbeitsrechtlichen Kündigungsfristen.

b) Allgemeiner Kündigungsschutz

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Im Übrigen gelten die allgemeinen Regelungen zur Kündigung. Der Betriebsrat ist vor jeder Kündigung zu hören (§ 102 Abs. 1 BetrVG). Die Kündigung bedarf (auch bei Massenkündigungen) der Schriftform (§ 623 BGB). Sind mehr als 10 Arbeitnehmer im Betrieb beschäftigt, gilt das Kündigungsschutzgesetz (§ 23 Abs. 1 S. 3 KSchG). Eine Kündigung ist nur möglich, wenn die Kündigung sozial gerechtfertigt ist (§§ 1 ff. KSchG), wobei die Insolvenz als solche kein Kündigungsgrund ist (Umkehrschluss aus § 113 InsO).[5]BAG DB 2013, 1365; NZA 2007, 387, 389; Jauernig/Berger/Thole Insolvenzrecht § 19 Rn. 41. Der Insolvenzverwalter kann das Arbeitsverhältnis daher nur aus verhaltens-, personen- oder betriebsbedingten Gründen kündigen (§ 1 Abs. 2 S. 1 KSchG), sofern es länger als sechs Monate bestanden hat (§ 1 Abs. 1 KSchG). In der Praxis überwiegen betriebsbedingte Kündigungen. Vgl. ErfK/Müller-Glögge InsO § 113 Rn. 9. Beispiel ist die Stilllegung des gesamten Flugbetriebs der insolventen Fluggesellschaft Air Berlin. Vgl. BAG BeckRS 2020, 10022 Rn. 89 ff. Eine betriebsbedingte Kündigung ist nur wirksam, wenn die (Teil-)Betriebsstilllegung bereits durchgeführt wurde oder der Insolvenzverwalter zum Zeitpunkt der Kündigung den ernsthaften und endgültigen Entschluss gefasst hat, den Betrieb endgültig stillzulegen und sein Plan bereits greifbare Formen angenommen hat. BAG BeckRS 2020, 10022 Rn. 90 f.; NZG 2016, 35 Rn. 53. Beschließt die Gläubigerversammlung entgegen einer beabsichtigten Stilllegung eine Betriebsfortführung, scheidet der Ausspruch einer betriebsbedingten Kündigung aus. Schmidt NZI 2021, 314, 315. Gleiches gilt, wenn der Insolvenzverwalter noch in ernsthaften Verhandlungen über eine Betriebsveräußerung steht, da es insoweit an einem endgültigen Beschluss zur Betriebsstilllegung fehlt. BAG BeckRS 2020, 10022 Rn. 91; NZG 2016, 35 Rn. 52. Ist eine Stilllegung erfolgt, wird der Betrieb aber bei laufender Kündigungsfrist von einem Dritten übernommen, besteht ein Anspruch auf Wiedereinstellung. ArbG Düsseldorf NZI 2021, 332 Rn. 47. Nach Ablauf der Kündigungsfrist ist der Anspruch ausgeschlossen.

292

Sind nur einzelne Arbeitsplätze von der Betriebsschließung betroffen, ist die betriebsbedingte Kündigung nur wirksam, wenn sie auf einer korrekten Sozialauswahl beruht (§ 1 Abs. 3 KSchG). Einzubeziehen sind alle vergleichbaren Arbeitsplätze im Betrieb (nicht im Unternehmen). Bei der Auswahl sind Alter, Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten und Schwerbehinderung – durch eine Punktetabelle – zu gewichten. Neben dem allgemeinen Kündigungsschutz ist zudem der besondere Kündigungsschutz für Schwangere (§ 17 MuSchG), für Mütter und Väter in Elternzeit (§ 18 Abs. 1 BEEG), für schwerbehinderte Arbeitnehmer (§§ 168, 172 Abs. 3 SGB IX) sowie für Betriebsratsmitglieder (§ 15 KSchG) zu beachten. BeckOK ArbR/Plössner InsO § 113 Rn. 25. Kann der erhöhte Bestandsschutz wegen der Besonderheit in der Insolvenz (Betriebsstilllegung) nicht aufrechterhalten werden, da der Arbeitsplatz entfällt, muss die Beendigung des Arbeitsvertrags über das jeweilige Verfahren erfolgen (z.B. § 15 Abs. 4 KSchG, §§ 168, 172 Abs. 3 ff. SGB IX, § 17 Abs. 2 S. 1 MuSchG, § 18 Abs. 1 S. 4 BEEG). Bei einem schwerbehinderten Arbeitnehmer muss das Integrationsamt unter den Voraussetzungen des § 172 Abs. 3 SGB IX seine Zustimmung zur betriebsbedingten Kündigung erteilen; § 166 Abs. 4 S. 1 Nr. 1 SGB IX gibt dem schwerbehinderten Menschen keine Beschäftigungsgarantie. BAG NZI 2019, 818 Rn. 36 ff.

c) Massenentlassungen

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Bei Massenentlassungen hat der Insolvenzverwalter das Verfahren nach § 17 KSchG (Anzeigepflicht und Konsultationsverfahren) zu beachten. Der Betriebsbegriff ist im Massenentlassungsrecht ausschließlich unionsrechtlich zu bestimmen. BAG BeckRS 2020, 10022 Rn. 115, 148; BeckRS 2020, 17144; Krings NJW 2020, 2765. Die Anzeige ist an die für den Betriebssitz (nicht Unternehmenssitz) örtlich zuständige Agentur für Arbeit zu richten. Für Großunternehmen mit Filialnetz besteht die Möglichkeit der Sammelanzeige. Vgl. BAG BeckRS 2020, 10022 Rn. 126. Der Insolvenzverwalter muss neben dem Betriebsrat die Bundesagentur für Arbeit (§ 17 Abs. 1 KSchG) informieren. Die Anzeigepflicht hängt von der Mindestanzahl der gekündigten Arbeitnehmer und der Betriebsgröße ab. Sie hat dann zu erfolgen (§ 17 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 KSchG), wenn der Verwalter innerhalb von 30 Tagen mehr als 5 Arbeitnehmer entlässt (in Betrieben zwischen 20 und 59 Mitarbeitern) bzw. mehr als 25 (in Betrieben zwischen 60 und 499 Mitarbeitern) bzw. mehr als 30 (in Betrieben mit mindestens 500 Mitarbeitern). Der Anzeige ist eine Stellungnahme des Betriebsrats beizufügen (§ 17 Abs. 3 KSchG). BAG BeckRS 2020, 10022 Rn. 136; NJW 2006, 3161, 3162. Liegt bereits ein Interessenausgleich vor, ersetzt dieser die Stellungnahme (§ 125 Abs. 2 InsO). Fehler bei Massenentlassungsanzeigen führen zur Nichtigkeit der Kündigungen (§ 134 BGB). BAG BeckRS 2020, 10022 Rn. 121, 134 f. Für Arbeitnehmer ist die Berufung auf eine fehlerhafte Anzeige oftmals die einzige Chance, die durch den Insolvenzverwalter ausgesprochene Kündigung anzugreifen (z.B. Air Berlin). Kortmann NJW-Spezial 2020, 533.

d) Interessenausgleich

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Hinweis

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Hier müssen Sie § 111 BetrVG und §§ 122, 125 InsO parallel lesen.

Bei Betriebsänderungen (Betriebsstilllegung, Teilbetriebsstilllegung, Personalabbau mit den Schwellenwerten des § 17 Abs. 1 KSchG Vgl. BAG NZI 2019, 818 Rn. 29.) sind die Beteiligungsrechte des § 111 BetrVG zu beachten. In Betrieben mit mehr als 20 Arbeitnehmern muss der Insolvenzverwalter mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich durchführen (§ 111 Abs. 1 S. 1 BetrVG). Zunächst muss der Insolvenzverwalter den Betriebsrat rechtzeitig und umfassend von der Betriebsänderung unterrichten. Unterlässt er jegliche Verhandlungen mit dem Betriebsrat und entstehen den Arbeitnehmern durch die Betriebsänderung wirtschaftliche Nachteile, gewährt § 113 Abs. 3 BetrVG den Betroffenen einen Nachteilsausgleich (i.d.R. Abfindung). Die Verhandlungspflicht besteht sogar, wenn es zur Betriebsstilllegung keine sinnvolle Alternative gibt. BAG NZI 2018, 278 Rn. 31. Bei einer Entlassung wird eine Abfindung von 0,5 Monatsverdiensten pro Beschäftigungsjahr als angemessen angesehen. BAG NZI 2018, 278 Rn. 38. Der Nachteilsausgleich ist Masseverbindlichkeit (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 Alt. 1 InsO), wenn die Betriebsänderung nach Insolvenzeröffnung durchgeführt wird. Nach der InsO ist das Verfahren beschleunigt; der Verwalter kann bereits nach drei Wochen Verhandlungsdauer beim Insolvenzgericht die Zustimmung zur Betriebsänderung beantragen (§ 122 Abs. 1 S. 1 InsO). In diesem Fall kann das Gericht die Betriebsänderung unter Verzicht auf das Verfahren nach § 112 Abs. 2 BetrVG (Vermittlungsversuch mit der Bundesagentur, Einigungsversuch mit der Einigungsstelle) erlauben (§ 122 Abs. 1 S. 1 InsO).

295

Durch § 125 InsO wird der Kündigungsschutz der Arbeitnehmer eingeschränkt, um dem Insolvenzverwalter den Personalabbau zu erleichtern. Legen sich Insolvenzverwalter und Betriebsrat im Interessenausgleich (unter Einhaltung der Schriftform) auf die Namen der zu entlassenden Mitarbeiter fest (sog. Interessenausgleich mit Namensliste), wird nach § 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 InsO vermutet, dass die Kündigung der Mitarbeiter aus dringenden betrieblichen Erfordernissen erfolgt. Der Arbeitnehmer muss den vollen Gegenbeweis führen und beweisen, dass der im Interessenausgleich angegebene betriebliche Grund in Wahrheit nicht besteht. BAG NZI 2019, 818 Rn. 30; NZA 2013, 559, 561 f. Auch die soziale Auswahl und die Bildung der Auswahlgruppen darf vom Arbeitsgericht nur auf grobe Fehler überprüft werden (§ 125 Abs. 1 Nr. 2 InsO). Ein grober Fehler liegt vor, wenn die drei Auswahlkriterien des § 125 InsO (Alter, Betriebszugehörigkeit, Unterhaltspflichten) absolut willkürlich gewichtet wurden. BAG NZI 2013, 53 f.; NZA 2007, 387, 390. Die Auswahl ist hinzunehmen, wenn mit ihr erstmals eine ausgewogenen Personalstruktur geschaffen wird, wie z.B. die Verjüngung der Belegschaft (§ 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Hs. 2 InsO). Hat der Betrieb keinen Betriebsrat, hilft § 126 InsO. Danach kann der Insolvenzverwalter vom Arbeitsgericht feststellen lassen, dass die Kündigung aus dringenden betrieblichen Gründen erfolgt.

Beispiel

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Die MODEHAUS GmbH hat 50 Mitarbeitende. Der Betriebsrat legt sich mit dem Insolvenzverwalter in einem Interessenausgleich auf 20 namentlich genannte Mitarbeitende fest, die entlassen werden sollen. Erheben die 20 Mitarbeitenden beim zuständigen Arbeitsgericht Kündigungsschutzklage, müssen die (nach der Geschäftsverteilung zuständigen) Arbeitsrichter den Kündigungsgrund „betriebsbedingte Kündigung“ akzeptieren, außer die Mitarbeitenden können den Gegenbeweis führen, dass das Insolvenzverfahren nicht zum Wegfall ihres Arbeitsplatzes führt. Die Sozialauswahl kann das Arbeitsgericht nur auf grobe Fehler überprüfen (§ 125 Abs. 1 InsO). Das wäre etwa der Fall, wenn die Dauer der Betriebszugehörigkeit keine Berücksichtigung gefunden hätte.

e) Sozialplan

296

Scheitern die Verhandlungen zwischen Betriebsrat und Insolvenzverwalter über einen Interessenausgleich und hat das Gericht erlaubt, auf das Verfahren nach § 112 Abs. 2 BetrVG zu verzichten, kann der Betriebsrat anschließend einen Sozialplan erzwingen (§ 112 Abs. 4 BetrVG). Besteht die Betriebsänderung in einem bloßen Personalabbau (keine Stilllegung etc.) ist ein Sozialplan nur erzwingbar, wenn die Schwellenwerte des § 112a BetrVG (unterscheiden sich von den Schwellenwerten des § 17 KSchG) erreicht werden. Vgl. BeckOK ArbR/Plössner InsO § 123 Rn. 7. Der Sozialplan soll die wirtschaftlichen Nachteile ausgleichen bzw. mildern (vgl. § 123 Abs. 1 InsO, § 112 Abs. 1 S. 2 BetrVG). Er kann beispielsweise Abfindungszahlungen, Zuschüsse zur Umschulung, Fortbildungsmaßnahmen, Unterstützung einer Transfergesellschaft nebst Transferkurzarbeitergeld enthalten (§ 112 Abs. 5 S. 2 Nr. 2a BetrVG). Foerste Insolvenzrecht Rn. 281. Kommt eine Einigung nicht zustande, entscheidet die Einigungsstelle (§ 112 Abs. 4 BetrVG) anstelle von Insolvenzverwalter und Betriebsrat. Die Einigungsstelle muss dabei sowohl die Interessen der Arbeitnehmer als auch die Belange der Masse berücksichtigen (§ 112 Abs. 5 BetrVG).

297

Ist der Sozialplan nach Verfahrenseröffnung aufgestellt worden, sind die Sozialplanansprüche Masseverbindlichkeiten (§ 123 Abs. 2 S. 1 InsO). Zum Schutz der Insolvenzmasse wird das Sozialplanvolumen durch absolute und relative Obergrenzen gedeckelt. Der Sozialplan darf als absolute Obergrenze ein Gesamtvolumen von 2,5 Monatsverdiensten der von der Entlassung betroffenen Mitarbeiter umfassen (§ 123 Abs. 1 InsO). Zudem darf für den Sozialplan nicht mehr als ein Drittel der Masse verwendet werden (§ 123 Abs. 2 S. 2 InsO). Diese relative Obergrenze bereitet in der Praxis Schwierigkeiten, da regelmäßig erst im Schlusstermin (§ 197 InsO) feststeht, wie groß die Insolvenzmasse ist. BeckOK ArbR/Plössner InsO § 123 Rn. 12. Notfalls müssen die Ansprüche bei der Auszahlung anteilig gekürzt werden (§ 123 Abs. 2 S. 3 InsO). Zudem sind die Arbeitnehmer Massegläubiger „zweiter Klasse“. Sie dürfen wegen ihrer Forderungen nicht in die Masse vollstrecken (§ 123 Abs. 3 S. 2 InsO). Wurde ein Sozialplan in den letzten drei Monaten vor Insolvenzeröffnung aufgestellt, kann dieser widerrufen werden (§ 124 Abs. 1 InsO). Grund ist, dass sich die Rahmenbedingungen in Insolvenznähe zumeist deutlich verschlechtern.

f) Betriebsübergang (§ 613a BGB)

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Gelingt es dem Insolvenzverwalter, das Unternehmen des Schuldners an einen Investor zu verkaufen, gehen die bestehenden Arbeitsverhältnisse kraft Gesetzes zu unveränderten Bedingungen auf den Erwerber über (§ 613a Abs. 1 S. 1 BGB = Betriebsübergang). Zu den Voraussetzungen lehrbuchhaft ArbG Düsseldorf NZI 2021, 332 Rn. 30 ff. Auch im Fall der Insolvenz ist der Betriebsbegriff unionsrechtlich zu bestimmen. Vgl. BAG BeckRS 2020, 10022 Rn. 57 ff. (Air Berlin). Häufig ist der Erwerber nicht bereit, sämtliche Arbeitsverhältnisse (vor allem mit älteren Mitarbeitenden) zu übernehmen. Hier bietet das Arbeits- und Insolvenzrecht dem Erwerber Gestaltungsmöglichkeiten, den Übergang des (gesamten) Personals zu verhindern. So kann sich der Investor auf den Erwerb einzelner Betriebsteile beschränken, da nur die jeweils zugehörigen Arbeitsverhältnisse übergehen. Zudem besteht die Möglichkeit, bereits vor dem Betriebsübergang einen Personalabbau im Zusammenwirken mit dem Insolvenzverwalter durchzuführen, indem der Erwerber eine Namensliste vorlegt, welche Arbeitnehmer (nicht) benötigt werden. Dann kündigt der Verwalter entsprechend dem Vorschlag (sog. Veräußererkündigung aufgrund Erwerberkonzepts). BeckOK ArbR/Gussen BGB § 613a Rn. 116. Nach der Rechtsprechung des BAG liegt hierin kein Verstoß gegen § 613a Abs. 4 BGB, wenn die Kündigung auf einem Sanierungskonzept beruht und keine Beschäftigungsmöglichkeit beim Erwerber besteht. BAG NZA 2007, 387, 389; NJW 2003, 3506 f. Zudem hilft die Vermutungsregel des § 128 Abs. 2 InsO. Kommt es zwischen Insolvenzverwalter und Betriebsrat zu einem Interessenausgleich mit Namensliste (§ 125 Abs. 1 InsO), wird vermutet, dass die Kündigungen nicht anlässlich des Betriebsübergangs erfolgen. Das Kündigungsrecht der gelisteten Arbeitnehmer ist zudem beschränkt. So begründet die Namensliste eine gesetzliche Vermutung, dass ein betriebsbedingter Grund gegeben ist (§ 125 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 InsO).

299

Dem Erwerber werden weitere Erleichterungen geboten. Nach der Rechtsprechung des BAG muss der Erwerber nicht für rückständige Lohnansprüche vor Insolvenzeröffnung haften. Andernfalls ließe sich nur schwer ein Erwerber finden, der einen angemessenen Kaufpreis für das Unternehmen zahlt. Der Erwerber ist daher nur für die nach Eröffnung entstandenen Verbindlichkeiten verantwortlich. BAG NJW 2004, 1972, 1973; Foerste Insolvenzrecht Rn. 484. § 613a Abs. 1 S. 1 BGB wird insoweit teleologisch reduziert. Nach allgemeiner Ansicht findet die Haftungsnorm des § 25 Abs. 1 S. 1 HGB bei einem Verkauf des Handelsgeschäfts durch den Insolvenzverwalter keine Anwendung, so dass der Erwerber das Unternehmen unter der alten Firma insoweit risikolos weiterführen kann. BGH NZI 2020, 285 Rn. 9 f.; BAG NJW 2007, 942 f.; Oetker/Vossler HGB § 25 Rn. 21. Der Erwerber haftet auch nicht für alte Steuerschulden (§ 75 Abs. 2 AO).

300

Trotzdem bleibt die Kündigung einer Vielzahl von Mitarbeitenden auch in der Insolvenz ein Vabanquespiel. Hat ein Betrieb 1000 Mitarbeitende und erheben 400 entlassene Mitarbeitende Kündigungsschutzklage, bedeutet das ein erhebliches Kostenrisiko für die Masse. Um Kündigungen zu vermeiden, werden häufig sog. Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaften (BQG) eingesetzt. Foerste Insolvenzrecht Rn. 483; Hoffmann/Marquardt NZI 2017, 513, 514 f. Statt Kündigungen auszusprechen, bietet der Insolvenzverwalter den Arbeitnehmern Aufhebungsverträge an (§§ 311 Abs. 1, 623 BGB). Parallel dazu bietet die Transfergesellschaft neue (maximal auf ein Jahr befristete) Arbeitsverträge an. Das stellt keinen Betriebsübergang (§ 613a BGB) dar, da die BQG keine Betriebsmittel des Schuldners übernimmt. Kommt es zum (dreiseitigen) Vertragsschluss, muss der Insolvenzverwalter keine Kündigungsschutzklagen befürchten. Derartige Lösungen werden zumeist in einem Interessenausgleich oder in einem Sozialplan verhandelt (vgl. § 112 Abs. 1 S. 1 BetrVG).

C. Auswirkungen auf Prozesse

I. Allgemeines

301

Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens geht die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis (§ 80 Abs. 1 InsO), zu der auch die Prozessführungsbefugnis gehört, BGH NZI 2013, 641 Rn. 11; BayOblG NZI 2022, 142 Rn. 19. auf den Insolvenzverwalter über. Die Prozessführungsbefugnis des Schuldners endet, eine erteilte Prozessvollmacht erlischt (§ 117 InsO). BGH NZI 2009, 169 Rn. 14. Ab Verfahrenseröffnung ist ausschließlich der Insolvenzverwalter befugt, massebezogene Rechtstreitigkeiten zu führen. Er handelt als Partei kraft Amtes in gesetzlicher Prozessstandschaft BFH NZI 2020, 582 Rn. 15; Bork Insolvenzrecht Rn. 219. und ist im Rubrum als Partei zu bezeichnen, z.B. „Rechtsanwalt Ingo X. als Insolvenzverwalter der Fa. MODEHAUS GmbH“ oder „Rechtsanwalt Ingo X. als Insolvenzverwalter über das Vermögen der MODEHAUS GmbH“. Eine Klage nach Verfahrenseröffnung, die nur gegen den Schuldner erhoben wird und die Insolvenzmasse betrifft, ist als unzulässig abzuweisen. BayOblG NZI 2022, 142 Rn. 19; OLG Koblenz BeckRS 2014, 1157.

II. Unterbrechung

302

Nach § 240 S. 1 ZPO führt die Insolvenzeröffnung dazu, dass laufende Prozesse, welche die Insolvenzmasse betreffen, kraft Gesetzes unterbrochen werden, gleichgültig in welcher Lage (Instanz) BGH NZI 2021, 669 Rn. 22; NZI 2016, 829 Rn. 4 (Revisionsinstanz). sich der Rechtsstreit befindet. Die Norm dient dem Schutz des Insolvenzverwalters, damit er in Ruhe prüfen kann, ob der Streitgegenstand zur Masse gehört und ob ein Fortführen des Verfahrens sinnvoll ist. BGH NZI 2019, 499 Rn. 27; BVerwG NZI 2018, 718 Rn. 13; Waltenberger NZI 2018, 505. § 240 ZPO erfasst sämtliche Gerichtszweige und sämtliche Klagearten. Unterbrochen werden zivilrechtliche Zahlungsklagen, arbeitsgerichtliche Klagen (§ 46 Abs. 2 ArbGG), BAG NZI 2007, 300, 301; Waltenberger NZI 2018, 505, 509. verwaltungsrechtliche Klagen (§ 173 VwGO), BVerwG NZI 2018, 718 Rn. 14 f.; Waltenberger NZI 2018, 505, 510. finanzgerichtliche Verfahren (§ 155 FGO) BFH NZI 2018, 572 Rn. 10. sowie Einspruchsverfahren vor den Finanzämtern. BFH NJW 2020, 566 Rn. 18 ff. Der unterbrochene Rechtsstreit kann wieder aufgenommen werden. Genauere Vorgaben enthalten §§ 85 bis 87 InsO, die zwischen Aktiv- und Passivprozessen unterscheiden. Für die Qualifizierung ist nicht die formelle Parteirolle des Schuldners (ob Kläger oder Beklagter), sondern das materielle Begehren maßgeblich. BGH NZI 2021, 669 Rn. 12; NZI 2016, 657 Rn. 10. So wird danach unterschieden, ob ein Vermögen in Anspruch genommen wird, das zur Insolvenzmasse gehört und im Falle des Obsiegens die zur Verteilung stehende Masse vergrößern würde (= Aktivprozess) oder ob aus der Masse eine Leistung erbracht werden muss (= Passivprozess). BGH NJW 2018, 697 Rn. 11; BFH NZI 2018, 572 Rn. 11.

III. Verfahrensfortgang bei Aktivprozessen

303

Bei rechtshängigen Aktivprozessen ist zunächst nur der Verwalter berechtigt, den Prozess aufzunehmen (§ 85 Abs. 1 S. 1 InsO). Vgl. BGH NJW 2018, 697 Rn. 10; Foerste Insolvenzrecht Rn. 300. Ihm obliegt es, die Erfolgsaussichten der streitgegenständlichen Klage und ihre Bedeutung für die Masse abzuschätzen. Bei Prozessen mit hohem Streitwert muss er die Zustimmung des Gläubigerausschusses einholen (§ 160 Ab. 2 Nr. 3 InsO). Die Aufnahme erfolgt durch einen Schriftsatz (§ 250 ZPO), den das Gericht der Gegenpartei zustellen muss. Die Aufnahme kann auch konkludent erfolgen, z.B. indem der Insolvenzverwalter die Änderung des Rubrums beantragt. BGH BeckRS 1982, 3107506; Sinz in: Beck'sches Prozessformularbuch Teil III F Anm. 13. Der Rechtsstreit wird in der Lage fortgesetzt, in der er sich zum Zeitpunkt der Unterbrechung befand. Der Insolvenzverwalter kann alle Prozesshandlungen vornehmen (Klagerücknahme, Anerkenntnis, Vergleich, Rechtsmittel einlegen). Gewinnt er den Prozess, kommt der Ertrag in die Masse. Verliert er den Prozess, sind die Prozesskosten für diese Instanz Masseverbindlichkeiten (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO). Näher MüKoInsO/Schumacher InsO § 85 Rn. 19 f. Ggfs. kann der Insolvenzverwalter einen Prozessfinanzierungsvertrag schließen. Vgl. etwa BGH NZI 2022, 279.

Beispiel

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 Die MODEHAUS GmbH hat vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens Klage gegen den Vermieter (V) auf Schadensersatz wegen eines Mietmangels erhoben. Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens unterbricht den Prozess (§ 240 S. 1 ZPO), da der Streit die Insolvenzmasse betrifft. Ab Verfahrenseröffnung steht nur dem Insolvenzverwalter die Prozessführungsbefugnis zu (§ 80 Abs. 1 InsO). Ist die Beweislage eindeutig (die Mietsache ist nach §§ 536, 536a BGB mangelhaft, ein Schaden liegt nachweisbar vor), wird der Insolvenzverwalter den Prozess aufnehmen (§ 85 Abs. 1 S. 1 InsO). Er führt den Prozess als gesetzlicher Prozessstandschafter fort.

304

Lehnt der Insolvenzverwalter die Aufnahme des Prozesses aufgrund des Kostenrisikos ab, beinhaltet dies zugleich die Freigabe des Streitgegenstands, so dass die Prozessführungsbefugnis wieder auf den Schuldner übergeht. BGH NZI 2007, 173, 174; BFH NZI 2018, 572 Rn. 12. In diesem Fall können der Schuldner oder der Prozessgegner den unterbrochenen Prozess aufnehmen (§ 85 Abs. 2 InsO); der Insolvenzverwalter ist in den Rechtsstreit nicht mehr involviert.

IV. Verfahrensfortgang bei Passivprozessen

305

Bei der Aufnahme eines unterbrochenen Passivprozesses ist u.a. danach zu unterscheiden, ob der Prozess eine Insolvenzforderung betrifft oder ob es sich um eine Masseverbindlichkeit oder ein Aus- oder Absonderungsrecht handelt.

1. Insolvenzforderungen

306

Betrifft der Rechtsstreit eine Insolvenzforderung, sind die insolvenzrechtlichen Regeln zur Forderungsfeststellung vorrangig. Ab Eröffnung des Insolvenzverfahrens können Insolvenzgläubiger (§ 38 InsO) den Schuldner nicht mehr auf Zahlung verklagen. Stattdessen müssen sie gem. § 87 InsO ihre Forderungen zur Insolvenztabelle anmelden (§§ 174 ff. InsO). Die Forderungen werden sodann im Prüfungstermin geprüft (§ 176 InsO). Eine Forderung gilt als festgestellt, wenn weder der Insolvenzverwalter noch ein anderer Gläubiger der Forderung widerspricht (§ 178 Abs. 1 S. 1 InsO). Wurde die Forderung vom Insolvenzverwalter oder einem Gläubiger bestritten, muss der Widerspruch dadurch beseitigt werden, dass der Anmeldende eine Feststellungsklage gegen den Bestreitenden erhebt (§§ 179 Abs. 1, 180 Abs. 1 S. 1 InsO). Ist bereits ein Rechtstreit anhängig, kann der Widerspruch nach § 180 Abs. 2 InsO grundsätzlich nur durch Aufnahme des (unterbrochenen) Rechtsstreits beseitigt werden. BGH NZI 2022, 856 Rn. 16; NZI 2021, 669 Rn. 13; NZI 2017, 300 Rn. 8. Liegt bereits ein Vollstreckungstitel vor, erfolgt die Aufnahme nach § 179 Abs. 2 InsO durch den Bestreitenden. BGH NZI 2016, 829 Rn. 3 (Recht des Gläubigers zur Aufnahme bei Unterlassen). Zwingende Voraussetzung für die Aufnahme ist, dass der Insolvenzgläubiger seine Forderung wirksam angemeldet hat und diese geprüft und bestritten worden ist. BGH NZI 2022, 856 Rn. 17; NZI 2021, 669 Rn. 14; NZI 2020, 782 Rn. 10 ff.; NJW 2018, 697 Rn. 14. Der Bestreitende (Verwalter oder Gläubiger) tritt dann in die Parteirolle des Schuldners auf der Passivseite. BGH NJW 2014, 3436, 3437. Rubrum und Klageantrag müssen an die neue Verfahrenssituation angepasst und entsprechend geändert werden. Die Änderung des Klageantrags ist ohne weiteres zulässig (§ 264 Nr. 3 ZPO). BGH NZI 2021, 669 Rn. 15 ff., 21 f. Der neue Antrag lautet: „Es wird festgestellt, dass dem Kläger im Insolvenzverfahren über das Vermögen der MODEHAUS GmbH folgende Insolvenzforderung zusteht: . . .“. Verliert der Insolvenzverwalter den Prozess, sind die Prozesskosten innerhalb dieser Instanz Masseverbindlichkeiten, nicht aber die Kostenerstattungsansprüche für die Vorinstanzen. BGH NZI 2016, 829 Rn. 10 f.

Beispiel

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Lieferantin Lena (L) liefert im März der MODEHAUS GmbH 100 Hemden für 5100 EUR, die den Kaufpreis nicht bezahlt. Im Mai erhebt (L) gegen die GmbH Klage vor dem LG Nürnberg auf Zahlung von 5100 EUR. Der Prozess wird durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens (§ 240 S. 1 ZPO) unterbrochen. (L) muss zunächst ihre Forderung in Höhe von 5100 EUR zur Insolvenztabelle gem. §§ 174 ff. InsO anmelden. Wird die Forderung durch den Insolvenzverwalter bestritten (§ 178 InsO), nimmt die Forderung nicht an der Verteilung teil. Will (L) den Widerspruch beseitigen, muss sie den unterbrochenen Prozess aufnehmen. Erforderlich ist eine Parteiänderung (statt der „MODEHAUS GmbH“ ist „Rechtsanwalt Ingo X. als Verwalter über das Vermögen der MODEHAUS GmbH“ zu verklagen). Zudem ist der ursprüngliche Klageantrag in einen Feststellungsantrag zu ändern.

2. Masseverbindlichkeiten, Aus- und Absonderungsrechte

307

Betrifft der Passivprozess gegen den Schuldner eine Masseverbindlichkeit (§ 86 Abs. 1 Nr. 3 InsO) oder ein Aus- bzw. Absonderungsrecht (§ 86 Abs. 1 Nr. 1, 2 InsO), sind allein der Insolvenzverwalter oder der Verfahrensgegner zur Aufnahme befugt. Hierzu genügt das Einreichen eines Schriftsatzes. Die Prozesskosten (§ 91 ZPO) sind Masseverbindlichkeiten (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 InsO), sofern der Verwalter den Prozess verliert. Der Insolvenzverwalter kann der Kostenlast entgehen, indem er den Anspruch sofort anerkennt (§ 307 ZPO); der Kostenerstattungsanspruch ist dann bloße Insolvenzforderung (§ 86 Abs. 2 InsO). Näher Foerste Insolvenzrecht Rn. 303. Gibt der Insolvenzverwalter den streitbefangenen Gegenstand aus der Masse frei, kann der Schuldner den Prozess aufnehmen. BGH NZI 2016, 657 Rn. 13.

Beispiel

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Arbeitnehmerin Aysal (A) wird betriebsbedingt gekündigt. Sie erhebt fristgerecht Kündigungsschutzklage (§ 4 KSchG) gegen die MODEHAUS GmbH. Mit Insolvenzeröffnung am 1.9. wird der Prozess vor dem Arbeitsgericht Nürnberg unterbrochen (§ 240 S. 1 ZPO i.V.m. § 46 Abs. 2 ArbGG). Aysal (A) kann den Prozess nach § 86 Abs. 1 Nr. 3 InsO jederzeit aufnehmen. Das Rubrum muss entsprechend geändert werden (beklagte Partei ist nun „Insolvenzverwalter Ingo X., handelnd in seiner Eigenschaft als Insolvenzverwalter über das Vermögen der MODEHAUS GmbH“). Aufgrund ihres Rechtsbegehrens ist (A) potenzielle Massegläubigerin. Denn sollte die Kündigung unwirksam sein, wäre ihr Arbeitsverhältnis nicht beendet, sondern würde in der Insolvenz fortbestehen. (A) wäre ab Verfahrenseröffnung Massegläubigerin (§ 55 Abs. 1 Nr. 2 InsO). Im Fall der Aufnahme des Verfahrens könnte der Insolvenzverwalter sofort anerkennen, allerdings müssen die Parteien bei den Arbeitsgerichten ihre Kosten ohnehin selbst tragen (§ 12a Abs. 1 ArbGG).

D. Massebereinigung und Masseverwertung

I. Pflichtenprogramm des Insolvenzverwalters im Überblick

308

Nach § 148 InsO hat der Verwalter die Masse sofort nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens in Besitz zu nehmen und ein Verzeichnis der Massegegenstände (§ 151 InsO) zu erstellen. Das vorgefundene Vermögen (sog. Ist-Masse) ist in der Regel nicht die endgültige Insolvenzmasse, aus der die Gläubiger befriedigt werden (sog. Soll-Masse). Bork Insolvenzrecht Rn. 227; Paulus Insolvenzrecht Rn. 131 f. Daher muss während des Insolvenzverfahrens eine „Massebereinigung“ erfolgen. Vermehrt wird die Ist-Masse durch Forderungseinzug und das Instrument der Insolvenzanfechtung (§§ 129 ff.). Vermindert wird die Ist-Masse durch die Aussonderung von Gegenständen, die nicht zum Schuldnervermögen gehören (§ 47 InsO). Verringert wird die Masse außerdem durch die vorrangige Befriedigung der Massegläubiger (§§ 53 ff. InsO) sowie durch die Absonderung (§§ 49 ff. InsO). Steht nach der Aus- und Absonderung fest, welche Gegenstände tatsächlich zur Insolvenzmasse gehören, muss das Schuldnervermögen nach dem Berichtstermin unverzüglich verwertet, d.h. zu Geld gemacht werden. Das ist bei Unternehmen eine anspruchsvolle Aufgabe und dauert eine gewisse Zeit. Steht am Ende die Soll-Masse fest, werden die Insolvenzgläubiger daraus befriedigt.

II. Forderungseinzug

1. Allgemeines, Prozesskostenhilfe

309

Nach § 80 Abs. 1 InsO erhält der Insolvenzverwalter mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Vermögen des Schuldners. Materiell-rechtlich ist er damit zum Einzug von Forderungen, die der Schuldner gegen Dritte hat, berechtigt. Werden die zur Insolvenzmasse gehörenden Ansprüche nicht freiwillig erfüllt, kann der Insolvenzverwalter, sofern hinreichende Erfolgsaussichten bestehen, Klage erheben. Er ist Partei kraft Amtes, führt also den Rechtsstreit im eigenen Namen und klagt auf Leistung zur Masse. Für Aktivprozesse gilt der Gerichtsstand des § 19a ZPO nach h.M. nicht. BGH NZI 2003, 545; Thomas/Putzo/Hüßtege ZPO § 19a Rn. 1.

310

Da die Erhebung einer Klage teils mit erheblichen Kosten verbunden ist und diese nicht immer aus der verwalteten Vermögensmasse aufgebracht werden können, kann der Insolvenzverwalter unter den Voraussetzungen des § 116 S. 1 Nr. 1 ZPO Prozesskostenhilfe beantragen, was erfordert, dass den Insolvenzgläubigern oder den Massegläubigern (bei Masseunzulänglichkeit) ein Kostenvorschuss nicht zumutbar ist. BGH NZI 2019, 644 Rn. 4; NZI 2018, 862 Rn. 8 f.; NZI 2018, 581 Rn. 7; Hees/Freitag NZI 2017, 377. Zumutbarkeit liegt vor, wenn die Gläubiger die Vorschüsse unschwer aufbringen können und der zu erwartende Mehrertrag, auch unter Berücksichtigung des Prozesskostenrisikos, deutlich größer als der Vorschuss ist. BGH NZI 2022, 216 Rn. 6; NZI 2017, 546 Rn. 2; NZI 2017, 414 Rn. 2. Das wird angenommen, wenn der Mehrertrag mindestens doppelt so hoch wie der Vorschuss ist. Weitere Voraussetzung ist, dass die Rechtsverfolgung nicht mutwillig ist (§ 116 S. 2, 114 Abs. 1 S. 1 ZPO). Selbst bei einer Quotenverbesserung von lediglich 0,5 % liegt keine Mutwilligkeit vor. BGH NZI 2018, 581 Rn. 19 ff. Alternativ zur Prozesskostenhilfe kann der Insolvenzverwalter das Instrument der Prozessfinanzierung nutzen.

2. Ansprüche des Schuldners gegen Vertragspartner und Dritte

311

Da es zu den Kernaufgaben des Insolvenzverwalters gehört, fällige Forderungen des Schuldners einzuziehen (§ 80 Abs. 1 InsO), muss sich der Insolvenzverwalter zunächst einen Überblick verschaffen, welche Forderungen noch offen sind und ob gegebenenfalls Schadensersatzansprüche gegen Dritte bestehen. Informationen bekommt er aus der Buchhaltung, vom Schuldner selbst (§ 97 InsO) sowie von seinen organschaftlichen Vertretern und Angestellten (§ 101 InsO). In der Insolvenz kommen vor allem auch die Geschäftsführer und Gesellschafter als Anspruchsgegner in Betracht, um Ansprüche aus § 15b InsO, § 15a InsO i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB, § 826 BGB, § 19 GmbHG, § 43 GmbHG durchzusetzen. Das Einzugsrecht des Insolvenzverwalters erstreckt sich auch auf Forderungen, an denen Absonderungsrechte (z.B. Globalzession) bestehen (§ 166 Abs. 2 InsO).

Beispiel

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Die MODEHAUS GmbH hat im Mai zwei Abendkleider an ihre Kundin Kenda (K) geliefert; diese schuldet noch den Kaufpreis (Anspruch aus § 433 Abs. 2 BGB). Die MODEHAUS GmbH hat ihrem Gesellschafter Max (M) ein Darlehen über 100 000 EUR gewährt, das noch nicht zurückgezahlt wurde (Anspruch aus § 488 Abs. 1 S. 2 BGB). Die Arbeitnehmer Aris (A) und Boris (B) haben zu viel Weihnachtsgeld erhalten (Anspruch aus § 812 Abs. 1 BGB). Gesellschafter Fred (F) hat seine Stammeinlage noch nicht in voller Höhe einbezahlt (Anspruch aus § 19 GmbHG). Geschäftsführerin Gloria (G) hat zwei Tage vor dem Eröffnungsantrag noch ein Sektfrühstück für alle Mitarbeitenden organisiert und aus der Firmenkasse bezahlt (Anspruch aus § 15b Abs. 1, 4 InsO).

312

In der Praxis werden häufig Vergleiche mit den Vertragspartnern des Schuldners und Dritten geschlossen, um langwierige Prozesse mit ungewissem Ausgang zu vermeiden. Gerade in Insolvenzverfahren ist es typisch, dass die früheren Vertragspartner des Schuldners die vom Insolvenzverwalter geltend gemachten Forderungen dem Grunde und der Höhe nach besonders intensiv bestreiten. Grund ist, dass ab Insolvenzeintritt keine Aussicht auf Fortsetzung der Geschäftsbeziehungen besteht und häufig auch keine Zeugen mehr zur Verfügung stehen.

3. Geltendmachung eines Gesamtschadens nach §92 InsO

313

Die Prozessführungsbefugnis des Insolvenzverwalters (§ 80 Abs. 1 InsO) erstreckt sich grundsätzlich nur auf die zur Insolvenzmasse gehörenden Ansprüche des Schuldners. In Durchbrechung dieses Grundsatzes weist § 92 InsO dem Insolvenzverwalter auch die Geltendmachung Ansprüche Dritter zu, wenn es sich um einen sog. Gesamtschaden handelt. Gesamtschäden sind in § 92 S. 1 InsO legal definiert und betreffen solche Schäden, welche die Insolvenzgläubiger gemeinschaftlich durch eine Verminderung des Schuldnervermögens vor oder nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens erleiden. Anspruchsgegner können die Gesellschafter oder die Organe des Schuldners oder jeder Dritte sein. BGH NZI 2022, 697 Rn. 10. Dazu gehören Schadensersatzansprüche der Altgläubiger gegen den GmbH-Geschäftsführer wegen Insolvenzverschleppung (§ 15a InsO i.V.m. § 823 Abs. 2 BGB). Fallbeispiel bei Bork Insolvenzrecht Rn. 237. Während des Insolvenzverfahrens darf der Anspruch nicht von den geschädigten Gläubigern (Sperrwirkung), sondern nur vom Insolvenzverwalter als gesetzlicher Prozessstandschafter geltend gemacht werden (Ermächtigungswirkung). BGH NZI 2022, 118 Rn. 9. Damit soll ein Wettlauf der Gläubiger vermieden und deren gleichmäßige Befriedigung gewährleistet werden. § 92 InsO enthält keine eigene Anspruchsgrundlage, sondern regelt die Einziehung aufgrund anderer Anspruchsgrundlagen, sofern ein Gesamtschaden vorliegt. BGH NZI 2022, 697 Rn. 10; NZI 2021, 173 Rn. 20; BeckOK InsR/Cymutta InsO § 92 Rn. 2.

314

Der Anwendungsbereich des § 92 S. 1 InsO ist insbesondere bei Insolvenzen mit betrügerischem Hintergrund (z.B. Green Planet, Wirecard) für Ansprüche aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 257 StGB eröffnet. Vgl. BGH NZI 2022, 697 Rn. 11. Hat ein (Erst-)Insolvenzverwalter die Masse geschädigt, etwa durch Veruntreuung oder Verschleuderung von Vermögenswerten, ist er den Insolvenzgläubigern nach § 60 InsO zum Schadensersatz verpflichtet. Der Anspruch auf Ersatz des Gesamtschadens kann nur von einem neuen Sonderinsolvenzverwalter geltend gemacht werden (§ 92 S. 2 InsO). Vgl. BGH NZI 2016, 831 Rn. 12 ff.; Foerste Insolvenzrecht Rn. 311.

4. Haftungsansprüche aus akzessorischer Gesellschafterhaftung

315

Hinweis

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Hier sind gesellschaftsrechtliche Grundkenntnisse gefragt. Ihnen sollte die Norm des § 128 HGB zur Gesellschafterhaftung in der OHG vertraut sein. Ab 2024 ist die persönliche Haftung der GbR-Gesellschafter in § 721 BGB n.F. zu finden.

Die Geltendmachung von Ansprüchen aus akzessorischer Gesellschafterhaftung ist in § 93 InsO gesondert geregelt. Danach ist es den Gläubigern einer Personengesellschaft während des eröffneten Verfahrens untersagt, die Haftungsansprüche gegen die persönlich haftenden Gesellschafter gerichtlich einzuklagen; ihnen fehlt die Prozessführungsbefugnis (Sperrwirkung). BGH NZI 2016, 445 Rn. 10, 13; NZI 2012, 858, 859. An ihrer Stelle ist allein der Insolvenzverwalter als gesetzlicher Prozessstandschafter berechtigt, die Haftungsansprüche geltend zu machen (Ermächtigungswirkung). Von § 93 InsO sind die Haftungsansprüche gegen die OHG-Gesellschafter (§ 128 HGB), gegen die Komplementäre einer KG (§§ 161 Abs. 2, 128 HGB), gegen die GbR-Gesellschafter (§ 128 HGB analog bzw. ab 2024 gem. § 721 BGB n.F.), gegen die Partner einer PartG/PartmbB (§ 8 Abs. 1 S. 1 PartGG), gegen die Kommanditisten (§ 176 HGB) sowie gegen den Komplementär einer KGaA (§ 278 Abs. 1 AktG) erfasst. Zweck der Norm ist, einen Gläubigerwettlauf zu verhindern und die gleichmäßige Befriedigung der Gläubiger sicherzustellen.

316

Die Ermächtigungswirkung hat zur Folge, dass der Insolvenzverwalter die Forderungen der Gesellschaftsgläubiger gegen die Gesellschafter gebündelt einziehen kann. Da die Gläubiger materiell-rechtlich Inhaber der Forderungen bleiben, fallen die eingeforderten Beträge nicht in die Insolvenzmasse; der (ausgeschiedene) Gesellschafter tilgt durch Zahlung die konkreten Forderungen, sodass der Insolvenzverwalter eine Sondermasse bilden muss. BGH NZI 2016, 430 Rn. 12. Das Einfordern der Haftungsansprüche führt häufig zur Folgeinsolvenz der Gesellschafter (sog. Doppelinsolvenz). BeckOK InsR/Cymutta InsO § 93 Rn. 35.

317

Ergänzt wird § 93 InsO durch § 171 Abs. 2 HGB. Nach §§ 171 Abs. 1 Hs. 1, 172 Abs. 4 HGB haftet der Kommanditist den Gläubigern bis zur Höhe seiner Einlage unmittelbar, wenn die Einlage erst gar nicht geleistet oder später rückerstattet wurde. Die Einlageansprüche können während des Insolvenzverfahrens nur vom Insolvenzverwalter geltend gemacht werden (§ 171 Abs. 2 HGB). Die Ansprüche sind Bestandteil der Insolvenzmasse, so dass die Befugnis des Insolvenzverwalters zu ihrer Geltendmachung aus § 80 Abs. 1 InsO resultiert. Braun/Kroth InsO § 93 Rn. 12. Im Prozess muss der Insolvenzverwalter für die Haftung aus § 171 Abs. 1 Hs. 1, Abs. 4 HGB darlegen, dass Forderungen der Gläubiger mindestens in Höhe der geltend gemachten Hafteinlage bestehen. Hierfür genügt es, wenn der Insolvenzverwalter die Insolvenztabelle (§ 175 InsO) mit den festgestellten Forderungen vorlegt, die nicht aus der Insolvenzmasse befriedigt werden können. BGH NZI 2021, 926 Rn. 39; NZI 2020, 1004 Rn. 14 f.; NZI 2018, 442 Rn. 15. Hat der Schuldner die Forderungen im Prüfungstermin nicht bestritten, kann der Kommanditist die in der Tabelle festgestellten Forderungen nicht mehr bestreiten. Dies folgt aus der Rechtskraftwirkung der Tabelle gegenüber dem Schuldner gem. § 201 Abs. 2 InsO, die auch gegenüber dem Kommanditisten wirkt, da er die in der Person der Gesellschaft (des Schuldners) begründeten Einwendungen nach §§ 129 Abs. 1, 161 Abs. 2 HGB verliert. BGH NZI 2021, 926 Rn. 44; NZI 2018, 442 Rn. 21 ff.; a.A. Dahl/Engels NZI 2018, 435, 436.

III. Insolvenzanfechtung

1. Grundlagen

318

Hinweis

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Der Zugang zu dieser Materie ist nicht ganz leicht. Manche Vorschriften wurden 2017 reformiert, um die großzügige Anfechtungsrechtsprechung des BGH einzudämmen. Die vielen BGH-Urteile zeigen, dass diese Materie in der Praxis besonders relevant ist.

Im Normalfall unterhält der Schuldner, bevor es zum Insolvenzverfahren kommt, noch umfangreiche Geschäftsbeziehungen. Es werden Waren gekauft, Arbeitnehmerinnen vergütet, Prozesse geführt, Mietschulden beglichen, Leasingraten bezahlt, Kredite bedient, Spenden an kirchliche Einrichtungen überwiesen oder Zahlungen an Versicherungen, Krankenkassen oder das Finanzamt geleistet. Zuweilen werden noch Grundstücke an nahe Angehörige verschenkt oder Lieferanten auf deren Drängeln nachbesichert. Mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens werden diese Rechtshandlungen auf den Prüfstand gestellt. Instrument ist die Insolvenzanfechtung, die in den §§ 129 bis 147 InsO geregelt ist und dem Insolvenzverwalter die Möglichkeit verschafft, masseschmälernde Rechtshandlungen, die im Vorfeld der Insolvenzeröffnung vorgenommen wurden, rückwirkend zu beseitigen und Vermögenswerte in die Masse zurückzuholen. Reischl Insolvenzrecht, Rn. 569. Die Ermittlung von Anfechtungsansprüchen gehört zu den Kernaufgaben des Insolvenzverwalters. BGH NZI 2021, 505 Rn. 12. Schätzungen zufolge wird über das Instrument Insolvenzanfechtung ca. 25 % der Masse generiert.

319

Das Insolvenzanfechtungsrecht ist durch zahlreiche Urteile des IX. Zivilsenats des BGH geprägt. Die Struktur des Anfechtungsrechts ist komplex. Die allgemeinen Voraussetzungen der Anfechtung sind zunächst in § 129 InsO geregelt. Zusätzliche Voraussetzung ist, dass ein Anfechtungsgrund besteht. In den §§ 130 bis 138 InsO sind die einzelnen Anfechtungstatbestände enthalten, die wiederum an unterschiedliche Zeitfenster anknüpfen (10 Jahre, 4 Jahre, 2 Jahre, 1 Jahr, 3 Monate, 1 Monat vor dem Eröffnungsantrag) und sich in ihren objektiven und subjektiven Voraussetzungen unterscheiden. Bei nahestehenden Personen ist die Insolvenzanfechtung erleichtert (§§ 130 Abs. 3, 131 Abs. 2 S. 2, 132 Abs. 3, 133 Abs. 2, 137 Abs. 2 S. 2 InsO). Anspruchsgrundlage für den schuldrechtlichen Rückgewähranspruch des Insolvenzverwalters gegen den Begünstigten ist stets § 143 InsO.

2. Allgemeine Voraussetzungen

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Für sämtliche Anfechtungstatbestände der §§ 130 bis 137 InsO müssen die Voraussetzungen des § 129 InsO vorliegen. Anfechtbar sind nur „Rechtshandlungen“, die „vor Verfahrenseröffnung“ vorgenommen wurden und „die Insolvenzgläubiger benachteiligen“.

a) Rechtshandlung

321

„Rechtshandlung“ i.S.d. § 129 Abs. 1 InsO ist jedes willensgeleitete, verantwortungsgesteuerte Handeln, das eine rechtliche Wirkung auslöst. BGH NZI 2017, 715 Rn 14; NZI 2010, 17; NZI 2007, 158. Der Begriff wird weit verstanden und erfasst Rechtsgeschäfte, rechtsgeschäftsähnliche Handlungen, Prozess- und Vollstreckungshandlungen sowie Realakte. Weitere Beispiele bei Foerste Insolvenzrecht Rn. 317. Beispiele: Der Schuldner übereignet ein Grundstück, reicht ein zinsloses Darlehen aus oder gibt im Prozess ein Anerkenntnis ab. Einer aktiven Handlung steht nach § 129 Abs. 2 InsO willentliches Unterlassen gleich (z.B. das Unterlassen der Mängelrüge nach § 377 HGB oder das Zulassen des Verjährungseintritts). Uhlenbruck/Borries/Hirte InsO § 129 Rn. 115, 118 ff. Gegenstand der Anfechtung können Rechtshandlungen des Schuldners, der Gläubiger oder eines Dritten sein. Einige Anfechtungstatbestände verlangen eine Rechtshandlung des Schuldners (§§ 132–134 InsO).

b) Vor Verfahrenseröffnung

322

Die Rechtshandlung muss vor der Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommen worden sein. Nach der Eröffnung helfen das Vollstreckungsverbot (§ 89 InsO), die Verfügungsbeschränkungen (§§ 81, 91 InsO) sowie die ausschließliche Verfügungsbefugnis des Insolvenzverwalters (§ 80 Abs. 1 InsO) vor einem Schwund der Masse. Nach § 140 Abs. 1 InsO gilt eine Rechtshandlung als in dem Zeitpunkt „vorgenommen“, in dem ihre rechtlichen Wirkungen eintreten. Ein Kausalgeschäft ist mit seinem Abschluss vorgenommen. Bei mehraktigen Erwerbstatbeständen kommt es auf den letzten Teilakt an; dieser muss also vor der Eröffnung liegen. BGH NZI 2021, 222 Rn. 12; NZI 2018, 800 Rn. 12; Becker Insolvenzrecht § 8 Rn. 11. Bei der Übereignung einer beweglichen Sache ist letzter Teilakt die Übergabe der Sache. Bei Vorausabtretung einer sicherungszedierten Forderung ist letzter Teilakt das Entstehen der künftigen Forderung. Von dem Grundsatz, dass die rechtlichen Wirkungen vor Eröffnung eingetreten sein müssen, macht allein der Sonderfall des § 147 Abs. 1 InsO eine Ausnahme. Da § 129 InsO die Anfechtbarkeit von Rechtshandlungen vor Eröffnung anordnet, sind auch Rechtshandlungen des Schuldners, die mit Zustimmung des vorläufigen schwachen Insolvenzverwalters oder des vorläufigen Sachwalters erfolgt sind, anfechtbar, außer der Leistungsempfänger hat auf die Rechtsbeständigkeit der Zustimmung vertraut (§ 242 BGB). Vgl. BGH NZI 2013, 298, 300; OLG Düsseldorf NZI 2019, 284, 285; Foerste Insolvenzrecht Rn. 318.

c) Gläubigerbenachteiligung

aa) Mittelbare und unmittelbare Benachteiligung

323

Eine Gläubigerbenachteiligung i.S.d. § 129 InsO liegt vor, wenn die Rechtshandlung entweder die Aktivmasse verringert oder die Schuldenmasse erhöht, wenn sich also die Befriedigungschancen der Gläubiger ohne die Rechtshandlung bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise günstiger gestaltet hätten. BGH NZI 2022, 777 Rn. 12; NZI 2022, 221 Rn. 12; NZI 2019, 933 Rn. 7; NZI 2019, 851 Rn. 21; NZI 2018, 840 Rn. 15; NZI 2018, 800 Rn. 15; NZI 2018, 216 Rn. 9; NZI 2018, 22 Rn. 22.; NZI 2017, 68 Rn. 13. Die Zahlung von Steuern an das Finanzamt, die Rückzahlung eines Darlehens, die Bestellung einer Buchgrundschuld, der Verzicht auf die Verjährungseinrede oder die unentgeltliche Übertragung eines Grundstücks an einen Familienangehörigen sind typische Rechtshandlungen, die einer Schmälerung der Masse bewirken.

324

Zwischen Rechtshandlung und Gläubigerbenachteiligung muss zwar Kausalität bestehen. In der Regel genügt eine bloß mittelbare Gläubigerbenachteiligung. BGH NZI 2022, 221 Rn. 13 (§ 135 Abs. 2 InsO); BGH NZI 2017, 28 Rn. 12 (§ 130 Abs. 1 S. 1 InsO). Sie ist gegeben, wenn die Rechtshandlung die Befriedigungsmöglichkeiten der Insolvenzgläubiger in irgendeiner Weise verschlechtert und sei es auch erst durch das Hinzutreten weiterer (negativer) Umstände. BGH NZI 2021, 387 Rn. 26; NZI 2020, 170 Rn. 14; Braun/Bra InsO § 129 Rn. 26. Es genügt, wenn der Nachteil am Ende des Anfechtungsprozesses feststeht. Beispiel: Der Schuldner verkauft ein Grundstück, das nach Insolvenzeröffnung erheblich an Wert gewinnt.

325

Nur in wenigen Fällen wird eine unmittelbare Gläubigerbenachteiligung gefordert (§§ 132 Abs. 1, 133 Abs. 4 InsO). Unmittelbar ist eine Benachteiligung, die ohne Hinzukommen späterer Umstände schon mit der Vornahme der angefochtenen Rechtshandlung selbst eintritt. BGH NZI 2016, 773 Rn. 17; MüKoInsO/Kayser/Freudenberg InsO § 129 Rn. 113 ff. Das ist der Fall, wenn der Schuldner Vermögensgegenstände unentgeltlich überträgt oder unter Wert verschleudert. Vgl. Bork Insolvenzrecht Rn. 252; Becker Insolvenzrecht § 8 Rn. 23. Erbringt der Anfechtungsgegner unmittelbar nach Erhalt der Schuldnerleistung eine vollwertige Gegenleistung, scheidet eine unmittelbare Gläubigerbenachteiligung aus, da die Masse nicht verkürzt wird. BGH NZI 2022, 385 Rn. 100; NZI 2020, 170 Rn. 13; NZI 2019, 812 Rn. 14; NZI 2016, 773 Rn. 17. Gleiches gilt, wenn der Schuldner einen Gegenstand weggibt, der gar nicht zur Insolvenzmasse gehört (z.B. Zahlungen vom Pfändungsschutzkonto in Höhe des unpfändbaren Betrags, § 850k Abs. 1 ZPO). BGH NZI 2019, 851 Rn. 21; NZI 2016, 584 Rn. 17.

bb) Bargeschäft

326

Grundsätzlich werden Zuflüsse, die im Zusammenhang mit der Rechtshandlung erfolgen, bei der mittelbaren Benachteiligung nicht berücksichtigt. Eine Durchbrechung enthält § 142 InsO. Die Norm sieht vor, dass eine Leistung des Schuldners, für die er unmittelbar eine gleichwertige Gegenleistung erlangt, in der Regel unanfechtbar ist (sog. Bargeschäft). Zweck ist die Sicherheit des Rechtsverkehrs. Die Geschäftspartner sollen sich darauf verlassen dürfen, dass die in der Krise vorgenommenen Bargeschäfte nicht unter dem Damoklesschwert der Anfechtbarkeit stehen.

327

Das Bargeschäft hat drei Voraussetzungen (§ 142 Abs. 1, Abs. 2 S. 1 InsO). Erste Voraussetzung ist, dass Leistung und Gegenleistung durch eine rechtsgeschäftliche Parteivereinbarung, die zeitlich vor (!) der ersten Leistung getroffen werden muss, verknüpft sind. BGH NZI 2016, 311 Rn. 21; NJW 2014, 2579, 2580. Die vertragliche Vereinbarung bildet den Maßstab, welche ausgetauschten Leistungen zu vergleichen sind. Inkongruente Deckungen basieren nie auf einer vorherigen Vereinbarung, so dass die Anfechtung nach § 131 InsO möglich bleibt. BeckOK InsR/Schoon InsO § 142 Rn. 7. Zweite Voraussetzung ist, dass Leistung und erbrachte Gegenleistung objektiv gleichwertig sind. Dritte Voraussetzung ist, dass der Austausch von Leistung und Gegenleistung unmittelbar erfolgt (§ 142 Abs. 2 S. 1 InsO). Der Austausch ist unmittelbar, wenn er nach Art der der ausgetauschten Leistungen und unter Berücksichtigung der Gepflogenheiten des Geschäftsverkehrs in einem engen zeitlichen Zusammenhang erfolgt. § 142 Abs. 2, 3 InsO enthalten Sonderregelungen für Arbeitsentgelte. Nach § 142 Abs. 2 S. 2 InsO liegt ein enger zeitlicher Zusammenhang vor, wenn der Austausch von Arbeitsleistung und Lohn innerhalb von drei Monaten erfolgt. BGH NZI 2022, 522 Rn. 14. Bei anderen Vertragstypen fehlt eine gesetzliche Regelung. Nach der Rechtsprechung des BGH darf die Frist maximal 30 Tage betragen. BGH NZI 2016, 134 Rn. 39; NZI 2014, 775 Rn. 33; NZI 2007, 517, 521. Dies folge aus dem Rechtsgedanke des § 286 Abs. 3 BGB. BGH NJW 2015, 1109, 1116; NJW 2008, 659, 661.

328

Selbst Bargeschäfte sind ausnahmsweise anfechtbar. Jedoch hat der Gesetzgeber 2017 die Vorsatzanfechtung (§ 133 InsO), die auch bei einem Bargeschäft möglich ist, erschwert. Näher Ganter NZI 2019, 481, 487 ff. Nach § 142 Abs. 1 InsO kann ein Bargeschäft im Fall des § 133 InsO nur angefochten werden, wenn der Schuldner unlauter handelt und der Empfänger das unlautere Handeln erkennt. Die Anfechtung soll auf die Fälle beschränkt werden, in denen der Schuldner gezielt die Schädigung der übrigen Gläubiger herbeiführt. Als Beispiele werden Ausgaben für flüchtige Luxusgüter oder das Abstoßen unverzichtbarer Betriebsmittel genannt. Näher Braun/Riggert InsO § 142 Rn. 23; Ganter NZI 2019, 481, 488.

3. Überblick zu den Anfechtungsgründen

329

Unterschieden wird zwischen den Anfechtungsgründen der §§ 130–132 InsO, die nur im Fall eines Insolvenzverfahrens anwendbar sind (= besondere Tatbestände), und den Anfechtungsgründen der §§ 133 bis 135 InsO, die sich auch im AnfG finden, das außerhalb eines Insolvenzverfahrens gilt (= allgemeine Tatbestände) Jauernig/Berger/Thole Insolvenzrecht § 26 Rn. 1. Die Anfechtungstatbestände knüpfen an unterschiedliche Zeitfenster. Am weitesten reist die Vorsatzanfechtung (§ 133 Abs. 1–3 InsO) „in die Vergangenheit“ zurück.

4. Kongruenzanfechtung (§130 InsO)

330

In § 130 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis 2 InsO werden zwei Fallgruppen der sog. Deckungsanfechtung unterschieden.

a) Rechtshandlung vor dem Eröffnungsantrag

331

Hat ein Insolvenzgläubiger Kenntnis von der Zahlungsunfähigkeit des Schuldners und lässt er sich schnell noch vor dem Eröffnungsantrag Befriedigung oder Sicherung gewähren, verdient er keinen Schutz, selbst wenn er ein vertragliches Recht auf die Befriedigung oder Sicherung hatte. Vgl. Becker Insolvenzrecht § 8 Rn. 25. Unter „Deckung“ ist die erlangte Sicherung oder Befriedigung zu verstehen. Sie ist „kongruent“, wenn die Rechtshandlung dem Anfechtungsgegner eine Befriedigung oder Sicherung gewährt oder ermöglicht hat, die dieser aufgrund der vertraglichen Vereinbarungen genauso (nach Art und Zeitpunkt) beanspruchen durfte. OLG München NZI 2021, 540 Rn. 25. Klassisches Beispiel für die „Befriedigung“ ist, dass der Schuldner die Forderung des Gläubigers erfüllt (§ 362 BGB), also beispielsweise die MODEHAUS GmbH eine Lieferantenrechnung begleicht. Beispiel für ein „Ermöglichen“ ist, wenn der Schuldner den Anspruch im Prozess anerkennt (§ 307 ZPO). BGH NZI 2017, 352 Rn. 13. Der Begriff der Sicherung wird weit verstanden. Erfasst sind sämtliche Arten von gesetzlichen oder vertraglichen Sicherheiten. BGH NZI 2021, 577 Rn. 49.

332

Zudem müssen die weiteren Voraussetzungen des § 130 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 InsO vorliegen. Danach ist die Rechtshandlung des Schuldners (Befriedigung, Sicherung) anfechtbar, wenn sie in den letzten drei Monaten vor dem Eröffnungsantrag erfolgt ist, der Schuldner zu diesem Zeitpunkt bereits objektiv zahlungsunfähig war und der Empfänger die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners positiv kannte.

b) Rechtshandlung nach dem Eröffnungsantrag

333

Die zweite Fallgestaltung, die in § 130 Abs. 1 S. 1 InsO geregelt ist, betrifft Handlungen, die nach dem Eröffnungsantrag erfolgt sind. Diese sind anfechtbar, wenn der Empfänger die Zahlungsunfähigkeit oder den Eröffnungsantrag kannte oder kennen musste (§ 130 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, Abs. 2 InsO). Die online-Veröffentlichung von richterlichen Anordnungen im Eröffnungsverfahren (§§ 23, 9 InsO) auf insolvenzbekanntmachungen.de führt nicht zu einem „Kennen-Müssen“ des Eröffnungsantrags, da nicht alle Bewohnerinnen in Deutschland über einen Internetzugang verfügen.

c) Beweiserleichterungen

334

Beide Fallgestaltungen des § 130 Abs. 1 InsO knüpfen daran an, dass der Anfechtungsgegner die Zahlungsunfähigkeit positiv kennt. Selten wird der Insolvenzverwalter dem Gläubiger die Kenntnis nachweisen können, dass beim Schuldner eine 10%ige Unterdeckung (§ 17 Abs. 2 S. 1 InsO) vorlag. Daher sieht § 130 Abs. 2 InsO Beweiserleichterungen vor. So genügt es, wenn der Gläubiger Umstände kennt, die zwingend auf die Zahlungsunfähigkeit schließen lassen. Derartige „Umstände“ sind: die Nichteinhaltung von Ratenzahlungsvereinbarungen, bloße Teilzahlungen trotz angedrohter Vollstreckung, erfolglose Vollstreckungsmaßnahmen, vergebliches Einfordern der (hohen) Forderung über einen längeren Zeitraum oder die Nichtabführung der Sozialversicherungsbeiträge über einen längeren Zeitraum. Vgl. Uhlenbruck/Borries/Hirte InsO § 130 Rn. 69 bis 76d; Foerste Insolvenzrecht Rn. 332. Hat der Verwalter derartige Umstände dargelegt, kommt es zu einer Beweislastumkehr. Der Empfänger muss nachweisen, dass er die Leistung annehmen durfte, weil noch keine Zahlungsunfähigkeit vorlag.

Beispiel

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Die Krankenkasse K-AG erhält seit sechs Monaten keine Sozialversicherungsbeiträge für zehn Arbeitnehmer der MODEHAUS GmbH. Zahlt die GmbH kurz vor dem Eröffnungsantrag einen Teil der ausstehenden Beiträge, kann sich der Insolvenzverwalter auf § 130 Abs. 2 InsO berufen. Er kann anhand der Buchhaltung der MODEHAUS GmbH darlegen, dass die Krankenkasse wegen der längeren Nichtzahlung der Beiträge „Umstände“ kannte, die auf eine Zahlungsunfähigkeit schließen lassen.

d) Beweislastumkehr bei nahestehenden Personen

335

Eine weitere Beweislastumkehr zugunsten des Insolvenzverwalters enthält § 130 Abs. 3 InsO. Ist Empfänger der Leistung eine dem Schuldner nahestehende Person (§ 138 InsO), wird vermutet, dass die Person die Zahlungsunfähigkeit bei Entgegennahme kannte. Der Insolvenzverwalter muss nicht einmal „Umstände“ einer Zahlungsunfähigkeit vortragen. Grund ist die persönliche und wirtschaftliche Verbundenheit mit dem Schuldner, die regelmäßig einen Informationsvorsprung ermöglicht. Vgl. BGH NZI 2017, 358 Rn. 7; Braun/Riggert InsO § 138 Rn. 1. Die (lange) Norm des § 138 InsO unterscheidet danach, ob der Schuldner eine natürliche oder juristische Person ist. Ist er ein Mensch, sind nahestehende Personen gem. § 138 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 InsO der Ehepartner, die Kinder und Großeltern oder Personen, die in häuslicher Gemeinschaft mit dem Schuldner leben. Vgl. BGH NZI 2016, 773 Rn. 11; Foerste Insolvenzrecht Rn. 328. Ist der Schuldner (oder ein Familienmitglied) Mitglied des Vertretungs- oder Aufsichtsorgans einer juristischen Person oder mit mehr als 25 % als Gesellschafter beteiligt, gehört auch die juristische Person zu den nahen Angehörigen (§ 138 Abs. 1 Nr. 4 InsO).

336

Ist der Schuldner eine juristische Person, gehören Mitglieder des Vertretungs- oder Aufsichtsorgan (Vorstände, Aufsichtsratsmitglieder, Geschäftsführer) sowie Gesellschafter mit mehr als 25 % Beteiligung gem. § 138 Abs. 2 Nr. 1 InsO zu den nahestehenden Personen. Gleichfalls erfasst sind Personen, die zu den in § 138 Abs. 2 Nr. 1 und 2 InsO genannten Personen in einer in § 138 Abs. 1 InsO bezeichneten persönlichen Verbindung stehen (§ 138 Abs. 2 Nr. 3 InsO).

5. Anfechtung nach §131 InsO

a) Inkongruenz

337

Die Vorschrift des § 131 InsO knüpft an inkongruente Deckungen an. Anfechtungsgegner können nur Insolvenzgläubiger sein. BGH NJW 2019, 3578 Rn. 9. Eine inkongruente Deckung setzt nach § 131 Abs. 1 InsO voraus, dass der Anfechtungsgegner eine Sicherung oder Befriedigung erhält, die ihm nach dem Inhalt des Schuldverhältnisses nicht oder nicht in der Art oder nicht zu der Zeit zustand. Maßstab ist das vertraglich geschuldete Leistungsprogramm. Vgl. BGH NZI 2022, 777 Rn. 43; NZI 2019, 509 Rn. 21; BAG NZI 2022, 782 Rn. 18. Eine Deckung ist beispielsweise inkongruent, wenn der Schuldner für eine ungesicherte Verbindlichkeit nachträglich eine Sicherheit bestellt oder eine verjährte Forderung erfüllt. BGH NZI 2019, 509 Rn. 20; Foerste Insolvenzrecht Rn. 334. Inkongruenz besteht auch im Fall der Direktzahlung an einen Dritten BGH NJW 2019, 3578 Rn. 22; NZI 2016, 311 Rn. 16. oder im Fall der Leistung auf eine nachrangige Forderung, die einer Durchsetzungssperre unterliegt. BGH NZI 2019, 509 Rn. 24. Sogar eine durch Einzelzwangsvollstreckung erhaltene Sicherung oder Befriedigung (Pfändungspfandrecht bzw. Erlösauszahlung) ist nach Ansicht des BGH inkongruent. BGH NZI 2022, 733 Rn. 48; NZI 2008, 563; krit. Foerste Insolvenzrecht Rn. 335. Es lässt sich damit argumentieren, dass die Sicherung/Befriedigung nicht auf dem „vertraglichen Leistungsprogramm“ basiert. Betroffen sind vor allem Finanzämter und Sozialversicherungsträger, die die (Verwaltungs-)Vollstreckung mit eigenem Personal selbst durchführen.

b) Anfechtungszeiträume

338

§ 131 Abs. 1 Nr. 1 unterscheidet zwischen drei Zeiträumen. Eine inkongruente Handlung ist ohne weiteres anfechtbar, wenn sie im letzten Monat vor dem Eröffnungsantrag oder danach vorgenommen wurde (§ 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO). Auf die Kenntnis des Anfechtungsgegners von der Zahlungsunfähigkeit kommt es nicht an. Der Insolvenzverwalter muss im Anfechtungsprozess lediglich die Rechtshandlung, die Inkongruenz und den einschlägigen Zeitpunkt darlegen und beweisen. Bei Vollstreckungsmaßnahmen ist zu unterscheiden. Wurde im letzten Monat vor dem Eröffnungsantrag lediglich ein Pfändungspfandrecht (Sicherheit) erlangt, unterliegt diese Vollstreckungsmaßnahme der Rückschlagsperre (§ 88 InsO), so dass es keiner Anfechtung bedarf. Becker Insolvenzrecht § 8 Rn. 30. Hat der Gläubiger dagegen im letzten Monat vor dem Eröffnungsantrag Befriedigung aus dem Pfändungspfandrecht (Erlösauskehr) erlangt, kann diese Maßnahme angefochten werden (§ 131 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 InsO). Gleiches gilt für freiwillige Zahlungen an den Gerichtsvollzieher in der Monatsfrist, wenn der Schuldner damit die Vollstreckung abwenden will. BGH NZG 2020, 70 Rn. 19.

339

Nach der zweiten Variante (§ 131 Abs. 2 Nr. 2 InsO) ist eine Handlung anfechtbar, wenn sie im zweiten oder dritten Monat vor dem Eröffnungsantrag vorgenommen wurde und der Schuldner zu diesem Zeitpunkt objektiv zahlungsunfähig war. Bei Zahlungseinstellung (§ 17 Abs. 2 S. 2 InsO) wird die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners vermutet. Der Insolvenzverwalter muss hierzu lediglich Indizien vortragen. Auf die Kenntnis des Gläubigers von der Zahlungsunfähigkeit kommt es nicht an. Die Anfechtungsvoraussetzungen sind damit stark vereinfacht.

340

Nach der dritten Variante (§ 131 Abs. 1 Nr. 3 InsO) ist die inkongruente Deckung anfechtbar, wenn sie im zweiten oder dritten Monat vor dem Eröffnungsantrag vorgenommen wurde und der Gläubiger wusste, dass sie die Insolvenzgläubiger benachteiligt. Auch hier gilt, dass die subjektive Kenntnis schwer nachweisbar ist. Daher genügt es, wenn der Verwalter Umstände vorträgt, die zwingend auf eine Benachteiligung schließen lassen (§ 131 Abs. 2 S. 1 InsO). Bei nahestehenden Personen wird die Kenntnis vermutet (§ 131 Abs. 2 S. 2 InsO).

6. Anfechtung nach §132 InsO

341

Nach § 132 Abs. 1 InsO ist ein Rechtsgeschäft des Schuldners anfechtbar, wenn es die Insolvenzgläubiger unmittelbar benachteiligt. § 132 InsO ist ein Auffangtatbestand und erfasst Handlungen, die nicht schon nach §§ 130, 131 InsO angefochten werden können. Nerlich/Römermann/Nerlich InsO § 132 Rn. 3. Beispiele für unmittelbar benachteiligende Rechtsgeschäfte sind: der Verzicht auf eine Forderung, die Übernahme einer Bürgschaft, die Kündigung eines zinsgünstigen Kredits, die kostenlose Überlassung von Grundstücken oder Maschinen. Foerste Insolvenzrecht Rn. 343. Weitere Voraussetzung ist, dass die Handlung in den letzten drei Monaten vor dem Eröffnungsantrag vorgenommen wurde, der Schuldner zu diesem Zeitpunkt zahlungsunfähig war und der Gläubiger die Zahlungsunfähigkeit kannte.

7. Anfechtung nach §133 InsO

a) Allgemeines

342

Die Vorsatzanfechtung gem. § 133 InsO ist in der Praxis der wichtigste Anfechtungsgrund. Sie setzt voraus, dass der Schuldner seine Gläubiger wissentlich und willentlich benachteiligt und der „andere Teil“ diesen Vorsatz kannte. Die Norm wurde 2017 geändert, um die anfechtungsfreundliche Rechtsprechung des BGH abzumildern. Näher Ganter NZI 2019, 481; Kindler/Bitzer NZI 2017, 369.

b) Anfechtung nach § 133 Abs. 1 bis 3 InsO

aa) Objektive Voraussetzungen und Zeitraum

343

§ 133 Abs. 1 InsO setzt nach dem Wortlaut eine Rechtshandlung des Schuldners voraus. Vollstreckungsmaßnahmen des Gerichtsvollziehers sind keine Rechtshandlungen des „Schuldners“ und sind nicht nach § 133 InsO anfechtbar. BGH NZI 2020, 190 Rn. 21; NZI 2012, 963 Rn. 25. Etwas anderes gilt, wenn der Schuldner die Vollstreckung (maßgeblich) gefördert hat, z.B. durch Schaffung eines Vollstreckungstitels. BGH NZI 2017, 715 Rn. 15 ff.; NZI 2017, 718 Rn. 10; NZI 2017, 850 Rn. 6. Dann ist die Vollstreckung einer freiwilligen Befriedigung gleichzustellen. Im Rahmen des § 133 Abs. 1 InsO genügt eine mittelbare Gläubigerbenachteiligung. BGH NZI 2017, 28 Rn. 12; NZI 2016, 636 Rn. 30; BeckOK InsR/Raupach InsO § 133 Rn. 9.

344

Die Vorsatzanfechtung nach § 133 Abs. 1 InsO unterscheidet zwischen zwei Anfechtungszeiträumen. Die nach § 133 Abs. 1 InsO angefochtene (sonstige) Rechtshandlung muss in den letzten zehn Jahren vor dem Eröffnungsantrag oder danach vorgenommen worden sein. Handelt es sich bei der angefochtenen Rechtshandlung um eine Deckungshandlung, ist die Anfechtungsfrist nach § 133 Abs. 2 InsO auf vier Jahre verkürzt. Deckungshandlungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie einem Insolvenzgläubiger Befriedigung oder Sicherung gewähren. Die Vier-Jahres-Frist gilt nicht nur für kongruente Deckungen (§ 130 InsO), sondern nach der Gesetzesbegründung auch für inkongruente Deckungen (§ 131 InsO). Zur Kritik Ganter NZI 2019, 481, 482. § 133 Abs. 2 InsO ist lex specialis zu § 133 Abs. 1 InsO, so dass Deckungshandlungen außerhalb des Vier-Jahreszeitraums nicht nach § 133 Abs. 1 InsO anfechtbar sind. Vgl. BGH NZI 2021, 577 Rn. 47. Die Zehn-Jahres-Frist des § 133 Abs. 1 InsO ist also nur für sonstige Vermögensverschiebungen relevant.

bb) Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners

345

Der Anwendungsbereich des § 133 Abs. 1, 2 InsO ist weit. Erfasst sind sämtliche Rechtshandlungen, die die Gläubiger mittelbar benachteiligen. Gerechtfertigt ist die lange Frist von 10 Jahren/4 Jahren durch die subjektiven Kriterien (§ 133 Abs. 1 S. 1 InsO). Der Schuldner muss bei Vornahme der Rechtshandlung mit dem Vorsatz handeln, seine Gläubiger zu benachteiligen (Gläubigerbenachteiligungsvorsatz). Nach ständiger Rechtsprechung des BGH genügt bedingter Vorsatz. BGH NZI 2022, 733 Rn. 12; NZI 2022, 425 Rn. 19; NZI 2022, 385 Rn. 17; NZI 2018, 114 Rn. 8. Er liegt vor, wenn der Schuldner die Benachteiligung der Gläubiger als mutmaßliche Folge seiner Rechtshandlung erkennt und billigt. Im Prozess muss der Benachteiligungsvorsatz positiv festgestellt werden. Nach allgemeinen Grundsätzen trägt der Insolvenzverwalter die Darlegungs- und Beweislast. Da es sich bei dem Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners um innere, dem unmittelbaren Beweis nur schwer zugängliche Tatsachen handelt, lässt die Rechtsprechung es genügen, dass dieser mittelbar aus objektiven Tatsachen hergeleitet wird. BGH NZI 2022, 733 Rn. 12; NZI 2022, 476 Rn. 9; NZI 2021, 387 Rn. 16; NZI 2020, 1101 Rn. 17. Der Verwalter muss daher lediglich Indizien zur Zahlungsunfähigkeit vortragen. Das Gericht muss die Indizien im Rahmen einer Gesamtbetrachtung umfassend und widerspruchsfrei würdigen (§ 286 ZPO). Statt vieler BGH NZI 2022, 397 Rn. 11; NZI 2020, 682 Rn. 7; NZI 2017, 718 Rn. 13.

346

Nach der neueren Rechtsprechung des BGH kann der Benachteiligungsvorsatz bei kongruenten Deckungen nicht allein darauf gestützt werden, dass der Schuldner bei Vornahme der Rechtshandlung erkanntermaßen zahlungsunfähig war. BGH NZI 2022, 733 Rn. 14; NZI 2021, 720 Rn. 30; hierzu Ganter NZI 2021, 945, 948 f. Vielmehr ist erforderlich, dass der Schuldner weiß oder billigend in Kauf nimmt, seine übrigen Gläubiger auch zu einem späteren Zeitpunkt nicht vollständig befriedigen zu können. BGH NZI 2022, 733 Rn. 14; NZI 2022, 425 Rn. 21; NZI 2022, 397 Rn. 13; NZI 2022, 385 Rn. 19, 74; NZI 2021, 720 Rn. 36. Dass die Liquiditätslage im Zeitpunkt der Rechtshandlung „desaströs“ war, reicht somit als alleiniges Indiz für den Benachteiligungsvorsatz nicht aus. Der Schuldner kann im Prozess einwenden, er habe bei Ausführung der Rechtshandlung mit einer baldigen Überwindung der Krise, z.B. durch die Aufnahme von Fremd- oder Eigenkapital, rechnen dürfen. Der Insolvenzverwalter ist für den Umstand, dass keine begründete Aussicht auf Beseitigung der Illiquidität bestand, auch wenn es sich um negative Tatsachen handelt, beweisbelastet. BGH NZI 2022, 385 Rn. 74; NZI 2021, 720 Rn. 48. So kann der Verwalter vortragen, dass der Schuldner angesichts des Ausmaßes der Deckungslücke nicht auf Besserung hoffen konnte bzw. er das Scheitern seiner Sanierungsbemühungen erkannt hat. BGH NZI 2022, 733 Rn. 15; NZI 2022, 385 Rn. 23, 54 ff., 74 ff.; NZI 2021, 720 Rn. 46.

cc) Kenntnis des Anfechtungsgegners

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 Weitere Voraussetzung der Vorsatzanfechtung ist, dass der Anfechtungsgegner den Benachteiligungsvorsatz des Schuldners im Zeitpunkt der Vornahme der Rechtshandlung (§ 140 InsO) positiv kennt (§ 130 Abs. 1 S. 1 InsO). BGH NZG 2019, 1355 Rn. 25; NJW 2014, 465, 466. Der Insolvenzverwalter ist hierfür darlegungs- und beweispflichtig. Er hat dabei zwei Möglichkeiten, die Kenntnis nachzuweisen. Vgl. BGH NZI 2022, 385 Rn. 109; NZI 2021, 720 Rn. 9. Zum einen kann er den Vollbeweis für die Kenntnis des Anfechtungsgegners nach § 133 Abs. 1 S. 1 InsO erbringen. Spiegelbildich zum Benachteiligungsvorsatz des Schuldners ist erforderlich, dass der Anfechtungsgegner die eingetretene Zahlungsunfähigkeit des Schuldners positiv kennt und zusätzlich davon Kenntnis hat, dass keine Aussicht auf Besserung besteht. BGH NJW 2021, 720 Rn. 30 ff. Beweisbelastet ist der Insolvenzverwalter.

348


Um die Kenntnis des Anfechtungsgegners zu beweisen, kann sich der Insolvenzverwalter auch auf die (widerlegliche) Vermutungsregel des § 133 Abs. 1 S. 2 InsO stützen. Danach wird die Kenntnis des Empfängers vermutet, wenn er wusste, dass die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners drohte und die Handlung die (anderen) Gläubiger benachteiligt. Eine Abschwächung enthält der 2017 neu eingefügte § 133 Abs. 3 S. 1 InsO. In Fällen kongruenter Deckungshandlungen wird die Kenntnis des Anfechtungsgegners nur noch vermutet, wenn er positiv weiß, dass Zahlungsunfähigkeit eingetreten ist. Im Hinblick auf § 17 Abs. 2 S. 2 InsO genügt es aber, wenn der Gläubiger die Zahlungseinstellung kennt bzw. Umstände kennt, die einen zwingenden Rückschluss auf eine bereits eingetretene Zahlungsunfähigkeit zulassen. BGH NZI 2017, 718 Rn. 18; NZI 2017, 64 Rn. 8. Eine weitere widerlegbare Gegenvermutung enthält § 133 Abs. 3 S. 2 InsO, der ebenfalls 2017 eingefügt wurde. Hat der Anfechtungsgegner mit dem Schuldner eine Zahlungsvereinbarung, etwa in Form einer Ratenzahlung oder Stundung, getroffen, wird vermutet, dass er die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners nicht kannte. Eine Zahlungsvereinbarung führt also nicht mehr zwangsläufig dazu, dass der Anfechtungsgegner auf die Zahlungseinstellung schließen muss.

349


Die Kenntnis, dass durch die Handlung andere Gläubiger benachteiligt werden, die zweite Voraussetzung des Vermutungstatbestands, wird nach der Rechtsprechung des BGH durch die Kenntnis der drohenden Zahlungsunfähigkeit indiziert, wenn der Anfechtungsgegner weiß, dass der Schuldner unternehmerisch (gewerblich) tätig ist, so dass er damit rechnen muss, dass es weitere Gläubiger mit ungedeckten Forderungen gibt. BGH NZI 2021, 387 Rn. 30 ff.; NZI 2021, 720 Rn. 51; NZI 2020, 682 Rn. 21; NZI 2019, 812 Rn. 25; NZI 2019, 594 Rn. 10; NZI 2018, 325 Rn. 12; NZI 2017, 718 Rn. 30; NZI 2016, 636 Rn. 22.

c) Anfechtung nach § 133 Abs. 4 InsO

350

Stark erleichtert ist die Vorsatzanfechtung gegenüber nahestehenden Personen (§ 133 Abs. 4 InsO), die häufig die finanziellen Probleme des Schuldners kennen. Die Anfechtung nach § 133 Abs. 4 InsO setzt lediglich voraus, dass eine nahestehende Person mit dem Schuldner in den letzten zwei Jahren vor dem Eröffnungsantrag einen entgeltlichen Vertrag geschlossen hat, der die Gläubiger unmittelbar benachteiligt. Die nahestehenden Personen sind in § 138 InsO definiert (näher hierzu Rn. 335 f.). Sogar Steuerberater oder Rechtsanwälte sind als nahestehende Personen von § 138 Abs. 2 Nr. 2 InsO erfasst, wenn sie aufgrund des Beratervertrags die Möglichkeit haben, sich über die gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse des Schuldners umfassend zu informieren. BGH NZI 2022, 385 Rn. 68.

351

Die Anfechtung nach § 133 Abs. 4 InsO betrifft nur entgeltliche Verträge. Der Vertragsbegriff i.S.d. § 133 InsO ist weit auszulegen. BGH NJW 2019, 2923 Rn. 69; NZI 2018, 491 Rn. 13; NZI 2017, 358 Rn. 17; NZI 2016, 773 Rn. 13. Erfasst sind schuld- und sachenrechtliche Verträge sowie jede Rechtshandlung des Schuldners, die in Übereinstimmung mit dem Willen des Anfechtungsgegners vorgenommen wird. Vgl. Braun/Bra InsO § 133 Rn. 45. Entgeltlich ist der Vertrag, wenn die nahestehende Person eine ausgleichende Zuwendung für die Leistung des Schuldners erbringt. BGH NJW 2019, 2923 Rn. 69; NZI 2016, 773 Rn. 14. Auch reine Erfüllungsgeschäfte zählen zu den entgeltlichen Verträgen; das „Entgelt“ ist die Befreiung von der Schuld. BGH NJW 2019, 2923 Rn. 69; NZI 2017, 358 Rn. 17; NZI 2016, 773 Rn. 15.

352

Nach § 133 Abs. 4 S. 1 InsO muss die Rechtshandlung die anderen Gläubiger unmittelbar benachteiligen, d.h. die Benachteiligung muss auf der Vornahme selbst beruhen (z.B. Verkauf einer Sache unter Wert, Vertrag über eine überteuerte Beratungsleistung). Gleichwertige Gegenleistungen schließen eine unmittelbare Benachteiligung aus. Vgl. BGH NJW 2019, 2923 Rn. 73; NZI 2017, 358 Rn. 17; NJW 2014, 2579, 2584. Weist die nahestehende Person nach, dass der Vertrag früher als zwei Jahre vor dem Eröffnungsantrag geschlossen wurde oder dass ihr der Benachteiligungsvorsatz des Schuldners zur Zeit des Vertragsschlusses nicht bekannt war, ist die Anfechtung ausgeschlossen (§ 133 Abs. 4 S. 2 InsO).

8. Anfechtung nach §134 InsO

353

Unentgeltliche Leistungen des Schuldners sind gem. § 134 Abs. 1 InsO anfechtbar, sofern sie in den letzten vier Jahren vor dem Eröffnungsantrag vorgenommen wurden („Schenkungsanfechtung“). BeckOK InsR/Raupach InsO § 134 Rn. 1; Bork NZI 2018, 1. Die Anfechtung nach § 134 InsO bietet den Vorteil, dass es keine subjektiven Tatbestandsmerkmale gibt und der Anfechtungszeitraum relativ lang ist. Unter „unentgeltlichen Leistungen“ sind zunächst Schenkungen (§ 516 BGB) oder Spenden zu subsumieren, wobei billige Gelegenheitsgeschenke nach § 134 Abs. 2 InsO ausgenommen sind. Die Wertgrenze beträgt bei Einzelgeschenken 200 EUR, auf das Jahr kumuliert maximal 500 EUR. BGH NZI 2016, 359 Rn. 35; Braun/de Bra InsO § 134 Rn. 46.

354

Der Anwendungsbereich des § 134 InsO ist nicht auf Schenkungen beschränkt. Unterschieden wird zwischen Zwei-Personen-Verhältnissen und Drei-Personen-Verhältnissen. Nach Ansicht des BGH ist eine Leistung im Zweipersonenverhältnis „unentgeltlich“, wenn dem Leistenden nach den Vereinbarungen kein entsprechender Gegenwert zufließen soll (z.B. Scheingeschäfts § 117 BGB). BGH NZI 2022, 522 Rn. 10; NZI 2022, 71 Rn. 50; NZI 2021, 973 Rn. 11; NZI 2021, 883 Rn. 9; NZI 2021, 729 Rn. 11; NZI 2021, 26 Rn. 9; NZI 2020, 422 Rn. 12; NJW 2019, 2923 Rn. 83; NJW 2019, 1446 Rn. 10. Erbringt der Empfänger eine objektiv gleichwertige Gegenleistung, die nicht synallagmatisch verbunden sein muss, liegt eine entgeltliche Leistung vor. BGH NZI 2018, 800 Rn. 38; Bork NZI 2018, 1, 3. Für die Beurteilung, ob die Gegenleistung gleichwertig ist, kommt es auf die objektive Wertrelation an. BGH NZI 2021, 26 Rn. 10; NZI 2018, 491 Rn. 11. Ist die Leistung objektiv nicht werthaltig, berücksichtigt der BGH sogar subjektive Vorstellungen der Parteien. So wird Entgeltlichkeit bejaht, wenn beide Parteien zum Zeitpunkt des Leistungsaustausches gutgläubig von der Werthaltigkeit der Gegenleistung ausgegangen sind. BGH NZI 2021, 26 Rn. 10; NJW 2019, 2923 Rn. 62; NZI 2017, 68 Rn. 22; krit. Bork NZI 2018, 1, 8. Leistungsstörungen (z.B. Verzug mit der Gegenleistung) bewirken keine „Unentgeltlichkeit“, da der Schuldner die Gegenleistung oder zumindest Schadensersatz verlangen kann. BGH NZI 2021, 26 Rn. 23; NZI 2018, 746 Rn. 17.

355

Sind Leistungen auf nichtige Verträge unentgeltlich? Nach h.M. ist eine Anfechtung nach § 134 InsO ausgeschlossen, wenn der Schuldner die Leistung ohne Rechtsgrund erbracht hat und ihm deswegen gegen den Empfänger ein Bereicherungsanspruch aus § 812 Abs. 1 S. 1 BGB (als „Gegenleistung“) zusteht. BGH NZI 2022, 563 Rn. 11; NZI 2021, 973 Rn. 12; NZI 2021, 883 Rn. 10; NZI 2021, 30 Rn. 10. Die rechtsgrundlose Leistung wird somit als entgeltliche Leistung angesehen. Leistet der Schuldner jedoch in Kenntnis des fehlenden Rechtsgrunds, schließt § 814 BGB den Anspruch aus § 812 BGB aus, so der Empfänger die Leistung unentgeltlich erhält. BGH NZI 2022, 425 Rn. 16; NZI 2021, 30 Rn. 10; Lütcke NZI 2021, 979 (Anm. zu BGH NZI 2021, 973). Gleiches gilt im Fall der Kondiktionensperre des § 817 S. 2 BGB. BGH NZI 2021, 973 Rn. 12; NZI 2021, 883 Rn. 10; NZI 2021, 30 Rn. 11; NJW 2019, 2923 Rn. 66.

356

Im Dreipersonenverhältnis kommt es nicht darauf an, ob der Schuldner selbst einen Ausgleich für seine Leistung erhalten hat, sondern ob der Empfänger eine Gegenleistung erbringen musste. BGH NZI 2022, 522 Rn. 10; NZI 2020, 422 Rn. 12; NZI 2018, 800 Rn. 26. Typischer Fall ist die Leistung auf fremde Schuld. Verliert der Leistungsempfänger aufgrund der Leistung eine werthaltige Forderung gegen einen Dritten, ist dies als „Gegenleistung“ und damit als entgeltliche Leistung zu bewerten. Demgegenüber ist die Tilgung einer fremden Schuld anfechtbar, wenn die gegen den Dritten gerichtete Forderung wertlos war. BGH NZI 2022, 522 Rn. 10; NZI 2016, 398 Rn. 10; NZI 2016, 80 Rn. 6. Anfechtungsgegner ist der Vertragspartner des Schuldners als „wahrer“ Empfänger, nicht der „tatsächliche“ Empfänger. BGH NZI 2020, 422 Rn. 12.

Beispiel

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Lin (L) schließt mit Max (M) einen Darlehensvertrag über 1 Mio. EUR. Vereinbarungsgemäß überweist (L) das Darlehen direkt an die MODEHAUS GmbH, die das Darlehen sechs Monate vor Insolvenzeröffnung an (L) zurückzahlt. (L) hat mit der Rückzahlung ihren Anspruch gegen Max (M) aus dem Darlehensvertrag (§ 488 Abs. 1 S. 2 BGB) verloren. Dieser Verlust stellt eine Gegenleistung dar, so dass die Leistung der MODEHAUS GmbH an (L) nicht unentgeltlich ist. Eine Ausnahme besteht, wenn die Forderung gegen Max (M) auf Rückzahlung des Darlehens nicht werthaltig ist. Das ist der Fall, wenn Max (M) selbst insolvent und zur Rückzahlung des Darlehens nicht in der Lage ist.

357

Im Prozess trägt der Insolvenzverwalter die Darlegungs- und Beweislast für die Tatbestandsvoraussetzungen des § 134 InsO. BGH NZI 2022, 425 Rn. 14; NZI 2022, 71 Rn. 51; NZI 2021, 26 Rn. 11; NZI 2017, 393 Rn. 8. Die Beweislast, dass die Leistung bereits länger als vier Jahre vor dem Eröffnungsantrag erbracht wurde, liegt bei dem Empfänger (Wortlaut: „. . . es sei denn . . .“). Rechtsfolge der Anfechtung ist die Pflicht des Anfechtungsgegners, die empfangene Leistung zurück zu gewähren. § 143 Abs. 2 S. 1 InsO beschränkt die Rückgewährpflicht. So kann sich der Empfänger auf den Wegfall der Bereicherung berufen (§ 818 Abs. 3 BGB), etwa wenn ihm durch das „Geschenk“ Kosten entstanden sind. BGH NZI 2016, 359 Rn. 41. Hingegen ist der Empfänger weiterhin bereichert, wenn er durch den Verbrauch des Geschenks notwendige Ausgaben erspart hat. Handelt der Schuldner bösgläubig (§ 143 Abs. 2 S. 2 InsO), bleibt es bei der Regelung des § 143 Abs. 1 InsO. Probleme ergeben sich, wenn die Leistung nur teilweise unentgeltlich ist (z.B. Verkauf zum „Spottpreis“). Hier ist vorrangig der Wertüberschuss der schuldnerischen Leistung zurückzuerstatten. BGH NZI 2021, 26 Rn. 20; MüKoInsO/Kayser/Freudenberg InsO § 134 Rn. 42. Bei Unteilbarkeit der Leistung (z.B. Grundstücksübertragung) kann der Verwalter die gesamte Leistung Zug um Zug gegen Rückgewähr der erbrachten Gegenleistung verlangen. BGH NZI 2021, 26 Rn. 20; Uhlenbruck/Borries/Hirte InsO § 134 Rn. 34a.

Beispiel

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Die MODEHAUS GmbH verkauft ihrem Gesellschafter Fred (F) drei Jahre vor Insolvenzeröffnung ein Grundstück für 100 000 EUR. Der wahre Wert EUR beträgt 300 000 EUR. Der Insolvenzverwalter kann entweder die Wertdifferenz über 200 000 EUR oder die Herausgabe des Grundstücks von Fred (F) Zug um Zug gegen Zahlung von 100 000 EUR verlangen.

9. Anfechtung von Gesellschafterhandlungen

a) Gesellschafterdarlehen

358

Die Anfechtungsnorm des § 135 InsO ist bei der Insolvenz juristischer Personen relevant und ist im Zusammenhang mit § 39 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 InsO zu sehen, der Gesellschafterdarlehen als nachrangige Forderungen eingruppiert. Zahlt die GmbH ihrem Gesellschafter das Gesellschafterdarlehen schnell noch im letzten Jahr vor dem Eröffnungsantrag zurück, kann der Insolvenzverwalter nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO die Rückzahlung des Darlehens anfechten. In den Anwendungsbereich der Norm fallen – aufgrund der Bezugnahme des § 135 Abs. 4 InsO auf § 39 Abs. 4 S. 1 InsO – alle Gesellschaftsformen ohne natürliche Person als persönlich haftenden Gesellschafter, wie die GmbH, die AG oder die GmbH & Co. KG. Vgl. BGH NZI 2020, 114 Rn. 12; NZI 2017, 760 Rn. 9 (zu § 135 Abs. 2 InsO). Der Adressatenkreis entspricht dem des § 39 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 InsO. Es gilt das Minderheitenprivileg (§ 135 Abs. 5 i.V.m. § 39 Abs. 5 InsO), so dass Minderheitengesellschafter nicht von § 135 InsO erfasst sind. BGH NJW 2019, 1446 Rn. 46; Preuß in: Kübler/Prütting/Bork InsO § 135 Rn. 21. „Gesellschafter“ können nicht nur unmittelbare Gesellschafter, sondern auch Dritte sein, wenn der Dritte bei wirtschaftlicher Betrachtung in Folge einer horizontalen oder vertikalen Verbindung einem Gesellschafter gleichsteht. BGH NZI 2019, 810 Rn. 9; NZI 2019, 169 Rn. 7. Bei zwischengeschalteten Gesellschaften kommt es maßgeblich darauf an, welche Macht der „Dritte“ auf die darlehensgewährende Gesellschaft hat. Ist beispielsweise eine GmbH unmittelbare Gesellschafterin des Schuldners und gewährt nicht diese, sondern deren Gesellschafter dem Schuldner ein Darlehen (= Gesellschafter-Gesellschafter), gehört der Gesellschafter-Gesellschafter zum Adressatenkreis des § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO, sofern er Alleingesellschafter ist oder aufgrund einer qualifizierten Anteilsmehrheit einen beherrschenden Einfluss hat. BGH NZI 2019, 591 Rn. 10. Von § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO wird auch die Konstellation erfasst, dass ein Gesellschafter zugleich an der darlehensnehmenden Gesellschaft (Schuldner) beteiligt und an der darlehensgewährenden Gesellschaft maßgeblich beteiligt ist. BGH NZI 2019, 169 Rn. 7. Eine maßgebliche Beteiligung liegt bei einer Beteiligung von mehr als 50 % vor. BGH NZI 2019, 810 Rn. 9; NZI 2015, Rn. 50.

Beispiel

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Schuldnerin ist die A-GmbH. Alleingesellschafterin der Schuldnerin ist die A-GmbH & Co. KG (Muttergesellschaft). Ein Jahr vor Insolvenzeröffnung erhält die A-GmbH von Anton (A) ein Darlehen über 100 000 EUR, das sie einen Monat vor Insolvenzeröffnung an (A) zurückzahlt. (A) ist alleiniger Kommanditist der A-GmbH & Co. KG und einziger Gesellschafter der Komplementärin. Zwar hat (A) das Darlehen nicht als Gesellschafter der A-GmbH gewährt, sondern als Dritter. Aufgrund seiner Stellung als einziger Kommanditist der Muttergesellschaft und Alleingesellschafter der Komplementär-GmbH ist (A) aber wirtschaftlich betrachtet Alleingesellschafter der Schuldnerin. Die Rückzahlung des von (A) gewährten Darlehens ist nach § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO anfechtbar.

359

Der Anwendungsbereich des § 135 Abs. 1 Nr. 2 InsO entspricht in sachlicher Hinsicht § 39 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 InsO. Erfasst wird die Rückzahlung von Darlehen oder darlehensgleichen Forderungen. Zu den darlehensgleichen Forderungen zählen insbesondere fällige Forderungen, die dem Gesellschafter aus einem Austauschgeschäft (z.B. Kaufvertrag, Dienstvertrag) oder aus einem anderen Rechtsgrund gegen die Gesellschaft zustehen und die er rechtlich oder faktisch über einen längeren Zeitraum gestundet hat. Grund ist die „Finanzierungsfunktion“, da die Gesellschaft die Beträge kapitalmäßig nutzen kann. Daher kann der Insolvenzverwalter die Rückzahlung einer aus einem Austauschgeschäft (Warenlieferung) herrührenden Forderung, die über drei Monate gestundet wurde, anfechten. BGH NZI 2022, 425 Rn. 45; NZI 2019, 810 Rn. 15, 18.; Braun/Bra InsO § 135 Rn. 13. Auch die Gewinnausschüttung an den Gesellschafter unterliegt der Anfechtung, wenn die Gewinnforderung über acht Monate auf dem Kapitalkonto stehengelassen wurde. BGH NZI 2021, 180 Rn. 12; a.A. Moeckel NZI 2022, 636, 640 f. Anfechtbar ist auch die Rückzahlung eines Geldbetrags, der aufgrund eines sittenwidrigen Darlehensvertrags (§ 138 BGB) oder eines Scheingeschäfts (§ 117 BGB) gewährt wurde. BGH NJW 2019, 2923 Rn. 32 ff. Keine „Darlehensrückzahlung“ sind marktübliche Zinszahlungen für die Kapitalüberlassung, da sie keine „Befriedigung“ gewähren.

b) Gesellschafts- und Gesellschaftersicherheiten

360

Hat die Gesellschaft dem Gesellschafter für sein Darlehen an die Gesellschaft eine Sicherheit gewährt (z.B. Sicherungsübereignung des Firmen-LKW), ist die Bestellung der Sicherheit nach § 135 Abs. 1 Nr. 1 InsO anfechtbar, wenn sie in den letzten zehn Jahren vor dem Eröffnungsantrag vorgenommen wurde.

361

Hinweis

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Bitte schreiben Sie die Norm des § 143 Abs. 3 neben § 135 Abs. 2 InsO.

Eine weitere Besonderheit trifft § 135 Abs. 2 InsO. Die Norm beschreibt die Situation, dass ein Gesellschafter für das Darlehen eines Dritten an die Gesellschaft eine persönliche Sicherheit bestellt und die Gesellschaft dem Dritten innerhalb eines Jahres vor dem Eröffnungsantrag „Befriedigung gewährt“, d.h. das Darlehen zurückzahlt. Die Rückzahlung an den Dritten führt dazu, dass die Masse verkürzt wird. Diese Rechtshandlung ist nach § 135 Abs. 2 InsO anfechtbar. BGH NZI 2017, 760 Rn. 8 ff.; BeckOK InsR/Prosteder/Dachner InsO § 135 Rn. 49. Von der Rückzahlung profitiert allein der Gesellschafter, da seine Sicherheit, die dem Dritten gegenüber eigentlich vorrangig haftet, durch die masseschmälernde Zahlung frei wird. Dem trägt § 143 Abs. 3 S. 1 InsO Rechnung, der in diesem Fall eine Anfechtung gegenüber dem Gesellschafter, nicht gegenüber dem Dritten, anordnet. Der Gesellschafter muss das zur Masse zurückleisten, was der Dritte erhalten hat. Die Leistung ist auf die Höhe des Werts der gestellten Sicherheit begrenzt (§ 143 Abs. 3 S. 2 InsO). BGH NZI 2022, 221 Rn. 28; Neußer in: Kübler/Prütting/Bork InsO § 135 Rn. 72.

362

Der BGH erkennt in § 135 Abs. 2 InsO ein grundlegendes Prinzip. Entscheidender Anknüpfungspunkt ist, dass der Gesellschafter durch eine Rechtshandlung, die den Darlehensgeber befriedigt, von seiner Haftung aus der Sicherheit frei wird. Daher kommt es nicht darauf an, dass „die Gesellschaft“ den Gläubiger „vor“ dem Eröffnungsantrag befriedigt. Von der Norm des § 135 Abs. 2 InsO ist jede Befriedigung umfasst, auch durch Zwangsvollstreckungsmaßnahmen oder andere Handlungen. Das folgt aus dem systematischen Zusammenhang zu § 143 Abs. 3 InsO. Daher gilt § 135 Abs. 2 i.V.m. § 143 Abs. 3 S. 1 InsO analog, wenn der Gläubiger erst im Insolvenzverfahren durch die Verwertung der Sicherheit befriedigt wird, also vom Insolvenzverwalter den Erlös erhält. Diese Grundsätze gelten auch im Fall der Doppelbesicherung, d.h. wenn sowohl die Gesellschaft als auch der Gesellschafter eine Sicherheit stellt. BGH NZI 2022, 221 Rn. 14; NZI 2017, 760 Rn. 15; NJW 2012, 156, 158.

c) Stille Gesellschaft

363

Anfechtbar ist eine Rechtshandlung, durch die einem stillen Gesellschafter die Einlage zurückgewährt wird. Voraussetzung ist, dass die Rückzahlung aufgrund einer Vereinbarung erfolgt; bei einer Kündigung ist § 136 InsO nicht anwendbar. Braun/Riggert InsO § 136 Rn. 9. Ist die Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft erst nach der Vereinbarung eingetreten, ist die Anfechtung unzulässig (§ 136 Abs. 2 InsO).

10. Rechtsfolgen der Anfechtung

364

Die Anfechtung hat mit der BGB-Anfechtung nichts zu tun, so dass sie nicht zur Nichtigkeit der Rechtshandlung führt. Vielmehr ist in § 143 Abs. 1 S. 1 InsO eine eigene Anspruchsgrundlage normiert: „Was durch die anfechtbare Handlung aus dem Vermögen des Schuldners veräußert, weggegeben oder aufgegeben ist, muss zur Insolvenzmasse zurückgewährt werden.“ Nach vorwiegender Ansicht handelt es sich um einen schuldrechtlichen Rückgewähranspruch, der mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens entsteht. Vgl. nur Jauernig/Berger/Thole Insolvenzrecht § 25 Rn. 8. Nur der Insolvenzverwalter ist zur Geltendmachung des Anspruchs berechtigt (§ 129 InsO). Anspruchsgegner ist der Empfänger der anfechtbaren Leistung, d.h. derjenige, dessen Vermögen einen Vorteil erlangt hat, welcher der Vermögensminderung beim Schuldner entspricht. BGH NZI 2019, 851 Rn. 5; NJW 2018, 706 Rn. 14. Auch der Rechtsnachfolger kann u.U. haften (§ 145 InsO).

a) Inhalt des Anspruchs

365

Der Anfechtungsanspruch zielt primär auf „Rückgewähr“. BeckOK InsR/Schoon InsO § 143 Rn. 1. Die Art und Weise, wie diese zu erfolgen hat, richtet sich nach den Wirkungen der Rechtshandlung. Auch einzelne abtrennbare Wirkungen einer einheitlichen Rechtshandlung können zurückgefordert werden. BGH NZI 2022, 221 Rn. 13. Im Einzelnen: Vgl. Jauernig/Berger/Thole Insolvenzrecht § 25 Rn. 12. Hat der Insolvenzverwalter die Übereignung einer Sache angefochten, muss der Empfänger die Sache zurückübereignen bzw. rückauflassen (§ 929 bzw. § 925 BGB). Wird die Abtretung einer Forderung angefochten, ist diese rückabzutreten (§ 398 BGB). Ist die Bestellung einer Grundschuld angefochten, kann der Insolvenzverwalter Zustimmung zur Löschung (§§ 1192 Abs. 1, 1183 BGB) oder den Verzicht (§§ 1192 Abs. 1, 1168 BGB) verlangen. Ist ein Pfändungspfandrecht angefochten, muss der Empfänger darauf verzichten. Hat der Schuldner anfechtbar eine Geldforderung erlassen, muss der Begünstigte in die Aufhebung des Erlassvertrags einwilligen und Zahlung in die Masse leisten.

366

Ist ein Gegenstand aus dem Schuldnervermögen weggegeben, muss dieser grundsätzlich in natura zurückgewährt werden. Im Fall des Untergangs oder der Verschlechterung ist der Empfänger nach § 143 Abs. 1 S. 2 InsO einem bösgläubigen Bereicherungsschuldner bzw. einem unrechtmäßigen Besitzer gleichgestellt. Für die Haftung sind daher §§ 819 Abs. 1, 818 Abs. 4, 292 Abs. 1, 989, 990 BGB sowie die Vorschriften, auf die in diesen Normen verwiesen wird, maßgeblich. Braun/Riggert InsO § 143 Rn. 10. Insbesondere kann sich der Empfänger nicht auf den Wegfall der Bereicherung berufen. § 144 InsO regelt Gegenansprüche des Anfechtungsgegners, um sicherzustellen, dass die Masse infolge der Anfechtung nicht mehr erhält als ihr zusteht.

b) Prozessuale Geltendmachung

367

Der Anfechtungsanspruch entsteht mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens und wird damit fällig. BeckOK InsR/Schoon InsO § 143 Rn. 2. Die Verjährungsfrist für den Anspruch aus § 143 InsO beträgt drei Jahre (§ 146 Abs. 1 InsO i.V.m. §§ 195, 199 BGB), so dass die Anfechtungsklage spätestens innerhalb von drei Jahren ab Fälligkeit des Anspruchs und der Kenntnis des Verwalters bzw. grob fahrlässigen Unkenntnis zum 31.12. erhoben werden muss. Grobe Fahrlässigkeit setzt eine besonders schwere Vernachlässigung der Ermittlungspflichten voraus; der bloße Zugriff auf die schuldnerische Buchhaltung genügt nicht. BGH NZI 2017, 102 m. Anm. Fuchs. Für die Anfechtungsklage sind die Zivilgerichte (nicht die Insolvenzgerichte) zuständig. BGH NJW 2011, 1365; Foerste Insolvenzrecht Rn. 383. Ausnahmsweise ist der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten gegeben, wenn der Insolvenzverwalter Lohnzahlungen anficht. GmS-OGB NJW 2011, 1211; BAG NJW 2009, 3389 gegen BGH NJW 2009, 1968. In der Regel ist Leistungsklage zu erheben. Die Anfechtungsnorm muss nicht genannt werden, BGH NZI 2021, 222 Rn. 27. so dass die Anfechtungstatbestände im Prozess ausgetauscht werden können, sofern der zugrunde liegende Lebenssachverhalt (§ 253 Abs. 2 ZPO) hinreichend bestimmt dargelegt ist. Der Insolvenzverwalter muss nicht selbst prozessieren. Er kann den Anspruch aus § 143 InsO an einen Dritten gem. § 398 BGB abtreten. BGH NJW 2019, 3578 Rn. 10.

368

Nach § 143 Abs. 1 S. 3 InsO schuldet der Anfechtungsgegner erst ab Eintritt des Schuldnerverzugs oder der Rechtshängigkeit der Anfechtungssache Zinsen. Nach alter Rechtslage (vor 2017) waren Prozesszinsen bereits ab Verfahrenseröffnung zu zahlen, so dass Anfechtungsansprüche häufig erst kurz vor Verjährungseintritt geltend gemacht wurden, um eine hohe Verzinsung zu erreichen. Kindler/Bitzer NZI 2017, 369, 376.

IV. Aussonderung

1. Durchsetzung des Aussonderungsrechts

369

Die Aussonderung ist Teil der Massebereinigung, um von der „Ist-Masse“ zur „Soll-Masse“ zu gelangen. Uhlenbruck/Brinkmann InsO § 47 Rn. 1; Beck/Depré/Ringstmeier Praxis der Insolvenz § 14 Rn. 4. Der Insolvenzverwalter muss Gegenstände, die der Aussonderung unterliegen, herausgeben. Verweigert er die Herausgabe, richtet sich das Verfahren „nach den Gesetzen, die außerhalb des Insolvenzverfahrens gelten“ (§ 47 S. 2 InsO). Der Aussonderungsberechtigte muss den Insolvenzverwalter auf Herausgabe verklagen, wenn sich der Gegenstand noch in der Insolvenzmasse befindet. Zimmermann Insolvenzrecht Rn. 228. Bei Forderungen kommt eine Klage auf Feststellung in Betracht. Örtlich zuständig für die Klagen ist das Amtsgericht bzw. Landgericht (Prozessgericht), in dessen Bezirk das Insolvenzgericht liegt (§ 19a ZPO). Ausschließliche Gerichtsstände gehen vor.

Beispiel

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Mitarbeiter Moritz (M) hat seine wertvolle Uhr (Wert 3000 EUR) im Warenlager der MODEHAUS GmbH vergessen. (M) steht ein Aussonderungsrecht zu (§ 47 InsO). Er kann vom Insolvenzverwalter Herausgabe der Uhr verlangen (§ 985 BGB). Gibt dieser die Uhr nicht freiwillig heraus, kann (M) den Insolvenzverwalter vor dem AG Nürnberg (§ 19a ZPO) auf Herausgabe verklagen. Auch eine einstweilige Verfügung (§ 935 ZPO) ist möglich. Vgl. Braun/Bäuerle InsO § 47 Rn. 98.

2. Ersatzaussonderung

370

Ist das Aussonderungsrecht durch eine wirksame Verfügung des Schuldners vor Verfahrenseröffnung oder des Insolvenzverwalters nach Verfahrenseröffnung vereitelt worden, kann der Aussonderungsberechtigte Ersatzaussonderung der Gegenleistung verlangen (§ 48 S. 1 InsO). Ist die Gegenleistung noch nicht erbracht, muss der Verwalter den Anspruch auf Erlös abtreten (§ 48 S. 1 InsO). Wurde die Gegenleistung bereits in die Masse geleistet, ist sie herauszugeben, sofern sie dort noch unterscheidbar vorhanden ist (§ 48 S. 2 InsO). Bei bar gezahltem Geld ist der Betrag unterscheidbar vorhanden, wenn der konkrete Geldbetrag getrennt von anderem Bargeld verwahrt worden ist. BGH NJW 2019, 1940 Rn. 82 f.; Foerste Insolvenzrecht Rn. 410. Bei Einzahlung der Gegenleistung auf ein Konto genügt für die Unterscheidbarkeit, dass das Konto ein Guthaben aufweist. Vgl. BGH NZI 2020, 164 Rn. 7; BGH NJW 2019, 1940 Rn. 42, 84. Ist das Geld nicht mehr unterscheidbar vorhanden, weil sich das Konto im Soll befindet, besteht ein Masseanspruch wegen ungerechtfertigter Bereicherung (§ 55 Abs. 1 Nr. 3 InsO). Das soll verhindern, dass sich die Gläubiger auf Kosten Dritter befriedigen. Der Bereicherungsanspruch setzt voraus, dass die Insolvenzmasse erst nach Verfahrenseröffnung bereichert worden ist, also die Gegenleistung erst nach Eröffnung geflossen ist. BGH NJW 2019, 1940 Rn. 55.

V. Verwertung des Absonderungsguts

1. Bewegliches Vermögen

a) Bewegliche Sachen

371

Lesen Sie die §§ 166, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 173 InsO einmal komplett durch. Die Normen enthalten alle Informationen zum Verwertungsrecht des Insolvenzverwalters.

Sobald das Insolvenzverfahren eröffnet wird, ist nur noch der Insolvenzverwalter zur Verwertung der mit Absonderungsrechten belasteten, beweglichen Sachen, die er im Besitz hat, berechtigt (§ 166 Abs. 1 InsO). Dazu gehören vor allem sicherungsübereignete Gegenstände (§§ 929 S. 1, 930 BGB). Den Gläubigern steht kein eigenes Verwertungsrecht zu, sofern sich die Sachen im „Besitz“ des Insolvenzverwalters befinden. Stets begründet der unmittelbare Besitz ein Verwertungsrecht. BGH NZI 2018, 396 Rn. 18; NZI 2018, 174 Rn. 7. In bestimmten Konstellationen fällt aber auch der mittelbare Besitz unter § 166 Abs. 1 InsO. Vgl. BGH NZI 2016, 633 Rn. 20; NZI 2016, 21 Rn. 20; NZI 2011, 602 Rn. 31. Erfasst sind Fälle, in denen der Schuldner die sicherungsübereigneten Sachen einem Dritten vorübergehend vermietet oder zur Reparatur weggegeben hat. BGH NZI 2018, 396 Rn. 19 ff.; Foerste Insolvenzrecht Rn. 429. Demgegenüber berechtigt der mittelbare Besitz des Insolvenzverwalters nicht zur Verwertung, wenn der Absonderungsberechtigte selbst unmittelbarer Besitzer ist. Da der Schuldner in dieser Konstellation von der Nutzung der Sachen ausgeschlossen ist, darf der Absonderungsberechtigte die Sachen selbst verwerten (§ 173 Abs. 1 InsO), wobei das Gericht für die Verwertung eine Frist bestimmen kann (§ 173 Abs. 2 InsO). BGH NZI 2016, 633 Rn. 7; Becker Insolvenzrecht § 4 Rn. 36.

372

Die Verwertung durch den Insolvenzverwalter erfolgt nach dem Berichtstermin. Zwischen dem Eröffnungsbeschluss und dem Berichtstermin darf der Verwalter die beweglichen Sachen weiternutzen; er muss aber den eintretenden Wertverlust durch fortlaufende Zahlungen ausgleichen (§ 172 Abs. 1 InsO). Nach dem Berichtstermin muss der Verwalter unverzüglich mit der Verwertung beginnen (§ 159 InsO). Er entscheidet über die Art der Verwertung. Er kann die Sachen freihändig verkaufen oder im Wege einer öffentlichen Versteigerung veräußern. Möglich ist auch die Verarbeitung des Sicherungsguts (§ 172 Abs. 2 InsO). Sollte der Verwalter die Verwertung verzögern, wird der Absonderungsberechtigte durch § 169 S. 1 InsO geschützt. Er erhält ab dem Berichtstermin die laufenden Zinsen für den gesicherten Anspruch. Die Höhe der Zinsen richtet sich nach der vertraglichen Vereinbarung; ansonsten sind es 4 % (§ 246 BGB). BGH NZI 2006, 342 Rn. 31. Der Verwalter ist außerdem zur Kommunikation verpflichtet. Er muss auf Verlangen über den Zustand der Sache berichten (§ 167 Abs. 1 InsO) und mitteilen, an wen und zu welchem Preis er verwerten will (§ 168 Abs. 1 S. 1 InsO). Innerhalb einer Woche kann der Gläubiger Gegenvorschläge unterbreiten (§ 168 Abs. 1 S. 2 InsO).

b) Forderungen

373

Die Verwertung von Forderungen ist in § 166 Abs. 2 InsO geregelt. Danach ist der Insolvenzverwalter zur Verwertung der Forderungen, die mit einem Absonderungsrecht belastet sind, zuständig. Das betrifft vor allem die zur Sicherheit abgetretenen Forderungen. Die Verwertungsbefugnis des Verwalters ist schon deshalb sachgerecht, da nur er über die erforderlichen Dokumente und Vertragsunterlagen, die beim Insolvenzschuldner liegen, verfügt. BGH NZI 2020, 20 Rn. 19; Jauernig/Berger/Thole Insolvenzrecht § 24 Rn. 6. Die Verwertung erfolgt durch Einziehung der Forderungen oder durch Verkauf (§§ 433, 453 Abs. 1 BGB). § 166 Abs. 2 InsO gilt nicht für verpfändete Forderungen; hier verwertet der Gläubiger selbst (vgl. § 173 Abs. 1 InsO). BGH NZI 2022, 373 Rn. 34.

c) Erlösauskehr und Kostenbeteiligung

374

Nach der Verwertung ist der absonderungsberechtigte Gläubiger unverzüglich aus dem durch Verkauf erzielten Erlös zu befriedigen (§ 170 Abs. 1 S. 2 InsO). Zieht der Verwalter den Erlös zur Masse, erlischt das Absonderungsrecht; an seine Stelle tritt eine Masseschuld nach § 55 Abs. 1 Nr. 3 InsO. BGH NZI 2018, 174 Rn. 7. Der vereinnahmte Erlös steht dem Absonderungsberechtigten nicht in voller Höhe zu, da zunächst einmal die Umsatzsteuer abzuziehen ist (§ 171 Abs. 2 S. 3 InsO). Ebenfalls abzuziehen sind die Kostenbeiträge des Insolvenzverwalters. Für die Kosten der Feststellung fallen pauschal 4 % des Verwertungserlöses an (§§ 170 Abs. 1 S. 1, 171 Abs. 1 S. 2 InsO), für die Kosten der Verwertung sind es pauschal 5 % (§§ 170 Abs. 1 S. 1, 171 Abs. 2 S. 1 InsO). Insgesamt kommen damit 9 % des erzielten Erlöses der Masse zugute. Dem Absonderungsberechtigten verbleiben 91 % des Erlöses, sofern die gesicherte Forderung den Betrag erreicht. Fallen höhere Verwertungskosten an, weil der Verwalter individuelle Vergütungsvereinbarungen mit dem absonderungsberechtigten Gläubiger trifft, muss der Gläubiger diesen Betrag entrichten (§ 171 Abs. 2 S. 2 InsO).

2. Grundstücke

375

Gläubiger, denen ein Recht auf abgesonderte Befriedigung an einem Grundstück zusteht, sind auch nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens berechtigt, die Zwangsversteigerung oder die Zwangsverwaltung des Grundstücks zu betreiben (§§ 49, 80 Abs. 2 S. 2 InsO). Dazu muss ein Vollstreckungstitel gegen den Insolvenzverwalter, der auf Duldung der Zwangsvollstreckung lautet (§§ 1147, 1192 Abs. 1 BGB), vorliegen. Besteht ein Vollstreckungstitel gegen den Schuldner (z.B. in Form einer vollstreckbaren Urkunde nach §§ 794 Abs. 1 Nr. 5, 800 ZPO), kann der Titel auf Antrag des Gläubigers auf den Insolvenzverwalter umgeschrieben (§ 727 ZPO) und ihm zugestellt werden (§ 750 Abs. 2 ZPO). BGH NZI 2016, 773 Rn. 42; NJW 2011, 1818. Dem Insolvenzverwalter steht das Recht zu, die durch den Gläubigerantrag veranlasste Zwangsversteigerung zu stoppen und deren Einstellung zu beantragen (§ 30d Abs. 1 S. 1 Nr. 1 bis 4 ZVG). Ein Einstellungsgrund liegt vor, wenn das Grundstück zur Betriebsfortführung benötigt wird (§ 30d Abs. 1 S. 1 Nr. 2 ZVG) oder wenn durch die Versteigerung eine angemessene Verwertung der Insolvenzmasse wesentlich erschwert würde (§ 30d Abs. 1 S. 1 Nr. 4 ZVG). In diesem Fall kann der Verwalter nach der Einstellung eine freihändige Verwertung durchführen. BGH NZI 2016, 773 Rn. 43.

376

Auch dem Insolvenzverwalter steht gleichwertig neben den Absonderungsgläubigern das Recht zu, die Zwangsversteigerung zu beantragen (§ 165 InsO). Er benötigt hierfür keinen Vollstreckungstitel. Braun/Dithmar/Miglietti InsO § 165 Rn. 8. Die Zwangsversteigerung erfolgt hier im Rang des § 10 Abs. 1 Nr. 5 ZVG, da der Insolvenzverwalter für alle ungesicherten Gläubiger handelt. Ist das Grundstück mit mehreren Grundpfandrechten belastet, fallen die vorstehenden Grundschulden (§ 10 Abs. 1 Nr. 4 ZVG) in das geringste Gebot (§§ 44 Abs. 1, 45 Abs. 1 ZVG). Alternativ kann der Verwalter nach § 174a ZVG vorgehen und verlangen, dass nur die Rechte vor der Rangklasse 1a in das geringste Gebot fallen. Vgl. BGH NZI 2012, 575 Rn. 15; krit. MüKoInsO/Kern InsO § 165 Rn. 125. Voraussetzung ist, dass Feststellungskosten i.S.d. § 10 Abs. 1 Nr. 1a ZVG angefallen sind, weil sich mithaftendes Mobiliar auf dem Grundstück befindet. Foerste Insolvenzrecht Rn. 427. Folge dieses Vorgehens ist, dass der Ersteher das Grundstück frei von den in § 10 Abs. 1 Nr. 2 bis 10 ZVG normierten Rechten erwirbt. Ein weiterer Vorteil der Zwangsversteigerung ist der Ausschluss der gesetzlichen Gewährleistungsrechte (§ 56 S. 3 ZVG). Nachteile sind die Kosten und die Dauer des Verfahrens.

377

Alternativ wird dem Verwalter zugebilligt, das Grundstück freihändig zu verwerten, auch wenn hierzu keine ausdrückliche Regelung in der InsO existiert. BGH NZI 2016, 773 Rn. 23; NZI 2011, 138 Rn. 15; NZI 2010, 482, 483. Die freihändige Verwertung spart Kosten und kann rascher abgewickelt werden. Der Käufer übernimmt das Grundstück mit allen Belastungen. Die Absonderungsrechte bleiben bestehen und die Masse erhält den (gesamten) Erlös. Alternativ können die Absonderungsberechtigten auf ihre Rechte verzichten, sofern sie aus dem Kaufpreis entsprechend befriedigt werden. Näher Foerste Insolvenzrecht Rn. 428.

378

Die freihändige Veräußerung ist erschwert, wenn ein Grundpfandgläubiger bereits die Zwangsverwaltung des Grundstücks beantragt hat. Aus diesem Grund wird auch die sog. „kalte“ oder „stille“ Zwangsverwaltung praktiziert. Sie hat den Zweck, die Grundpfandgläubiger von der Durchführung der Zwangsverwaltung nach §§ 146 ff. ZVG abzuhalten und das aufwändige und kostenintensive Verfahren zu vermeiden. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass der Insolvenzverwalter mit den Grundrechtspfandgläubigern vereinbart, gegen Zahlung eines Kostenbeitrags an die Masse die Miet- und Pachtforderungen selbst einzuziehen und die Erlöse an die Grundrechtspfandgläubiger zu verteilen. BGH NZI 2021, 838 Rn. 25; NZI 2016, 824 Rn. 16 f., 26 ff. Die kalte Zwangsverwaltung wird von den Gerichten grundsätzlich akzeptiert, sofern die Masse nicht schlechter als im Fall der förmlichen Zwangsverwaltung gestellt wird. BGH NZI 2016, 824 Rn. 18.

3. Ersatzabsonderung

379

Veräußert der Schuldner vor Verfahrenseröffnung oder der Verwalter nach Verfahrenseröffnung unbefugt das Absonderungsgut und wird das Absonderungsrecht dadurch vereitelt, stellt die InsO keine dem § 48 InsO (Ersatzaussonderung) entsprechende Vorschrift bereit. Nach überwiegender Ansicht gilt § 48 InsO analog. Zum Meinungsstand Bork Insolvenzrecht Rn. 307. Eine unberechtigte Veräußerung des Schuldners vor Verfahrenseröffnung liegt beispielsweise vor, wenn der Sicherungsgeber die Einziehungs-, Weiterveräußerungs- oder Verarbeitungsermächtigung (§ 185 BGB) wegen vertragswidrigem Verhalten des Schuldners widerrufen hat und der Schuldner die Ware dennoch veräußert oder die Forderung dennoch einzieht. Hier kann der Sicherungsnehmer Ersatzabsonderung verlangen, sofern der Erlös noch unterscheidbar in der Masse vorhanden ist. BGH NZI 2020164 Rn. 7; NZI 2019, 274 Rn. 19, 42; Foerste Insolvenzrecht Rn. 437. Eine unbefugte Veräußerung des Insolvenzverwalters nach Verfahrenseröffnung wird nur selten vorkommen, da der Verwalter grundsätzlich zur Verwertung des Absonderungsguts ermächtigt ist (§ 166 Abs. 1 InsO). Steht jedoch dem Gläubiger das Verwertungsrecht zu (§ 173 Abs. 1 InsO), verfügt der Insolvenzverwalter als Nichtberechtigter und muss nach überwiegender Ansicht den Erlös analog § 48 InsO herausgeben. Uhlenbruck/Brinkmann InsO § 48 Rn. 40. Ist der Erlös nicht mehr unterscheidbar in der Masse vorhanden, hat der Absonderungsberechtigte einen Masseanspruch i.S.v. § 55 Abs. 1 Nr. 3 InsO.

E. Befriedigung der Insolvenzgläubiger

380

Primäres Ziel eines Insolvenzverfahrens ist die Befriedigung der Insolvenzgläubiger, die sich in mehreren Schritten vollzieht. Zunächst müssen die Insolvenzgläubiger ihre Forderungen zur Insolvenztabelle anmelden (§§ 175, 175 InsO). In der Tabelle werden alle anmeldenden Gläubiger aufgenommen. Danach schließt sich das Feststellungsverfahren (§§ 176 bis 186 InsO) an, in dem die angemeldeten Forderungen geprüft und festgestellt werden. Ist die Masse verwertet, folgt als letzter Schritt das (Schluss-)Verteilungsverfahren (§§ 187 bis 206 InsO). Hier erhalten die Gläubiger, deren Forderungen verbindlich festgestellt sind, die ihnen zustehende Quote ausgeschüttet.

I. Feststellungsverfahren

1. Forderungsanmeldung

a) Vorrang der Anmeldung

381

Hinweis

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Das Feststellungsverfahren ist in §§ 174 bis 186 InsO geregelt. Bitte lesen Sie auch hier alle zitierten Normen durch und unterstreichen Sie die wichtigsten Schlüsselwörter.

Nach § 87 InsO können Insolvenzgläubiger (§ 38 InsO) ihre Forderungen gegen den Schuldner nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens nur noch nach den Vorschriften des Insolvenzrechts geltend machen. Die Gläubiger dürfen ihre Forderungen nicht mehr in einem Zivilprozess einklagen, sondern müssen diese – das ist die spezifische Besonderheit – zur Insolvenztabelle anmelden (§ 174 Abs. 1 S. 1 InsO). Vgl. BGH NZI 2020, 589 Rn. 16; NZI 2017, 712 Rn. 9; NZI 2017, 300 Rn. 8. Auch die Einleitung einer Musterfeststellungsklage (§§ 606 ff. ZPO) ist gesperrt. Thole NZI 2020, 411, 412 ff.; a.A. OLG München NZI 2020, 912. Nur ein Gläubiger, der das in §§ 174 ff. InsO geregelte Anmeldeverfahren erfolgreich durchläuft, darf an der späteren Verteilung teilnehmen. Die Anmeldung ist damit das „Tor“ zur Gläubigerbefriedigung. Anmeldeberechtigt sind neben den Insolvenzgläubigern die absonderungsberechtigten Gläubiger mit ihren persönlichen Forderungen (§ 52 InsO). Nachrangige Insolvenzgläubiger dürfen nur nach gesonderter Aufforderung anmelden (§ 174 Abs. 3 InsO). Für Aussonderungsberechtigte und Massegläubiger findet das Anmeldeverfahren keine Anwendung. BGH NZI 2017, 712 Rn. 9.

b) Form und Inhalt der Anmeldung

aa) Grund und Betrag

382

Die Anmeldung muss gegenüber dem Insolvenzverwalter schriftlich erfolgen (§ 174 Abs. 1 S. 1 InsO). Auch E-Mail oder Telefax erfüllen das „Schriftformerfordernis“. Möglich ist auch ein elektronisches Dokument, wenn der Verwalter zustimmt (§ 174 Abs. 4 S. 1 InsO). Die Forderungen sind vom Betrag her getrennt nach Haupt- und Nebenforderungen anzumelden. Nach § 174 Abs. 2 InsO ist auch der Grund der Forderung anzugeben. Nach Ansicht des BGH genügt es, wenn die Forderung ausreichend individualisiert ist, also der Lebenssachverhalt angegeben wird, um sie von anderen Forderungen abzugrenzen. BGH NZI 2020, 782 Rn. 19 ff.; NZI 2018, 886 Rn. 14; NZI 2016, 78 Rn. 3. Mit der Individualisierung wird, ähnlich wie bei der Klageerhebung nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO, der Streitgegenstand festgelegt und der Insolvenzverwalter in die Lage versetzt, die Forderung zu prüfen. Nicht erforderlich ist, dass die Forderung rechtlich eingeordnet oder schlüssig begründet wird. BGH NZI 2020, 782 Rn. 19 ff.; NZI 2018, 886 Rn. 14. Ist die Forderung wirksam angemeldet, muss der Insolvenzverwalter die Forderung in die Tabelle aufnehmen (§ 175 Abs. 1 S. 1 InsO). Marquardt/Hoffmann NZI 2021, 1047 f. Um einen Widerspruch des Verwalters im Prüfungstermin zu vermeiden, kann es sinnvoll sein, der Anmeldung Unterlagen, aus denen sich der Grund und die Höhe der Forderung ergibt, beizulegen (§ 174 Abs. 1 S. 2 InsO). Das können Rechnungen oder Verträge oder ein Vollstreckungstitel sein; auch eine elektronische Rechnung genügt (§ 174 Abs. 4 S. 2 InsO). Die hinreichende Individualisierung kann zudem noch im Prüfungstermin nachgeholt werden. BGH NZI 2020, 782 Rn. 27.

Beispiel

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Lieferantin Lisa (L) hat der MODEHAUS GmbH zehn Handtaschen geliefert, aber den Kaufpreis von 1000 EUR nicht erhalten. (L) kann ihre Forderung über 1000 EUR beim Insolvenzverwalter mit der Bezeichnung „Forderung aus Kaufvertrag vom 30.4. i.H.v. 1000 EUR“ wirksam anmelden. Damit ist die Forderung hinreichend individualisiert.

bb) Angaben zu Attributen des § 302 Nr. 1 InsO

383

Für die späteren Ausschüttungen spielt es keine Rolle, mit welchem Rechtsgrund die Forderung angemeldet wird. Jedoch ist in § 302 Nr. 1 bis 3 InsO geregelt, dass bestimmte Forderungen wegen ihres Unrechtsgehalts von der Restschuldbefreiung ausgenommen sind. Darauf nimmt § 174 Abs. 2 InsO Bezug. Danach kann der Gläubiger seine Forderung mit dem Zusatz „Forderung aus vorsätzlich unerlaubter Handlung“ oder „Forderung aus vorsätzlicher pflichtwidriger Verletzung einer gesetzlichen Unterhaltspflicht“ oder „Forderung aus einer Steuerstraftat nach den §§ 370, 373 oder § 374 AO“ anmelden. Ist die Forderungen mit einem derartigen Attribut angemeldet, wird sie nicht von der Restschuldbefreiung erfasst (§§ 174 Abs. 2, 302 Nr. 1 InsO). Für eine zulässige Anmeldung i.S.d. § 174 Abs. 2 InsO ist erforderlich, dass der Anmeldende zusätzlich Tatsachen benennt, aus denen sich das Attribut „vorsätzlich begangene unerlaubte Handlung“ ergibt; eine schlagwortartige Begründung genügt dafür nicht. BGH NJW 2019, 3237 Rn. 14; Zimmermann Insolvenzrecht Rn. 472. Der Schuldner muss durch die Anmeldung eindeutig erkennen können, um welche Forderung es geht und welches Verhalten ihm vorgeworfen wird; ein substantiierter Tatsachenvortrag zu sämtlichen objektiven und subjektiven Tatbestandsmerkmalen (wie in einem Prozess) ist jedoch nicht erforderlich. BGH NJW 2019, 3237 Rn. 14; AG Mannheim NZI 2021, 781 Rn. 35 f. Wird ohne Attribut oder nicht fundiert genug zum Rechtsgrund vorgetragen, ist die Anmeldung dennoch wirksam. Einzige Folge ist, dass die Forderung von der Restschuldbefreiung erfasst wird. BeckOK InsR/Zenker InsO § 174 Rn. 29.

c) Anmeldefrist und verspätete Anmeldung

384

Bereits im Eröffnungsbeschluss (§ 28 Abs. 1 S. 1 InsO) wird den Gläubigern eine Frist für die Forderungsanmeldung gesetzt. Die Frist beträgt zwei Wochen bis höchstens drei Monate (§ 28 Abs. 1 InsO). Die Frist ist keine Ausschlussfrist. Vgl. BGH NZI 2020, 229 Rn. 12; Uhlenbruck/Zipperer InsO § 28 Rn. 3. Denn wie § 177 Abs. 1 S. 1 InsO zeigt, sind im Prüfungstermin auch Forderungen zur prüfen, die erst nach der gerichtlichen Frist eingegangen sind. Sogar nach diesem Termin sind noch Nachmeldungen möglich, indem auf Kosten des Säumigen ein besonderer Prüfungstermin bestimmt wird (§ 177 Abs. 1 S. 2 InsO). Grund ist, dass die Gläubiger auch in einem späten Verfahrensstadium ein schutzwürdiges Interesse an der Anmeldung und Prüfung ihrer Forderungen haben. Vgl. BGH NZI 2020, 229 Rn. 14. Denn wird die Forderung festgestellt, verfügt der Gläubiger über einen Vollstreckungstitel, den er nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens gegen den Schuldner einsetzen kann (§ 201 Abs. 2 InsO).

385

Letzte Gelegenheit für die Anmeldung ist der Schlusstermin. Dies gilt nach Ansicht des BGH zumindest für privilegierte Forderungen i.S.d. § 302 Nr. 1 InsO, so dass eine Forderung wegen „vorsätzlich begangener unerlaubter Handlung“ spätestens bis zum Schlusstermin mit dem Attribut angemeldet werden muss. BGH NZI 2020, 229 Rn. 19. Die späte Anmeldung ist allerdings riskant, da dem Gläubiger ein Ausfall bei der Verteilung droht. Näher Foerste Insolvenzrecht Rn. 453. Maßgebliche Zäsur für die Teilnahme an der Verteilung ist das Schlussverzeichnis. Meldet der Gläubiger erst nach Niederlegung des Schlussverzeichnisses an (§ 188 S. 2 InsO), nimmt seine Forderung nicht mehr an der Verteilung teil. BGH NZI 2007, 401, 402. Der Gläubiger erhält keine Quote. Damit soll verhindert werden, dass nachlässige Gläubiger die Verfahrensabwicklung verzögern.

d) Aufnahme in die Tabelle

386

Der Insolvenzverwalter muss jede (formal) wirksam angemeldete Forderung in die Insolvenztabelle aufnehmen (§ 175 Abs. 1 S. 1 InsO). BGH NZI 2017, 300 Rn. 26 ff. Die Tabelle ist zunächst ein erster Rohentwurf, da die Forderungen noch im Prüfungstermin geprüft werden müssen (erst hier wird das Ergebnis „festgestellt“ oder bestritten“ in der Tabelle vermerkt). In der Tabelle wird der Tag der Anmeldung notiert. Folge ist, dass die Verjährung des Anspruchs gehemmt wird (§ 204 Abs. 1 Nr. 10 BGB). Die Tabelle muss nach Ablauf der Anmeldefrist in der Geschäftsstelle niedergelegt werden (§ 175 Abs. 1 S. 2 InsO), um auch den anderen Gläubiger zu ermöglichen, sich auf den Prüfungstermin vorzubereiten. Die Anmeldung ist Prozesshandlung, so dass eine Rücknahme jederzeit möglich ist (§ 4 InsO i.V.m. § 269 ZPO). Die Rücknahmeerklärung erfolgt gegenüber dem Insolvenzverwalter. Nach dem Prüfungstermin muss die Rücknahme gegenüber dem Insolvenzgericht erfolgen, dem nun die Tabellenführung obliegt. BGH NZI 2019, 537 Rn. 20, 24 ff. Eine Berichtigung der Tabelleneintragung bei Unrichtigkeit (z.B. wegen Übertragungsfehlern des Insolvenzverwalters) ist jederzeit gem. § 4 InsO i.V.m. § 164 ZPO zulässig. BGH NZI 2017, 213 Rn. 7 ff.

2. Prüfungstermin

a) Zweck und Ablauf

387

Der Prüfungstermin dient zur Feststellung der zur Insolvenztabelle angemeldeten Forderungen (§ 176 InsO). Er wird bereits im Eröffnungsbeschluss bekanntgegeben und soll frühestens eine Woche und spätestens zwei Monate nach Ende der Anmeldefrist stattfinden (§ 29 Abs. 1 Nr. 2 InsO). Der Prüfungstermin ist nicht öffentlich und wird durch den Rechtspfleger geleitet. Zur Teilnahme berechtigt sind der Insolvenzverwalter, der Schuldner, alle Insolvenzgläubiger sowie die Mitglieder des Gläubigerausschusses. Uhlenbruck/Sinz InsO § 176 Rn. 16; HK-InsO/Depré § 176 Rn. 2. Die Prüfung der angemeldeten Forderung gehört zu den Kernaufgaben eines Insolvenzverwalters, die er in der Regel selbst übernehmen muss. BGH NZI 2022, 134 Rn. 11; NZI 2021, 505 Rn. 12; NZI 2020, 589 Rn. 8. Im Prüfungstermin werden die angemeldeten Forderungen dem Grunde nach, der Höhe nach und ihrem Rang nach geprüft (§ 176 S. 1 InsO). Grundlage sind die eingereichten Unterlagen und die Auskunft des Schuldners. Meist geschieht die Prüfung nur oberflächlich. Foerste Insolvenzrecht Rn. 455. Bestreitet der Insolvenzverwalter oder ein Insolvenzgläubiger die angemeldete Forderung, ist diese einzeln zu erörtern (§ 176 S. 2 InsO).

b) Kein Widerspruch des Insolvenzverwalters oder eines Gläubigers

aa) Teilnahme an der Verteilung

388

Widerspricht weder der Insolvenzverwalter noch ein anderer Gläubiger der angemeldeten Forderung im Prüfungstermin, ist die Forderung akzeptiert und wird in der Tabelle als „festgestellt“ vermerkt (§ 178 Abs. 1 S. 1 InsO). Damit gehen zahlreiche (positive) insolvenzrechtliche Wirkungen einher. Die Eintragung in der Tabelle wirkt gegenüber dem Insolvenzverwalter und den anderen Insolvenzgläubigern wie ein rechtskräftiges Urteil (§ 178 Abs. 3 InsO). Die Forderung wird im Verteilungsverzeichnis aufgenommen und bei der Masseverteilung berücksichtigt. Ein Widerspruch des Schuldners ändert daran nichts (§ 178 Abs. S. 2 InsO). Der Gläubiger erhält die Insolvenzquote. Zudem gewährt die Forderung ein Stimmrecht in der Gläubigerversammlung (§ 77 Abs. 1 S. 1 InsO).

bb) Vollstreckungstitel

389

Die Eintragung der festgestellten und unwidersprochenen Forderung in die Tabelle hat zudem Auswirkungen für die Zeit nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens. So gilt der Tabelleneintrag als Vollstreckungstitel gegen den Schuldner, sobald das Insolvenzverfahren beendet ist (§ 201 Abs. 2 S. 1 InsO). Der Gläubiger kann nun die Zwangsvollstreckung in das (neue) Vermögen des Schuldners betreiben (§ 201 Abs. 1 InsO). Dieses Nachforderungsrecht ist nur bei natürlichen Personen relevant; Gesellschaften werden aufgelöst und nach Abschluss des Verfahrens von Amts wegen gelöscht. Im Fall der Restschuldbefreiung ist das Nachforderungsrecht allerdings irrelevant (§ 201 Abs. 3 i.V.m. §§ 286 ff. InsO). Die Restschuldbefreiung, wirkt nach § 301 Abs. 1 InsO gegenüber allen Insolvenzgläubigern. Ausgenommen sind privilegierte Forderungen i.S.d. § 302 Nr. 1 bis 3 InsO; hier bleibt es trotz erteilter Restschuldbefreiung bei der Nachhaftung aus § 201 Abs. 1 InsO. BGH NZI 2020, 229 Rn. 10 ff. Um dem Schuldner dieses Situation vor Augen zu halten, muss ihn das Gericht nach § 175 Abs. 2 InsO auf die Rechtsfolgen des § 302 InsO und die Möglichkeit des Widerspruchs hinweisen. BGH NJW 2019, 3237 Rn. 14, 18; AG Mannheim NZI 2021, 781 Rn. 28. Für Forderungen aus unerlaubter Handlung gilt zudem das Vollstreckungsprivileg des § 850f Abs. 2 ZPO, das einen erweiterten Zugriff des Gläubigers auf das Arbeitseinkommen des Schuldners erlaubt. Den Nachweis für § 850f Abs. 2 ZPO kann der Gläubiger durch die Vorlage eines vollstreckbaren Auszugs aus der Insolvenztabelle führen (§ 201 Abs. 2 S. 3 InsO), wenn daraus hervorgeht, dass die Forderung mit dem Rechtsgrund „unerlaubte Handlung“ festgestellt und vom Schuldner nicht bestritten wurde. BGH NZI 2020, 438 Rn. 10; NJW 2019, 3237 Rn. 9 ff.

c) Widerspruch des Insolvenzverwalters oder eines Gläubigers

390

Der Insolvenzverwalter oder ein anderer Gläubiger können eine angemeldete Forderung bestreiten (§§ 178 Abs. 1, 179 Abs. 1 InsO). Der Widerspruch wird in der Tabelle vermerkt (z.B. „vom Verwalter bestritten“ oder vom „Gläubiger Nr. 18 bestritten“). Zum Inhalt des Widerspruchs Gottwald/Haas/Eickmann/Wimmer Insolvenzrechts-Handbuch § 62 Rn. 4 ff. Damit ist der Gläubiger von der Verteilung ausgeschlossen, außer er geht erfolgreich gegen den Widerspruch vor.

aa) Nicht titulierte Forderung

391

Will der anmeldende Gläubiger den Widerspruch beseitigen, muss er gegen den Bestreitenden (Verwalter oder Gläubiger oder beide) Klage auf Feststellung seiner Forderung zur Insolvenztabelle erheben (§§ 179 Abs. 1, 180 Abs. 1 S. 1 InsO). Die Feststellungsklage kann nur auf den Betrag und den Rechtsgrund gerichtet sein, wie er in der Anmeldung bezeichnet ist. Die ordnungsgemäße Anmeldung ist Zulässigkeitsvoraussetzung der Feststellungsklage. BGH NZI 2018, 886 Rn. 14; NZI 2016, 78 Rn. 3. Der Rechtsweg folgt den allgemeinen Grundsätzen. Eine Lohnforderung ist vor dem Arbeitsgericht geltend zu machen (vgl. § 185 InsO), zivilrechtliche Klagen vor den ordentlichen Gerichten (§ 180 Abs. 1 S. 1 InsO). Die örtliche Zuständigkeit ist modifiziert; sie folgt dem Ort/Bezirk des Insolvenzgerichts (§ 180 Abs. 1 S. 2, 3 InsO). Je nach Streitwert ist das Amtsgericht oder Landgericht zuständig. Der Streitwert ist allerdings auf die zu erwartende Quote reduziert (§ 182 InsO). Das Feststellungsinteresse ergibt sich aus dem Bestreiten der Forderung (§ 256 Abs. 1 ZPO).

392

Gewinnt der Gläubiger den Prozess gegen den Bestreitenden, erstreckt sich die Rechtskraft auf den Verwalter und alle anderen Gläubiger (§ 183 Abs. 1 InsO). Der obsiegende Gläubiger kann nun die Berichtigung der Tabelle beantragen (§ 183 Abs. 2 InsO). Dort wird vermerkt, dass der Widerspruch beseitigt und die Forderung festgestellt ist (§ 178 Abs. 1 S. 1 InsO).

bb) Anhängiger Rechtstreit

393

War bereits ein Rechtstreit gegen den Schuldner anhängig, ist die Feststellung durch die Aufnahme des unterbrochenen Rechtsstreits zu betreiben (§ 180 Abs. 2 InsO). BGH NZI 2017, 300 Rn. 8. Erforderlich ist eine Änderung des Klageantrags (Feststellungsklage statt Leistungsklage). Der Klageantrag der Feststellungsklage (§ 256 ZPO) lautet: „Es wird festgestellt, dass der Kläger eine Insolvenzforderung von 10 000 EUR zur Insolvenztabelle im Insolvenzverfahren über das Vermögen der MODEHAUS GmbH hat“. Vgl. Gottwald/Haas/Eickmann/Wimmer Insolvenzrecht-Handbuch § 62 Rn. 39. Das ist eine ohne weiteres zulässige Klageänderung nach § 264 Nr. 3 ZPO. Pape/Schaltke in: Kübler/Prütting/Bork InsO § 180 Rn. 13. Die Zuständigkeit des Gerichts bleibt bestehen (§ 261 Abs. 3 Nr. 2 ZPO). Erforderlich ist zudem ein Austausch der Parteien (statt des Schuldners tritt der Bestreitende in die Rolle des Beklagten). Das ist ein zulässiger Parteiwechsel.

cc) Titulierte Forderung

394

Verfügt der Gläubiger bereits bei der Anmeldung über einen vollstreckbaren Titel für seine Forderung, ist es Sache des Bestreitenden, zu widersprechen und noch mögliche Rechtsbehelfe (Berufung, Revision, Einspruch gegen ein Versäumnisurteil) einzulegen (§ 179 Abs. 2 InsO). Bleibt der Bestreitende passiv, darf der Gläubiger den Prozess aufnehmen und feststellen lassen, dass der Widerspruch (mangels Verfolgung) unbegründet ist. BGH NZI 2014, 749, 750; Foerste Insolvenzrecht Rn. 462. Auch hier findet ein Parteiwechsel statt. Der Widersprechende übernimmt die Parteistellung des Schuldners. War der Titel bereits rechtskräftig, sind Verwalter und Gläubiger an die Rechtskraft gebunden (§ 325 Abs. 1 ZPO). A.A. Reischl Insolvenzrecht Rn. 769.

d) Widerspruch des Schuldners

395

Auch der Schuldner ist zum Widerspruch berechtigt. Ist der Schuldner eine juristische Person oder rechtsfähige Personengesellschaft üben die Vertretungsorgane das Widerspruchsrecht aus. BGH NZI 2018, 442 Rn. 33. In der Tabelle wird neben dem Vermerk „festgestellt“ der Vermerk „vom Schuldner bestritten“ eingetragen (vgl. § 178 Abs. 2 S. 2 InsO). Der Widerspruch des Schuldners hindert nicht, dass die Forderung zur Tabelle festgestellt wird (§ 178 Abs. 1 S. 1 InsO). Die Forderung wird bei der Erlösverteilung berücksichtigt. Der Widerspruch des Schuldners führt aber dazu, dass die festgestellte Forderung nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens nicht zu einer späteren Zwangsvollstreckung in den Neuerwerb des Schuldners berechtigt (§ 201 Abs. 2 S. 1 InsO). Diese Sperrwirkung ist die einzige, aber zentrale Folge des Schuldnerwiderspruchs.

396

Dem Gläubiger wird es gestattet, die negative Folge des Widerspruchs frühzeitig zu beseitigen. So kann er bereits während des Insolvenzverfahrens Feststellungsklage gegen den Schuldner erheben (§ 184 Abs. 1 S. 1 InsO). War ein Rechtsstreit über die Forderung anhängig, kann der Gläubiger den unterbrochenen Prozess (§ 240 ZPO) aufnehmen (§ 184 Abs. 1 S. 2 InsO). Hat der Gläubiger bereits über die Forderung einen Vollstreckungstitel, obliegt es dem Schuldner, innerhalb einer Frist von einem Monat (ab dem Prüfungstermin) den Widerspruch zu verfolgen (§ 184 Abs. 2 S. 1 InsO).

397

Um die Kosten einer Feststellungsklage zu vermeiden, kann der Schuldner seinen Widerspruch auch auf den angemeldeten Rechtsgrund i.S.d. § 302 Nr. 1 bis 3 InsO beschränken. Vgl. BGH NJW 2019, 3237 Rn. 14; BFH NZI 2019, 175 Rn. 15. Wendet sich der Widerspruch isoliert gegen den Rechtsgrund, wird die Forderung zwar tituliert, so dass der Gläubiger nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens einen Vollstreckungstitel erhält (§ 201 Abs. 2 InsO). Braun/Specovius InsO § 184 Rn. 2. Jedoch kann sich der Schuldner gegen eine spätere Vollstreckung mit der Vollstreckungsgegenklage (§ 767 ZPO) wehren und argumentieren, dass das angemeldete Attribut nicht vorgelegen hat. BGH NZI 2020, 736 Rn. 20; NZI 2014, 568, 569 f.

II. Masseverwertung

 

1. Zeitpunkt

398

Dem Insolvenzverwalter obliegt die Aufgabe, die Gegenstände der Insolvenzmasse zu verwerten, um die Insolvenzgläubiger aus den Verwertungserlösen zu befriedigen (§ 80 Abs. 1 InsO). Die InsO billigt den Gläubigern weitreichende Einflussmöglichkeiten zu. Betreibt der Schuldner ein Unternehmen, ist es Aufgabe der Gläubigerversammlung im Berichtstermin (§ 156) zu entscheiden, ob das Unternehmen stillgelegt oder fortgeführt (§ 157 S. 1 InsO) BGH NZI 2020, 671 Rn. 39. oder der Insolvenzverwalter beauftragt wird, einen Insolvenzplan auszuarbeiten (§ 157 S. 2 InsO). Um die Gläubiger bei ihrer Entscheidung zu unterstützen, muss der Insolvenzverwalter im Berichtstermin zunächst über die wirtschaftliche und rechtliche Lage des Schuldners und die Ursachen der Krise berichten (§ 156 Abs. 1 S. 1 InsO) und darlegen, ob das Unternehmen insgesamt oder ein Teil erhalten werden kann, ob ein Insolvenzplan möglich ist und welche Auswirkungen die Varianten haben (§ 156 Abs. 1 S. 2 InsO). Hier wird er auf bereits geführte Investorengespräche und Vertragsverhandlungen Bezug nehmen. Sein Bericht mit der Vergleichsrechnung bildet die zentrale Entscheidungsgrundlage für die Gläubigerversammlung. Zumeist folgt sie seinen Empfehlungen.

2. Verwertungsvarianten

399

Nach dem Berichtstermin muss der Verwalter unverzüglich das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen verwerten, sofern die Gläubigerversammlung nichts Abweichendes beschlossen hat (§ 159 InsO), etwa die Sanierung mittels Insolvenzplan (vgl. § 218 Abs. 2 InsO). Ist das nicht der Fall, kommt es zur Verwertung des Unternehmens. Hinsichtlich der konkreten Vorgehensweise ist der Insolvenzverwalter frei. Er kann zwischen Einzelverwertung (Liquidation) und Gesamtverwertung (übertragende Sanierung) entscheiden. Er kann das Unternehmen auch noch eine Zeit lang fortführen, wenn die vorübergehende Fortführung einen höheren Verwertungserlös verspricht. BeckOK InsR/Verhoeven/Theiselmann InsO § 159 Rn. 4; MüKoInsO/Janssen InsO § 159 Rn. 6. Seine Entscheidungen hat der Verwalter am Ziel der bestmöglichen Gläubigerbefriedigung auszurichten. Bei besonders bedeutsamen Rechtshandlungen hat er die Zustimmung des Gläubigerausschusses einzuholen. Die Zustimmung ist nötig, wenn er das Unternehmen als Ganzes, einen Betriebsteil, das Warenlager im Ganzen oder ein Grundstück frei veräußern will (§ 161 Abs. 2 Nr. 1 InsO).

a) Liquidation

400

Entscheidet sich der Verwalter für die Liquidation, sind die Vermögenswerte des Schuldners einzeln zu veräußern („zu versilbern“). Das Unternehmen wird zerschlagen. Dabei steht es im Ermessen des Verwalters, ob er bewegliche Sachen selbst freihändig verkauft (oder durch eine beauftragte Verwertungsgesellschaft) Hierzu Andres/Leithaus/Andres InsO § 159 Rn. 18. oder durch den Gerichtsvollzieher versteigern lässt. Gibt es für Gegenstände des Schuldnerunternehmens Markt- oder Börsenpreise, kann sich der Verwalter daran orientieren. Er kann auch ein Bieterverfahren nutzen, um ein optimales Verwertungsergebnis zu erzielen. Markwardt NZI 2022, 106, 109. Die Verwertung von Forderungen erfolgt durch Einziehung oder Verkauf. MüKoInsO/Janssen InsO § 159 Rn. 10. Grundstücke kann der Verwalter ebenfalls frei verkaufen oder vom Vollstreckungsgericht zwangsversteigern lassen (Rn. 376 f.). Foerste Insolvenzrecht Rn. 469. Ob der Betrieb sofort nach dem Berichtstermin eingestellt wird, steht ebenfalls im Ermessen des Verwalters. Sind noch Aufträge abzuarbeiten, die Geld in die Masse bringen, kann eine temporäre Ausproduktion sinnvoll sein.

b) Übertragende Sanierung

401

Die Veräußerung des gesamten Betriebs oder eines Betriebsteils stellt eine besonders profitable Verwertungsart in der Insolvenz des Schuldners dar. Sie erfolgt durch Unternehmenskaufvertrag (§ 433 BGB) an einen anderen Rechtsträger und wird als übertragende Sanierung bezeichnet. Näher Hoffmann/Danylak NZI 2020, 705. Die Insolvenzgläubiger werden aus dem erzielten Kaufpreis befriedigt, der im Regelfall deutlich höher ausfällt als die Zerschlagungswerte bei einer Liquidation. Um den richtigen Kaufpreis zu finden, werden bei komplizierten und großen Unternehmensverkäufen häufig strukturierte M&A-Prozesse genutzt. Das Geschäft selbst wird als sog. Asset Deal durchgeführt. Vgl. MükoInsO/Janssen InsO § 157 Rn. 17; Uhlenbruck/Zipperer InsO § 157 Rn. 7. Dabei werden sämtliche Aktiva des Unternehmens einzeln bzw. als Sachgesamtheit (= Assets) verkauft und im Anhang des Kaufvertrags aufgezählt. Die sachenrechtliche Übereignung erfolgt nach den jeweiligen sachenrechtlichen Grundsätzen für bewegliche Sachen, Forderungen und Grundstücke (§§ 929 f., 398, 872, 925 BGB). Zusätzlich ist der Verkauf der Firma möglich (§§ 22, 23 HGB). Wird die Firma fortgeführt, ist das Risiko einer Haftung aus § 25 HGB ausgeschlossen, da die Norm in der Insolvenz keine Geltung hat. BGH BeckRS 2006, 14044; Foerste Insolvenzrecht Rn. 485. Aus Sicht der Arbeitnehmer ist die übertragende Sanierung der Liquidation vorzuziehen, da § 613a BGB zum Übergang der Arbeitsverhältnisse auf den Erwerber führt (Rn. 298).

402

Beabsichtigt der Insolvenzverwalter eine übertragende Sanierung und führt er das Unternehmen nach dem positiven Beschluss der Gläubigerversammlung mit dem Ziel des Verkaufs fort, billigt der BGH dem Insolvenzverwalter einen weiten Ermessensspielraum zu. Jedoch muss er nach Ablauf einer Einarbeitungszeit das Ziel des § 1 InsO in den Vordergrund rücken und dem Wirtschaftlichkeitsgebot Rechnung tragen. So muss der Insolvenzverwalter ermitteln, ob die Kosten und Risiken der Unternehmensfortführung angesichts der Pflicht zur Massesicherung noch vertretbar sind (z.B. die Vergütung eines Unternehmensberaters, der 9 Monate mit jeweils 5 Beratertagen pro Woche tätig ist). So im Ausgangsfall des BGH NZI 2020, 671 Rn. 47. Ist die Fortführung unvertretbar, liegt ein pflichtwidriges Handeln nach § 60 InsO vor.

403

Bei der übertragenden Sanierung muss der Insolvenzverwalter die rechtlichen Rahmenbedingungen der §§ 160 ff. InsO beachten. Vor der Veräußerung ist die Zustimmung des Gläubigerausschusses einzuholen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 i.V.m. Abs. 1 S. 1 InsO). Fehlt ein Gläubigerausschuss, muss die Zustimmung der Gläubigerversammlung eingeholt werden (§ 160 Abs. 1 S. 2 InsO). Auch eine Veräußerung des Betriebs vor dem Berichtstermin bedarf der vorherigen Zustimmung des Gläubigerausschusses (§ 158 Abs. 1 InsO). Die Betriebsveräußerung an Insider ist in § 162 InsO geregelt. Ist der Erwerber eine nahestehende Person (Angehöriger oder Mehrheitsgesellschafter gem. § 138 InsO), ein Absonderungsberechtigter oder ein Insolvenzgläubiger mit einem großen Forderungsvolumen, muss der Verwalter die vorherige Zustimmung der Gläubigerversammlung einholen (§ 162 Abs. 1 InsO). Denn hier besteht die Gefahr, dass der Verkauf zu Sonderbedingungen erfolgt und kein regulärer Marktpreis erzielt wird. Markwardt NZI 2022, 106, 108. Versäumt der Verwalter die Einholung der Zustimmung, hat das für das Außenverhältnis keine Relevanz (§ 164 InsO). Der Verkauf an die „Insider-Person“ ist wirksam. Der Verwalter macht sich aber schadensersatzpflichtig (§ 60 InsO).

III. Masseverteilung

1. Überblick

404

Die Massebereinigung und Masseverwertung erstreckt sich in der Praxis meist über mehrere Jahre. Dem trägt die InsO Rechnung, indem angeordnet wird, dass die Verteilung des Masseerlöses an die Insolvenzgläubiger in Form von Abschlagsverteilungen (§ 187 Abs. 2 S. 1 InsO) und einer abschließenden Schlussverteilung (§ 196 InsO) erfolgt. In seltenen Fällen kommt es nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens noch zu einer Nachtragsverteilung (§ 203 InsO). Bevor es zu einer Abschlagsverteilung kommt, müssen zunächst die Absonderungsberechtigten und die Massegläubiger befriedigt werden. Der Rest (die sog. „Teilungsmasse“) wird an die Insolvenzgläubiger, deren Forderungen festgestellt sind, verteilt. Vgl. Becker Insolvenzrecht § 10 Rn. 3; Foerste Insolvenzrecht Rn. 486. Mit der Verteilung darf frühestens nach dem Prüfungstermin begonnen werden (§ 187 Abs. 1 InsO). Denn erst im Prüfungstermin steht fest, welche Forderungen festgestellt sind und an der Verteilung teilnehmen dürfen. Zuständig für die Anordnung, Vorbereitung und Durchführung der Verteilungen ist der Insolvenzverwalter (§ 187 Abs. 3 S. 1 InsO). Vor jeder Verteilung muss er die Zustimmung des Gläubigerausschusses einholen (§ 187 Abs. 3 S. 2 InsO). Grundlage jeder Verteilung ist das Verteilungsverzeichnis (§ 188 S. 1 InsO). 

2. Verteilungsverzeichnis

a) Allgemeines

405

Das Verteilungsverzeichnis (§ 188 S. 1 InsO) erstellt der Verwalter auf der Grundlage der im Prüfungstermin erörterten Forderungstabelle. Es ist vor jeder Verteilung zu erstellen, d.h. vor jeder Abschlagsverteilung und vor der Schlussverteilung (sog. Schlussverzeichnis). Jedes Verzeichnis liegt in der Geschäftsstelle des Insolvenzgerichts zur Einsicht aus (§ 188 S. 2 InsO). Das Insolvenzgericht muss den verfügbaren Betrag und die Summe der Forderungen öffentlich bekannt machen (§ 188 S. 3 Hs. 2 InsO). Die öffentliche Bekanntmachung setzt zwei Fristen in Lauf. Zum einen beginnt die zweiwöchige Ausschlussfrist (§ 189 Abs. 1 InsO), in der Gläubiger, deren Forderungen bestritten wurden, nachweisen müssen, dass sie Feststellungsklage erhoben haben. Zum anderen beginnt mit Ablauf der Ausschlussfrist die Wochenfrist des § 194 Abs. 1 InsO, in der Gläubiger Einwendungen gegen das Verteilungsverzeichnis geltend machen können.

b) Inhalt

406

Im Verzeichnis sind „die bei der Verteilung zu berücksichtigenden Forderungen“ ausgewiesen (§ 188 S. 1 InsO). Die Berücksichtigung erfolgt unterschiedlich. Festgestellte Forderungen nehmen an der Verteilung teil, indem tatsächlich eine Quote ausgezahlt wird. Für bestrittene Forderungen muss der Insolvenzverwalter Geld zurücklegen, wenn der Gläubiger nachweist, dass er innerhalb der zweiwöchigen Ausschlussfrist Feststellungsklage erhoben hat (§ 189 Abs. 1, 2 InsO). Wird der Nachweis, dass ein Rechtsstreit aufgenommen wurde, nicht geführt, nimmt die Forderung nicht an der Verteilung teil (§ 189 Abs. 3 InsO).

407

Auch absonderungsberechtigte Gläubiger können bei der Verteilung berücksichtigt werden. Sie müssen in der zweiwöchigen Frist des § 189 InsO nachweisen, dass und für welchen Betrag sie auf ihr Absonderungsrecht verzichtet haben oder ausgefallen sind (vgl. § 190 Abs. 1 S. 1 InsO). Der Ausfall steht allerdings erst nach endgültiger Verwertung des Absonderungsrechts fest. Braun/Pehl InsO § 190 Rn. 7. Daher geschieht die Berücksichtigung bei Abschlagsverteilungen derart, dass Geld zurückbehalten wird (§ 190 Abs. 2 S. 2 InsO). Voraussetzung hierfür ist, dass der Gläubiger binnen der Ausschlussfrist des § 189 Abs. 1 InsO nachweist, dass er derzeit die Verwertung des Gegenstands betreibt (§ 190 Abs. 2 S. 1 InsO). Zudem muss er die Höhe des Ausfalls glaubhaft machen. Will der absonderungsberechtigte Gläubiger bei der Schlussverteilung teilnehmen, muss er endgültig nachweisen, in welcher Höhe er tatsächlich mit der Forderung ausgefallen ist (§ 190 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Abs. 1 InsO). Andernfalls wird die Forderung bei der Verteilung nicht berücksichtigt (§ 190 Abs. 2 S. 3 InsO). Ist die Verwertung zu diesem Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen (z.B. das mit den Grundpfandrechten belastete Grundstück ist noch nicht verwertet), bleibt dem Gläubiger nur der Verzicht, wenn er die Quote möchte. Näher BeckOK InsR/Nicht InsO § 190 Rn. 7. Ist der Insolvenzverwalter selbst zur Verwertung des Gegenstands berechtigt (§§ 166 ff. InsO), gelten § 190 Abs. 1 und Abs. 2 InsO nicht (§ 190 Abs. 3 S. 1 InsO). Denn in diesem Fall weiß der Insolvenzverwalter selbst am besten, wie hoch der Ausfall ist.

408

Wurde ein Gläubiger im Verteilungsverzeichnis nicht (richtig) berücksichtigt, kann er innerhalb von einer Woche nach Ablauf der Frist des § 189 Abs. 1 InsO Einwendungen gegen das Verzeichnis vor dem Insolvenzgericht erheben (§ 194 Abs. 1 InsO). Gegen die Entscheidung des Gerichts ist die sofortige Beschwerde statthaft (§ 194 Abs. 2 S. 2, Abs. 3 S. 2 InsO).

3. Abschlagsverteilungen

409

Abschlagszahlungen können je nach Masse und Verfahrensdauer mehrmals erfolgen, d.h. wenn sich genug Bargeld angesammelt hat (§ 187 Abs. 2 S. 1 InsO). Ist ein Gläubigerausschuss bestellt, muss er der Abschlagsverteilung zustimmen (§ 187 Abs. 3 S. 2 InsO). Der Verwalter muss dem Gericht vor der Verteilung den Ausschüttungsbetrag und die Summe der Forderungen bekannt geben (§ 188 S. 2 InsO). Die Verteilungsquote bestimmt sich nach dem Verhältnis der Barmittel zu den Forderungen. Jeder Gläubiger erhält einen entsprechenden Anteil seiner Forderung, entweder als Barzahlung oder in Form einer Zurückhaltung des Betrags. Die konkrete Höhe der Quote der Abschlagszahlung bestimmt der Gläubigerausschuss (§ 195 Abs. 1 S. 1 InsO).

4. Schlussverteilung

410

Die Schlussverteilung erfolgt, sobald die vorhandene Masse verwertet ist (§ 196 Abs. 1 InsO). Ein noch anhängiger Aktivprozess hindert die Verteilung nicht, da der erstrittene Betrag einer Nachtragsverteilung zugeführt werden kann. Gottwald/Haas/Eickmann/Wimmer Insolvenzrechts-Handbuch § 63 Rn. 11. Gleiches gilt für anhängige Feststellungsprozesse; hier werden die Beträge einfach hinterlegt (§ 198 InsO). Einkommen des Schuldners (Neuerwerb) hindert die Schlussverteilung ebenfalls nicht (§ 196 Abs. 1 InsO); andernfalls wären lebenslange Insolvenzverfahren vorprogrammiert. Foerste Insolvenzrecht Rn. 499.

a) Schlussrechnung

411

Hinweis

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Die Schlussverteilung markiert das Ende des Regelverfahrens. Bis es soweit ist, vergehen in der Regel mehrere Jahre.

Ist das Vermögen verwertet und das Verfahren abschlussreif, hat der Insolvenzverwalter bei Beendigung seines Amtes einer Gläubigerversammlung Rechnung zu legen (§ 66 Abs. 1 InsO), sog. Schlussrechnung. Da das Amt des Insolvenzverwalters mit der Aufhebung des Insolvenzverfahrens endet (§ 200 InsO), erfolgt die Rechnungslegung in der Praxis bereits vor dem Ende des Amtes, damit das Gericht die Verteilungsmasse überprüfen kann. Denn vor Aufhebung des Insolvenzverfahrens muss der Insolvenzverwalter noch die restliche Insolvenzmasse gemäß dem genehmigten und rechtskräftigen Schlussverzeichnis verteilen (§ 196 InsO). Die insolvenzrechtliche Rechnungslegung hat der Insolvenzverwalter höchstpersönlich vorzunehmen. BGH NZI 2016, 352 Rn. 22. Grundsätzlich hat die Schlussrechnung die gesamte Tätigkeit des Insolvenzverwalters in vollständiger und verständlicher Form zu dokumentieren. Sie besteht aus einer Einnahmen- und Ausgabenrechnung, einer Schlussvermögensübersicht und einem erläuternden Schlussbericht. Nerlich/Römermann/Weiß InsO § 66 Rn. 7. Die Vermögensübersicht muss insbesondere Angaben enthalten, welche Vermögenswerte mit welchem Ergebnis verwertet oder aus- und abgesondert wurden, wie Prozesse abgewickelt wurden und was durch Anfechtung zur Masse gezogen wurde. Braun/Blümle InsO § 66 Rn. 9. Regelmäßig wird mit der Schlussrechnung auch der Vergütungsantrag eingereicht (§ 8 Abs. 1 S. 3 InsVV). Denn sind nur noch Schlusstermin und Schlussverteilung offen, kann der Insolvenzverwalter seine (fällige) Vergütung festsetzen lassen. BGH NZI 2022, 137 Rn. 16.

412

§ 66 Abs. 2 S. 1 InsO sieht vor, dass das Insolvenzgericht die Schlussrechnung des Insolvenzverwalters prüft. Funktionell zuständig ist der Rechtspfleger. Die gerichtliche Prüfung nach § 66 Abs. 2 S. 1 InsO erstreckt sich nur auf die Rechtmäßigkeit, nicht auf die Zweckmäßigkeit des Verwalterhandelns. BeckOK InsR/Karg InsO § 66 Rn. 11. Das Gericht kann die Hilfe eines Sachverständigen in Anspruch nehmen (§ 5 Abs. 1 InsO). Über das Ergebnis der Prüfung wird ein Vermerk gefertigt. Die Schlussrechnung ist beim Insolvenzgericht zur Einsicht auszulegen (§ 66 Abs. 2 S. 2 InsO).

b) Schlussverzeichnis

413

Kein originärer Bestandteil der Schlussrechnung ist das Schlussverzeichnis. Es wird in der Praxis aber zumeist der Schlussrechnung beigefügt. Es handelt sich um das verfahrensabschließende Verteilungsverzeichnis (§ 188 InsO), das den Abschluss der Verwertung des Schuldnervermögens markiert. Es enthält die zu berücksichtigenden Forderungen, den verfügbaren Betrag sowie einen Verteilungsvorschlag. Das Schlussverzeichnis ist öffentlich bekannt zu machen (§ 188 S. 3 InsO). Damit wird die zweiwöchige Ausschlussfrist in Lauf gesetzt (§ 189 Abs. 1 InsO).

414

Das Schlussverzeichnis bildet die Grundlage für die Schlussverteilung. Erforderlich ist eine doppelte Zustimmung. Zum einen muss der vorläufige Gläubigerausschuss zustimmen, sofern ein solcher installiert ist (§ 187 Abs. 3 S. 2 InsO). Die Schlussverteilung bedarf zudem der Zustimmung des Insolvenzgerichts (§ 196 Abs. 2 InsO). Die Zustimmung ist zu erteilen, wenn die Schlussrechnung und das Schlussverzeichnis geprüft worden sind. Braun/Pehl InsO § 196 Rn. 21. Erteilt das Gericht die Zustimmung, bestimmt es sogleich den Schlusstermin (§ 197 Abs. 1 S. 1 InsO).

c) Schlusstermin

415

Der vom Gericht bestimmte Schlusstermin ist eine abschließende Gläubigerversammlung (§ 197 Abs.1 S. 1 InsO). Der Termin dient zur Erörterung der Schlussrechnung, zur Erhebung von Einwendungen gegen das Schlussverzeichnis und zur Entscheidung der Gläubiger über die nicht verwertbaren Gegenstände der Insolvenzmasse (§ 197 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 bis 3 InsO). Zur Erhebung von Einwendungen sind nur die Insolvenzgläubiger berechtigt. Die Einwendungen müssen mündlich im Termin erhoben werden, andernfalls sind sie präkludiert. MüKoInsO/Kebekus/Schwarzer InsO § 197 Rn. 7 f. Weist das Gericht eine Einwendung zurück, steht dem Gläubiger die sofortige Beschwerde zu (§§ 197 Abs. 3, 194 Abs. 2 S. 2 InsO). Gibt das Gericht der Einwendung statt, muss der Verwalter das Verzeichnis berichtigen. Andere Korrekturen des Schlussverzeichnisses sind nicht erlaubt. So können nachträglich angemeldete Forderungen, die im Schlusstermin geprüft und festgestellt werden, nicht mehr in das Schlussverzeichnis aufgenommen werden. Braun/Pehl InsO § 196 Rn. 20. Gleichwohl kann die (späte) Feststellung sinnvoll sein, da der Tabellenauszug einen Vollstreckungstitel bildet (§ 201 InsO), aus dem nach Verfahrensaufhebung in den Neuerwerb des Schuldners vollstreckt werden kann. BeckOK InsR/Nicht InsO § 197 Rn. 3. Sobald das Schlussverzeichnis unanfechtbar ist, also rechtskräftig über die Einwendungen entschieden wurde (§ 194 Abs. 2, 3 InsO), kann die Schlussverteilung durchgeführt werden. Mit der Schlussverteilung steht endgültig fest, welche Insolvenzquote für die Gläubiger erzielt werden konnte.

d) Vollzug der Schlussverteilung

416

Nach dem Schlusstermin führt der Insolvenzverwalter (§ 187 Abs. 3 S. 1 InsO) die Schlussverteilung durch. Die Verwertungserlöse aus der restlichen Insolvenzmasse werden an die zu berücksichtigenden Gläubiger ausgeschüttet (§ 196 InsO). Muss der Verwalter Beträge zurückhalten, weil noch ein Rechtstreit anhängig ist (vgl. § 189 Abs. 2 InsO), sind diese bei einer geeigneten Stelle zu hinterlegen (§ 198 InsO). Nach der Durchführung der Schlussverteilung muss das Gericht die Aufhebung des Insolvenzverfahrens beschließen (§ 200 Abs. 1 InsO). Damit ist das Insolvenzverfahren beendet.

417

Einen in der Praxis eher atypischen Fall regelt § 199 InsO. Sollte nach der Schlussverteilung ein Überschuss verbleiben, also der Fall eintreten, dass alle Insolvenzgläubiger und nachrangigen Gläubiger zu 100 % befriedigt wurden, muss der Überschuss vor Aufhebung des Insolvenzverfahrens an den Schuldner verteilt werden (§ 199 S. 1 InsO). Bei Gesellschaften erfolgt die Verteilung des Überschusses an die Gesellschafter (§ 199 S. 2 InsO). Nur an diesem Punkt des Insolvenzverfahrens können Gesellschafter ihre mitgliedschaftlichen Vermögensrechte, wie erbrachte Einlagen oder Beiträge oder Abfindungsansprüche, die der Kapitalerhaltung (§§ 30, 31 GmbHG) unterlagen, zurückfordern. BGH NZI 2020, 371 Rn. 27 ff., 36 ff. Da das Vorhandensein eines Überschusses in der Praxis so gut wie nie vorkommt, werden Forderungen, die aus der Mitgliedschaft resultieren, so gut wie nie befriedigt. Aus § 199 S. 2 InsO kann zudem nicht gefolgert werden, dass der Insolvenzverwalter für den Innenausgleich der Gesellschafter einer Personengesellschaft zuständig ist, BGH NZI 2021, 2021, 494 Rn. 63 ff. da es nicht Aufgabe des Insolvenzverwalters ist, die Liquidation der insolventen Gesellschaft mit dem Ziel der Vollbeendigung vorzunehmen.

F. Beendigung des Insolvenzverfahrens

418

Sobald die Schlussverteilung vollzogen ist, hebt das Insolvenzgericht das Insolvenzverfahren auf (§ 200 InsO). Nicht beendete Rechtstreitigkeiten hindern die Aufhebung nicht. HambKomm-InsR/Preß InsO § 200 Rn. 3. Konnte das Schuldnervermögen in der Schlussverteilung noch nicht vollständig verteilt werden (z.B. ein Rechtsstreit über Aktiva wird erst nach Aufhebung des Insolvenzverfahrens gewonnen), muss noch eine Nachtragsverteilung erfolgen (§ 203 InsO). In manchen Fällen muss das Insolvenzverfahren sogar vorzeitig abgebrochen werden, weil einfach nicht genug Masse für die Gläubiger vorhanden ist. Dann endet das Insolvenzverfahren mit der Einstellung (§§ 207 ff. InsO). Alle drei Konstellationen werden im Folgenden behandelt.

I. Aufhebung des Insolvenzvertrages

1. Folgen für natürliche Personen und Gesellschaften

419

Ist die Schlussverteilung vollzogen (§ 196 InsO), wird das Insolvenzverfahren förmlich durch Beschluss des Insolvenzgerichts aufgehoben (§ 200 Abs. 1 InsO). Alle Wirkungen des Insolvenzbeschlags entfallen. Die Rechtswirkungen der Aufhebung treten bereits im Zeitpunkt der Beschlussfassung ein. HambKomm-InsR/Preß InsO § 200 Rn. 15. Mit der Insolvenzaufhebung endet das Amt des Insolvenzverwalters. Seine Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis entfällt. Ist der Schuldner eine natürliche Person, erhält er mit dem Aufhebungsbeschluss die volle Verfügungsbefugnis über sein Vermögen zurück (§ 259 Abs. 1 S. 2 InsO). BGH NZI 2021, 45 Rn. 20; NJW 2019, 2156 Rn. 39. Dies gilt auch für die Prozessführungsbefugnis. Ist der Schuldner eine juristische Person, wird die aufgelöste Gesellschaft (z.B. § 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG) wegen Vermögenslosigkeit von Amts wegen aus dem Register gelöscht (§ 394 FamFG). Ein Fortsetzungsbeschluss ist nach der Schlussverteilung nicht mehr möglich. BGH NZI 2015, 775 Rn. 12; KG NZI 2017, 269, 270. Schwebende Anfechtungsprozesse darf der Verwalter fortsetzen, da diese weiterhin dem Insolvenzbeschlag unterliegen. HambKomm-InsR/Preß InsO § 200 Rn. 18. Er muss dem Schuldner bzw. den Gesellschaftern (oder einem Dritten) die gesamten Unterlagen (Bücher, Geschäftspapiere, Urkunden etc.) zur Aufbewahrung zurückgeben (vgl. § 74 Abs. 2 GmbHG).

Beispiel

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Für die MODEHAUS GmbH, die mit Eröffnung des Insolvenzverfahrens aufgelöst wird (§ 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG), markiert der Aufhebungsbeschluss (§ 200 InsO) das rechtliche Ende. Mit der vollständigen Verwertung des Vermögens tritt Vollbeendigung ein. Nach der Schlussverteilung steht fest, dass die aufgelöste GmbH vermögenslos ist. Nun folgt die Löschung im Handelsregister (§ 394 Abs. 1 S. 2 FamFG). Die Gesellschafter Max (M) und Fred (F) müssen die Geschäftsunterlagen zurücknehmen; es gilt eine zehnjährige Aufbewahrungsfrist (§ 74 Abs. 2 GmbHG).

2. Nachforderungsrecht der Insolvenzgläubiger

420

Für den Schuldner, der seine Verfügungsbefugnis wiedererlangt, hat die Aufhebung des Insolvenzverfahrens aber auch Schattenseiten. Da das Vollstreckungsverbot des § 89 InsO nach dem Aufhebungsbeschluss nicht mehr gilt, können die Gläubiger die Einzelzwangsvollstreckung in das neu erlangte Vermögen des Schuldners betreiben, sofern sie im Insolvenzverfahren keine 100%ige Quote erhalten haben. Vgl. Jauernig/Berger/Thole Insolvenzrecht § 30 Rn. 3 f. Als Vollstreckungstitel steht ihnen der Auszug aus der Insolvenztabelle zur Verfügung; denn die Eintragung in die Insolvenztabelle wirkt für festgestellte Forderungen, gegen die der Schuldner keinen Widerspruch erhoben hat, wie ein vollstreckbares Urteil (§ 201 Abs. 2 InsO). Diesem Nachforderungsrecht kann der Schuldner nur entgehen, indem er Restschuldbefreiung beantragt. Während der Wohlverhaltensperiode gilt das Vollstreckungsverbot des § 294 Abs. 1 InsO, so dass Einzelzwangsvollstreckungsmaßnahmen in diesem Zeitraum untersagt sind. Nach Erteilung der Restschuldbefreiung gelten alle Altschulden als „erlassen“ (vgl. § 301 Abs. 1 InsO), so dass das Nachforderungsrecht ein für alle Mal beendet ist und der Tabellenauszug keinen Nutzen mehr hat. Ausgenommen sind die in § 302 Nr. 1 bis 3 InsO aufgezählten Forderungen.

II. Nachtragsverteilung

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Das Insolvenzgericht ordnet nach § 203 Abs. 1 InsO auf Antrag des Insolvenzverwalters oder des Insolvenzgläubigers oder von Amts wegen eine Nachtragsverteilung an, wenn es nach dem Schlusstermin (§ 203 Abs. 1 InsO) oder nach der Aufhebung des Insolvenzverfahrens (§ 203 Abs. 2 InsO) noch zu Massezuflüssen kommt. Zur Auslegung des Antrags BGH NZI 2017, 608 Rn. 10 ff. Das kann passieren, wenn erst nachträglich Zahlungen erfolgen, z.B. weil es zu Steuererstattungen kommt oder ein Prozess gewonnen wird, oder Gegenstände, die der Verwalter zunächst für unverwertbar hielt, doch noch zur Masse gezogen werden (§ 203 Abs. 1 Nr. 3 InsO). BGH NZI 2020, 839 Rn. 29; NZI 2019, 419 Rn. 26; NZI 2017, 608 Rn. 18. Das Gericht muss gegebenenfalls von Amts wegen ermitteln (§ 5 InsO), ob ein Gegenstand massezugehörig ist. BGH NZI 2017, 608 Rn. 16. Der Schuldner ist zudem auskunftspflichtig (§ 97 InsO). BGH NZI 2016, 365 Rn. 14. Die Anordnung der Nachtragsverteilung erfolgt durch Beschluss, in dem das Gericht einen Insolvenzverwalter zu bestellen hat (vgl. § 205 InsO). Zudem müssen die betreffenden Gegenstände im Beschluss ausreichend bestimmt bezeichnet werden, damit die Beschlagnahmewirkung eintritt und der Insolvenzverwalter die Verfügungsbefugnis über die Gegenstände erhält. BGH NZI 2019, 419 Rn. 26; NZI 2017, 608 Rn. 15; NZI 2016, 365 Rn. 8, 13. Die Verteilung erfolgt nach Maßgabe des Schlussverzeichnisses (§ 205 S. 1 InsO).

III. Einstellung des Insolvenzverfahrens

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Das Insolvenzverfahren ist vorzeitig zu beenden, wenn während des Verfahrens „das Geld ausgeht“ (Insolvenz in der Insolvenz). Die InsO unterscheidet hierbei zwei Situationen. Bei Massearmut (§ 207 InsO) ist das Insolvenzverfahren sofort einzustellen. Bei Masseunzulänglichkeit (§ 208 InsO) muss noch eine „Restabwicklung“ erfolgen. Des Weiteren ist das Insolvenzverfahren auf Antrag des Schuldners einzustellen, wenn der Eröffnungsgrund weggefallen ist (§ 212 InsO), oder wenn die Insolvenzgläubiger dem zustimmen (§ 213 InsO). Die Einstellung hat weitgehend dieselben Wirkungen wie die Aufhebung des Verfahrens (vgl. § 215 InsO). Näher Becker Insolvenzrecht § 10 Rn. 55.

1. Einstellung mangels Masse

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Stellt sich während des Insolvenzverfahren heraus, dass das eingenommene Geld nicht einmal ausreicht, um die voraussichtlichen Kosten des Verfahrens (§ 54 InsO) zu decken (sog. Massearmut), ist das Insolvenzverfahren unverzüglich nach Anhörung der Gläubigerversammlung sowie der Massegläubiger einzustellen (§ 207 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 InsO). Der Verwalter ist nicht mehr zur Verwertung der Masse verpflichtet (§ 207 Abs. 3 S. 2 InsO). Das „staatliche Programm“ wird gestoppt. Vorhandenes Bargeld (auch Bankguthaben) verteilt der Verwalter an sich (für seine Auslagen) und an das Gericht, um dessen Auslagen auszugleichen (§ 207 Abs. 3 S. 1 InsO).

2. Masseunzulänglichkeit

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Ist noch ausreichend Masse für die Verfahrenskosten (§ 54 InsO) vorhanden, reicht das Geld aber nicht für alle Massegläubiger (sog. Masseunzulänglichkeit), richtet sich das weitere Programm nach § 208 InsO. Der Insolvenzverwalter muss dem Insolvenzgericht die Masseunzulänglichkeit anzeigen, sobald er diese erkennt (§ 208 Abs. 1 S. 1 InsO). Das Gericht muss die Anzeige veröffentlichen (§§ 208 Abs. 2 S. 1, 9 InsO) und diese den Massegläubigern gesondert zustellen (§ 208 Abs. 2 S. 2). Das Insolvenzverfahren wird fortgesetzt (§ 208 Abs. 3 InsO). Der Insolvenzverwalter muss seinen Aufgabenkreis weiter erfüllen. Er bleibt insbesondere verpflichtet, das gesamte zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen zu verwerten. BGH NZG 2021, 505 Rn. 60; BAG NZI 2018, 450 Rn. 12. Seinen Hauptzweck aber, die Insolvenzgläubiger (§ 38 InsO) quotal zu befriedigen, kann das Insolvenzverfahren nicht mehr erfüllen (die Quote beträgt 0 %). Paulus Insolvenzrecht § 3 Rn. 266. Als „Insolvenzprogramm light“ wird es nur noch für die Bezahlung der Verfahrenskosten (Gebühren von Gericht und Insolvenzverwalter) und für die Massegläubiger weiter geführt.

425

Dabei kommt es zu einer Neuordnung der Rangfolge der Masseverbindlichkeiten (§ 209 InsO). BAG NZI 2021, 446 Rn. 5. Die Neuordnung gibt dem Insolvenzverwalter den nötigen Spielraum, um die Verwertung auch bei Masseunzulänglichkeit zum Abschluss zu bringen. BAG NZI 2018, 450 Rn. 12. An erster Rangstelle stehen die Verfahrenskosten, die als erstes (vollständig) zu begleichen sind (§ 209 Abs. 1 Nr. 1 InsO). BGH NZI 2006, 392, 394; Braun/Ludwig InsO § 209 Rn. 6. Als zweites werden die sog. Neumasseverbindlichkeiten bedient (§ 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO). Dabei handelt es sich um Masseverbindlichkeiten, die nach Anzeige der Masseunzulänglichkeit entstanden sind (§ 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO). Dazu gehören Verbindlichkeiten aus einem gegenseitigen Vertrag, der nach der Anzeige geschlossen wurde (§ 209 Abs. 2 Nr. 1 InsO). Für Dauerschuldverhältnisse (insbesondere Arbeitsverträge) gelten § 209 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 3 InsO. Hat der Insolvenzverwalter nach der Anzeige der Masseunzulänglichkeit die Gegenleistung beansprucht, ist der Anspruch Neumasseverbindlichkeit (Nr. 3). Hat er das Arbeitsverhältnis zum ersten möglichen Termin gekündigt und den Arbeitnehmer freigestellt, sind die Ansprüche bis zur Kündigung Altmasseverbindlichkeiten, bei nicht rechtzeitiger Kündigung sind die nach dem Kündigungstermin entstandenen Annahmeverzugsansprüche Neumasseverbindlichkeiten (Nr. 2). BAG NZI 2018, 450 Rn. 13. Zur Vermeidung von Neumasseverbindlichkeiten muss der Verwalter also zum erstmöglichen Kündigungstermin wirksam kündigen. An dritter Rangstelle stehen die Altmasseverbindlichkeiten, die als letztes beglichen werden (§ 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO). Das sind die Masseverbindlichkeiten, die zwischen Eröffnung des Insolvenzverfahrens und der Anzeige der Masseunzulänglichkeit entstanden sind.

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