Inhaltsverzeichnis
- III. Anfechtungserklärung
- 1. Inhalt der Anfechtungserklärung
- a) Anfechtungswille und angefochtenes Rechtsgeschäft
- b) Begründung
- c) Bedingungs- und Befristungsfeindlichkeit
- 2. Erklärungsempfänger
- a) Anfechtungsgegner bei Verträgen
- b) Anfechtungsgegner bei einseitigen Rechtsgeschäften
- aa) Fälle des § 143 Abs. 3
- bb) Fälle des § 143 Abs. 4
III. Anfechtungserklärung
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Die Anfechtung wird durch eine empfangsbedürftige Willenserklärung des Anfechtungsberechtigten gegenüber dem Anfechtungsgegner ausgeübt, § 143 Abs. 1. Es handelt sich somit um ein einseitiges Rechtsgeschäft, das durch wirksame Anfechtungserklärung zustande kommt. Da das angefochtene Rechtsgeschäft seine Wirksamkeit grundsätzlich rückwirkend („ex tunc“) verliert, § 142 Abs. 1 und diese Gestaltung alleine von der Wahl des Anfechtungsberechtigten abhängt, ist das Anfechtungsrecht zugleich ein Gestaltungsrecht.
1. Inhalt der Anfechtungserklärung
a) Anfechtungswille und angefochtenes Rechtsgeschäft
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Eine Anfechtungserklärung ist jede Willenserklärung, die – aus der Sicht eines redlichen Empfängers (§§ 133, 157) – erkennen lässt, dass ein bestimmtes Rechtsgeschäft rückwirkend beseitigt werden soll.
BGHZ 91, 324 ff. unter Ziff. II 1; Palandt-Ellenberger § 143 Rn. 3. Es bedarf dabei nicht des ausdrücklichen Gebrauchs des Wortes „anfechten“. In jedem Fall ist aber erforderlich, dass sich aus der Äußerung für den Empfänger der Wille des Erklärenden ergibt, ein bestimmtes Geschäft gerade wegen eines Willensmangels nicht bestehen lassen zu wollen.BGHZ 91, 324 ff. unter Ziff. II 1.Beispiel
A will auf der Internetplattform von eBay den Kauf seiner Waschmaschine per „Sofortkauf“ für 300 € anbieten. Bei der Eingabe vertippt sich der A aber, so dass sein Angebot mit einem Preis von 200 € erscheint. B nimmt das Angebot von A an. Als B von A die Übereignung und Übergabe der Waschmaschine verlangt, teilt A dem B mit:
„Ihre Auffassung, wonach zwischen uns ein Kaufvertrag über die Waschmaschine zu einem Preis von 200 € zustandegekommen sein soll, trifft nicht zu. Ich bin zu einer Lieferung für 200 € nicht bereit, sondern nur für 300 €.“
Diese Formulierung bringt auch bei redlichem Verständnis noch keinen Anfechtungswillen zum Ausdruck und genügt daher nicht.
BGHZ 91, 324 ff. unter Ziff. II 1 im berühmten „Sparkassenfall“ zu einer ähnlichen Formulierung.Anders wäre es schon, wenn A formuliert hätte:
„Ich hatte mich bei Eingabe des Preises leider vertippt und war von Anfang an nur zu einer Lieferung für 300 € bereit. Ich lehne einen Verkauf für 200 € deshalb ab.“
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Die Anfechtungserlärung muss nicht nur den Anfechtungswillen erkennen lassen, sondern auch, welches Rechtsgeschäft angefochten werden soll. Bei der Anfechtung von Verträgen stellt sich im Hinblick auf das Trennungsprinzip
Siehe dazu im Skript „BGB AT I“ unter Rn. 80 ff. die Frage, ob nur der schuldrechtliche Vertrag, nur der dingliche Vertrag oder beide Verträge angefochten werden sollen. Dem Anfechtenden wird häufig gar nicht bewusst sein, dass im deutschen Recht eine derartige Unterscheidung existiert. Für die Auslegung vom Empfängerhorizont gem. §§ 133, 157 ist hier entscheidend, welchen Anfechtungsgrund die Erklärung erkennen lässt (siehe dazu sogleich unter Rn. 336) und ob dieser Anfechtungsgrund nur beim schuldrechtliche oder nur beim dinglichen Geschäft oder bei beiden Rechtsgeschäften eine Rolle gespielt haben kann. Ob sich der Anfechtungsgrund auch tatsächlich auf das jeweilige schuldrechtliche oder dingliche Rechtsgeschäft ausgewirkt hat, ist eine Frage der Kausalität und (erst) bei der Anfechtungsberechtigung zu prüfen.Expertentipp
Im Zweifel ist die Anfechtungserklärung weit auszulegen und eine Anfechtungserklärung sowohl in Bezug auf das schuldrechtliche als auch auf das dingliche Rechtsgeschäft anzunehmen. Auf der Ebene der Kausalitätsprüfung im Rahmen der Anspruchsberechtigung ist dann zu prüfen, ob sich der Anfechtungsgrund überhaupt auf das jeweilige Rechtsgeschäft ausgewirkt hat. Diese Frage sollten Sie möglichst noch nicht bei der Anfechtungserklärung erörtern.
Beispiel
V verkauft dem K ein Handy und tippt dabei wegen eines „Zahlendrehers“ versehentlich einen zu niedrigen Preis in die Kasse. Der Kaufvertrag wird mit dem „falschen“ Preis geschlossen. Der Fehler klärt sich erst nach beiderseitiger Erfüllung des Kaufvertrages auf. V erklärt gegenüber K die Anfechtung „unseres Geschäfts“, weil er sich bei der Preisangabe geirrt hätte. Hier ergibt die Auslegung, dass V mit „Geschäft“ im Zweifel den gesamten Veräußerungsvorgang, also sowohl das schuldrechtliche als auch das dingliche Rechtsgeschäft gemeint hat und seine Anfechtung auf beide Rechtsgeschäfte beziehen will. Denn es ist nicht davon auszugehen, dass ihm die Trennung des Veräußerungsvorganges in schuldrechtliches und dingliches Geschäft überhaupt geläufig ist.
Der geltend gemachte Anfechtungsgrund (Erklärungsirrtum i.S.d. § 119 Abs. 1 Var. 2, vgl. Rn. 354 ff.) kann sich aber nur auf das schuldrechtliche Rechtsgeschäft, den Kaufvertrag, ausgewirkt haben. Bei der Übereignung des Handys nach § 929 S.1 spielte der Preis keine Rolle, weil sich dieses Rechtsgeschäft in der Verschaffung des Eigentums an dem Handy erschöpft. Der Preis gehörte dort nicht zum Erklärungstatbestand. Eine Anfechtungsbefugnis scheidet damit in Bezug auf das dingliche Rechtsgeschäft aus.
b) Begründung
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Das Gesetz verlangt in § 143 oder an anderer Stelle nicht, dass der Anfechtende in seiner Anfechtungserklärung den Anfechtungsgrund angeben müsste. Daraus könnte man den Schluss ziehen, die Anfechtungserklärung sei auch ohne Angaben von Gründen wirksam. Eine solche Betrachtung würde den Anfechtungsgegner aber benachteiligen, da diesem dann eine Überprüfung der Anfechtungsberechtigung erschwert wird. Die herrschende Meinung beantwortet die Frage nach dem Anfechtungsgrund folgendermaßen: Eine Begründung muss der Anfechtende nicht ausdrücklich nennen. Der Anfechtungsgrund muss dem Anfechtungsgegner aber zumindest anhand der Erklärung oder aus den Umständen im Wege der Auslegung (§§ 133, 157) erkennbar sein.
Medicus/Petersen Allgemeiner Teil des BGB Rn. 724; Palandt-Ellenberger § 143 Rn. 3.337
Jedes „Nachschieben“ von zunächst nicht erkennbaren Gründen stellt bei dieser Betrachtung eine neue Anfechtungserklärung dar, die nach Ablauf der Anfechtungsfristen nicht mehr wirksam erklärt werden kann. Ein „Nachschieben“ von zunächst nicht erkennbaren Gründen ist somit nur innerhalb der Anfechtungsfristen möglich.
Palandt-Ellenberger § 143 Rn. 3 m.w.N.c) Bedingungs- und Befristungsfeindlichkeit
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Wie jede Gestaltungserklärung ist auch die Anfechtungserklärung nach dem Rechtsgedanken des § 388 S. 2 bedingungs- und befristungsfeindlich.
Medicus/Petersen Allgemeiner Teil des BGB Rn. 725; Palandt-Ellenberger § 143 Rn. 3.Beispiel
Die Anfechtungserklärung lautet: „Ich fechte mein Verkaufsangebot wegen meines Schreibfehlers („Kaufpreis: 200 €“ statt korrekt: „Kaufpreis: 300 €“) unter der Bedingung an, dass meine Freundin dieser Anfechtung zustimmt.“
Diese Erklärung ist unwirksam, da die Anfechtungswirkung von einem ungewissen tatsächlichen Ereignis (Zustimmung der Freundin) abhängig gemacht wird.
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Der Zwang zur unbedingten und unbefristeten Ausübung des Anfechtungsrechts ist der Preis, den der Anfechtungsberechtigte für die einseitig ihm zugewiesene Gestaltungsmacht zu zahlen hat. Er muss den Anfechtungsgegner anhand seiner Erklärung eindeutig darüber in Kenntnis setzen, ob das angefochtene Rechtsgeschäft nun weiterhin gilt oder nicht. Der Empfänger als rein passiv Beteiligter darf über die Wirkung der Anfechtungserklärung nicht in weiterer Ungewissheit gelassen werden.
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Zulässig ist lediglich eine Anfechtung unter einer Rechtsbedingung, indem sie nur für den Fall erklärt wird, dass sich die Rechtsansicht des Anfechtenden als falsch erweist.
Beispiel
„Sollte mein Vertragsangebot tatsächlich so auszulegen sein, dass ich Ihnen den Verkauf meiner Waschmaschine zu einem Preis von 200 € angetragen habe, erkläre ich hiermit die Anfechtung dieses Angebots. Ich habe mich leider verschrieben. Korrekt hätte mein Angebot über einen Betrag von 300 € lauten sollen.“
Die Wirkung der Anfechtung hängt hier gerade nicht von dem ungewissen Eintritt tatsächlicher Umstände ab. Vielmehr kann der Bedingungseintritt gleichzeitig mit der Anfechtungsberechtigung überprüft werden, weil die maßgebliche Rechtslage zum Zeitpunkt der Anfechtungserklärung objektiv schon feststeht und ein Gericht – wenn es zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung über diese Frage käme – sowohl die Bedingung als auch die Anfechtung in demselben Verfahren beurteilen würde.
BGH NJW 1968, 2099; Palandt-Ellenberger § 143 Rn. 2; Leenen BGB AT § 14 Rn. 19 ff.341
Der Anfechtende muss seine Anfechtung nicht auf das gesamte Rechtsgeschäft beziehen, sondern kann die Anfechtung auf einen Teil beschränken. Eine solche Teilanfechtung setzt aber voraus, dass das Rechtsgeschäft teilbar ist und der angefochtene Teil eine abtrennbare Einheit darstellt. Anderenfalls ist die Teilanfechtung unwirksam.
Palandt-Ellenberger § 143 Rn. 2. Die Wirkungen einer (wirksamen) Teilanfechtung auf das unangefochtene Rechtsgeschäft bestimmen sich nach § 139 (dazu unter Rn. 453 ff. unten).Beispiel
V verkauft dem K nicht nur ein Handy, sondern auch ein passendes Ladekabel. Wieder wird der Preis für das Handy aufgrund eines Tippfehlers zu niedrig angegeben, der Preis für das Ladekabel hingegen korrekt. Hier läge ein Kaufvertrag über das Handy und den passenden Zubehörartikel vor. Da es sich um zwei selbständige Kaufobjekte handelt, lässt sich der Kaufvertrag entsprechend in den Teil „Handy“ und „Ladekabel“ trennen. Wenn V nun wirksam den Teil „Verkauf Handy“ anficht, bleibt der Verkauf des Ladekabels übrig. Da das Ladekabel ohne das passende Handy für K nutzlos ist, führt die Anwendung des § 139 zu Nichtigkeit auch dieses Teils.
2. Erklärungsempfänger
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Die Anfechtungserklärung ist eine empfangsbedürftige Willenserklärung, die nach § 143 Abs. 1 durch Zugang beim Anfechtungsgegner wirksam wird.
Zum Zugang ausführlich im Skript S_JURIQ-RGL1/Teil_3/Kap_C/Abschn_II/Nr_5/Rz_123S_JURIQ-RGL1/Teil_3/Kap_C/Abschn_I/Nr_5/Bst_b/Rz_123„BGB AT I“ unter Rn. 123 ff. § 143 Abs. 2–4 bestimmen den jeweiligen Anfechtungsgegner, gegenüber dem die Anfechtung zu erklären ist.
a) Anfechtungsgegner bei Verträgen
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Bei der Anfechtung der auf Abschluss eines Vertrages gerichteten Willenserklärung ist Anfechtungsgegner „der andere Vertragsteil“, § 143 Abs. 2 Hs. 1, also derjenige der Vertragspartner geworden ist.
Hinweis
Wurde die andere Partei bei Vertragsschluss wirksam vertreten, ist nach § 164 Abs. 1 der Vertretene Vertragspartner geworden. Anfechtungsgegner ist der Vertretene und nicht etwa der Stellvertreter!
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Für den Fall der arglistigen Täuschung bei Abschluss eines echten Vertrages zugunsten Dritter ist nach § 143 Abs. 2 Hs. 2 der Dritte Anfechtungsgegner: Er hat ja nach § 328 Abs. 1 unmittelbar aus dem Vertrag den Leistungsanspruch erworben und muss deshalb über den beabsichtigten Fortfall des Vertrages durch Anfechtungserklärung informiert werden.
b) Anfechtungsgegner bei einseitigen Rechtsgeschäften
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Bei einseitigen Rechtsgeschäften differenzieren § 143 Abs. 3 und Abs. 4 je nachdem, ob das Rechtsgeschäft aus einer empfangsbedürftigen oder nicht empfangsbedürftigen Willenserklärung bestand.
Im Familien- und Erbrecht finden sich auch hier wieder Sondervorschriften.aa) Fälle des § 143 Abs. 3
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Besteht das einseitige Rechtsgeschäft aus einer empfangsbedürftigen Willenserklärung, ist die Anfechtung dieser Erklärung an diejenige Person zu richten, der gegenüber die Erklärung abgegeben wurde, § 143 Abs. 3 S. 1.
Beispiel
Die Anfechtung einer Kündigungs-, Rücktritts-, Widerrufs-, Aufrechnungs- oder einer Zustimmungserklärung oder einer Vollmachtserteilung muss durch Erklärung gegenüber dem Empfänger der angefochtenen Erklärung erfolgen.
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Stellt das Gesetz dem Erklärenden – wie beispielsweise in § 875 Abs. 1 S. 2 – neben einer Person alternativ eine Behörde als Empfänger zur Verfügung, ist die Anfechtung nach § 143 Abs. 3 S. 2 stets gegenüber der Person zu erklären. Denn nur diese wird in den einschlägigen Fällen durch die Anfechtung in ihren Rechten betroffen und muss daher zwingend von der Anfechtung erfahren.
bb) Fälle des § 143 Abs. 4
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§ 143 Abs. 4 behandelt schließlich die einseitigen Rechtsgeschäfte „anderer Art“. Das sind diejenigen einseitigen Rechtsgeschäfte, die auf einer Willenserklärung beruhen, die entweder überhaupt nicht empfangsbedürftig ist
Beispiel
Auslobung (§ 657) oder Aufgabe des Eigentums an beweglichen Sachen (§ 959)
oder nur gegenüber einer Behörde abzugeben war.
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Hier ist Anfechtungsgegner jeder, der „auf Grund des Rechtsgeschäfts unmittelbar einen rechtlichen Vorteil erlangt hat". Bei gegenüber einer Behörde abzugebenden Erklärungen kann die Erklärung auch wahlweise nur der Behörde gegenüber angefochten werden.
Beispiel
Die Kundgabe der Absicht, das Eigentum an einer beweglichen Sache aufzugeben (§ 959) ist also gegenüber demjenigen anzufechten, der sich diese Sache daraufhin nach § 958 angeeignet hat.
Palandt-Ellenberger § 143 Rn. 7. Besteht über die Identität dieser Person Ungewissheit, muss die Anfechtungserklärung gem. § 132 Abs. 2 öffentlich zugestellt werden.