A Sachverhalt:
Die Klägerin (K), die mit Kraftfahrzeugen handelt, veräußerte dem Beklagten (B) aufgrund einer Bestellung ein Neufahrzeug zum Preis von 20.000 €. Die Parteien vereinbarten kostenfreie Lieferung an den Wohnsitz des B. Bei Anlieferung am 16. Juli 2013 wies das Fahrzeug an der Fahrertür eine Lackbeschädigung auf.
Noch am gleichen Tag erklärte der B telefonisch, dass er das Fahrzeug "zurückweise", und teilte der K per Telefax mit: "Leider ist die kleine Delle, wie im Lieferschein beschrieben, nicht so ganz klein. Diese verläuft über die Grundierung bis aufs Grundmaterial (Blech) spitz in ca. 2-3 mm tief hinein. […] Bis zur endgültigen Klärung des Sachverhaltes kann ich den Zahlungsauftrag nicht freigeben."
Mit Schreiben vom 17. Juli 2013 machte die K geltend, es handele sich um einen "Bagatellschaden" und bat um Überweisung des vollständigen Kaufpreises.
Der B übersandte ihr daraufhin den Kostenvoranschlag eines Autolackierbetriebes vom 17. Juli 2013, wonach Lackierkosten in Höhe von 528,30 € entstünden. Die K erklärte mit Schreiben vom 25. Juli 2013, sie werde bei Vorlage des Originals der Reparaturrechnung ohne Anerkennung einer Rechtspflicht maximal 300 € übernehmen.
Nachdem der B sie mit Anwaltsschreiben vom 26. Juli 2013 unter Fristsetzung bis zum 10. August 2013 aufgefordert hatte, den Lackschaden für ihn kostenfrei zu beheben, ließ sie das vom B bisher nicht benutzte Fahrzeug am 6. August 2013 zurückholen.
B verlangte mit Anwaltsschreiben vom 11. September 2013 das Fahrzeug nunmehr unverzüglich auszuliefern. Daraufhin teilte die K dem B am 12. September 2013 mit, es stehe zur Abholung durch ihn bereit. Am 6. Oktober 2013 lieferte K das hinsichtlich des Lackschadens reparierte Fahrzeug aus. Daraufhin entrichtete der B den vollständigen Kaufpreis.
Die K macht Verzugsschäden geltend.
1 Durfte B den (gesamten) Kaufpreis zurückbehalten?
2 Ist B in Verzug mit der Annahme der Leistung geraten?
B Leitsatz:
"Im Hinblick auf die Verpflichtung des Verkäufers zur Verschaffung einer von Sach- und Rechtsmängeln freien Sache (§ 433 Abs. 1 Satz 2 BGB) ist der Käufer bei behebbaren Mängeln, auch wenn sie geringfügig sind, grundsätzlich berechtigt, gemäß § 320 Abs. 1 BGB die Zahlung des (vollständigen) Kaufpreises und gemäß § 273 Abs. 1 BGB die Abnahme der gekauften Sache bis zur Beseitigung des Mangels zu verweigern, soweit sich nicht aus besonderen Umständen ergibt, dass das Zurückbehaltungsrecht in einer gegen Treu und Glauben (§ 242 BGB) verstoßenden Weise ausgeübt wird."
C Lösung:
I Berechtigung zur Leistungsverweigerung im Hinblick auf den gesamten Kaufpreis
Fraglich ist, ob B zur Leistungsverweigerung im Hinblick auf den gesamten Kaufpreis berechtigt war.
1 Zurückbehaltungsrecht aus § 320
Gemäß § 320 steht es im Rahmen eines gegenseitigen Vertrags jeder Vertragspartei – sofern sie nicht zur Vorleistung verpflichtet ist – frei, die ihr obliegende Leistung bis zur Bewirkung der Gegenleistung zu verweigern.
Eine Vorleistungspflicht besteht im Rahmen eines Kaufvertrags in Ermangelung einer abweichenden Vereinbarung grundsätzlich nicht.
K war gemäß § 433 Absatz 1 Satz 2 verpflichtet der B die Sache frei von Sach- und Rechtsmängeln zu verschaffen. Damit wurde ein Fahrzeug mit makelloser Lackierung geschuldet. Auch war K nicht teilweise von der Leistungspflicht infolge von Unmöglichkeit („qualitative (Teil-)Unmöglichkeit“) befreit.
Demnach stand dem B ein Verweigerungsrecht aus § 320 zu.
2 Korrektur nach § 242
Fraglich ist, ob eine Korrektur dieses Ergebnisses – insbesondere im Hinblick auf die Zurückbehaltung des gesamten Kaufpreises – nach den Grundsätzen von Treu und Glauben veranlasst ist.
So ist grundsätzlich anerkannt, dass der Käufer die Zahlung des Kaufpreises nach § 320 Abs. 1 Satz 1 ausnahmsweise nicht oder nicht vollständig verweigern darf, wenn dies nach den Gesamtumständen, insbesondere wegen verhältnismäßiger Geringfügigkeit der Pflichtverletzung des Verkäufers gegen Treu und Glauben verstößt. Im vorliegenden Fall liegt jedoch keine solche Geringfügigkeit vor.
Die Beurteilung der Erheblichkeit erfolgt an einer umfassenden Interessenabwägung auf Grundlage der Umstände im Einzelfall. Im vorliegenden Fall ist die Erheblichkeit des Mangels durch die Beschaffenheitsvereinbarung „Fabrikneu“ indiziert. Neben den Kosten für die Nachlackierung gilt es auch die Notwendigkeit der Verbringung des Fahrzeugs zur K und die damit verbundenen Kosten zu berücksichtigen. Auch wurde dem B nicht einmal angeboten die Behebung des Lackschadens zu organisieren und zu besorgen. Es ist nicht Obliegenheit des Käufers die Mangelfreiheit der angebotenen Kaufsache sicherzustellen. Auch wurde die Bereitschaft zur Übernahme der notwendigen Kosten nur teilweise bekundet und mit einer Obergrenze von 300 € versehen. Auf diese Weise wurde dem B das Risiko etwaiger unwirtschaftlicher oder unsachgemäßer Arbeitsweise der Werkstatt zugewiesen.
Eine Korrektur nach Treu und Glauben ist daher nicht vorzunehmen.
3 Ergebnis
B stand bis zur vollständigen mangelfreien Leistung ein umfassendes Verweigerungsrecht aus § 320 zu.
II Ist B in Verzug mit der Annahme der Leistung geraten?
1 Verpflichtung zur Abnahme
Fraglich ist, ob B mit der Verpflichtung zur Abnahme in Verzug geraten ist. Dies wäre dann nicht der Fall, wenn ihm ein Leistungsverweigerungsrecht zustünde.
2 Leistungsverweigerungsrecht aus § 320
Ein Leistungsverweigerungsrecht gemäß § 320 Abs. 1 Satz 1 stand dem B gerade nicht zu. Ein solches gilt nur für Verpflichtungen, die im Gegenseitigkeitsverhältnis stehen. Regelmäßig stellt die Verpflichtung des Käufers auf Abnahme der Kaufsache keine Gegenleistung zur Lieferung der Kaufsache dar. Ein Leistungsverweigerungsrecht aus § 320 kommt daher von vornherein nicht in Betracht.
3 Leistungsverweigerungsrecht aus § 273
Fraglich ist, ob B sich auf ein Leistungsverweigerungsrecht aus § 273 berufen kann. Eine entsprechende Ausübung des Verweigerungsrechts wurde am 16. Juli 2013 zumindest konkludent - durch die Zurückweisung - geltend gemacht.
Fraglich ist, ob ein Zurückweisungsrecht des Käufers wegen Geringfügigkeit des Mangels ausscheiden muss. Dies wurde von der Rechtsprechung bisher offen gelassen.
Hinweis
Die herrschende Ansicht in der Literatur löst diese Problematik im Ergebnis gleichlautend über § 266.
Der BGH sieht die Erheblichkeit der Pflichtverletzung nicht als relevantes Kriterium im Rahmen von § 273 an.
Zur Begründung wird insbesondere angeführt, dass § 433 Abs. 1 Satz 2 die Lieferung der Sache frei von Sach- und Rechtsmängeln fordert ohne auf die Erheblichkeit der Pflichtverletzung abzustellen. Demnach enthält die Vorschrift keine vergleichbare Regelung zu den § 323 Abs. 5 Satz 2, § 281 Abs. 1 Satz 3.
Die zuletzt genannten Vorschriften beschäftigen sich mit der Frage wann der Bestand des Kaufvertrags insgesamt in Frage gestellt werden kann. § 273 hat eine andere Zielrichtung.
Durch das Recht der Zurückweisung erhält der Käufer das erforderliche und vom Gesetzgeber vorgesehene Druckmittel, um den Verkäufer zur ordnungsgemäßen Erfüllung des Kaufvertrags anzuhalten. Dem Käufer kann nicht abverlangt werden die mangelhafte Sache sehenden Auges anzunehmen und sodann (bloß) Sachmängelrechte geltend zu machen.
Hinweis
Auch kann § 640 Absatz 1 Satz 2 nicht analog zur Anwendung kommen. Diese Bestimmung, die durch das Gesetz zur Beschleunigung fälliger Zahlungen vom 30. März 2000 (BGBl. I S. 330) eingeführt worden ist, dient spezifisch der Verbesserung der Rechtsstellung des Werkunternehmers. Dieser sei "nach geltendem Werkvertragsrecht des BGB-Werkvertrages in einer sehr schwachen Position, weil er das Werk vollständig herstellen und der Besteller vor vollständiger Herstellung die Vergütung nicht zu zahlen" habe. Daher wollte der Gesetzgeber klarstellen, dass die Abnahme eines Werkes "nur wegen mehr als geringfügiger Mängel" versagt werden kann (siehe Entwurf eines Gesetzes zur Beschleunigung fälliger Zahlungen, BT-Drucks. 14/1246, S. 6).
4 Korrektur nach Treu und Glauben.
In besonders gearteten Fällen kann die Berufung auf § 273 Abs. 1 in Ansehung von § 242 gegen das Verbot unzulässiger Rechtsausübung verstoßen. Anhaltspunkte hierfür sind dem Sachverhalt jedoch nicht zu entnehmen.
5 Ergebnis
Aufgrund der wirksam erhobenen Einrede ist der B weder in Schuldnerverzug noch in Annahmeverzug geraten.