Dem Urteil des BGH (Urt. v. 27.01.2015, Az. VI ZR 548/12, abrufbar unter www.bundesgerichtshof.de = BeckRS 2015, 02887 [beck-online]) lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Am 29. April 2007 gegen 15.20 Uhr befuhr W mit dem bei der Beklagten (B) versicherten Fahrzeug die V. Straße in A. Hierbei überschritt er die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h um mindestens 58 km/h. Er war darüber hinaus in erheblichem Maße alkoholisiert. Nach einer langgezogenen Linkskurve kam W von der Fahrbahn ab und geriet auf die Gegenfahrbahn, wo ihm der Kläger (K) und – hinter diesem – dessen Ehefrau auf Motorrädern mit einer Geschwindigkeit von 50 km/h entgegenkamen. W verfehlte den K nur knapp und erfasste dessen Ehefrau (E), die bei der Kollision tödliche Verletzungen davontrug. Der K begab sich infolge des Unfalls in ärztliche Behandlung bei seinem Hausarzt Dr. F. Dieser diagnostizierte eine akute Belastungsreaktion nach ICD F43.9 G. Im Februar 2008 zog der K aus der vormaligen Familienwohnung aus. Seinen Beruf als Lkw-Fahrer gab er auf und wechselte in den Innendienst.
K begehrt ein Schmerzensgeld in einer Größenordnung von 8.000 €. Er macht geltend, er habe bei dem Unfall einen schweren Schock erlitten, da er miterlebt habe, wie seine Frau bei einem brutalen Verkehrsunfall getötet und er selbst nur um Haaresbreite verfehlt worden sei.
Hat K gegen B den geltend gemachten Anspruch?
Anmerkung: Bei der ICD handelt es sich um die internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. Sie wird von der Weltgesundheitsorganisation herausgegeben. Im Kapitel V (F00-F99) der ICD werden psychische und Verhaltensstörungen beschrieben. Die Untergruppe F40-F48 befasst sich dabei mit neurotischen, Belastungs- und somatoformen Störungen. Gegenstand des Unterabschnitts F43 sind Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen, die als direkte Folge einer akuten schweren Belastung oder eines kontinuierlichen Traumas entstehen, erfolgreiche Bewältigungsstrategien behindern und aus diesem Grunde zu Problemen der sozialen Funktionsfähigkeit führen.
Falllösung:
A. Schmerzensgeldanspruch gemäß §§ 7 Abs. 1, 11 S. 2 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG
K könnt gegen B einen Schmerzensgeldanspruch i.Hv. 8000 € gemäß §§ 7 Abs. 1, 11 S. 2 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG haben.
W ist bei B pflichtversichert. Also könnte demnach auch ein Anspruch gegenüber B bestehen gemäß § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG. Dann müsste ein Schmerzensgeldanspruch gegenüber W bestehen.
Hier könnte K gegen W einen Schmerzensgeldanspruch i.H.v. 8000 € gemäß §§ 7 Abs. 1, 11 S. 2 StVG haben.
I. Haltereigenschaft
W müsste zunächst Halter des Kraftfahrzeugs sein (§ 7 Abs. 1 StVG). Halter ist, wer das Fahrzeug für eigene Rechnung gebraucht und die für den Gebrauch erforderliche tatsächliche Verfügungsgewalt hat (BGHZ 13, 351, 354). Dies ist bei W anzunehmen.
II. Verletzung beim Betrieb des Kraftfahrzeugs
Die Verletzung muss beim Betrieb des Kraftfahrzeugs eingetreten sein, also mit dessen besonderer Gefährlichkeit zusammenhängen. Das wird sehr weit verstanden. Ein Schaden ist danach bereits dann „bei dem Betrieb“ eines Kraftfahrzeuges entstanden, wenn „bei der insoweit gebotenen wertenden Betrachtung das Schadensgeschehen durch das Kraftfahrzeug (mit)geprägt worden ist,“ d. h. die Schädigung „in einem nahen örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem bestimmten Betriebsvorgang oder einer bestimmten Betriebseinrichtung des Kraftfahrzeuges steht“ (Medicus/Lorenz, Schuldrecht II BT, 17. Auflage 2014, Rn. 1375). Hier ist die Frau des K mit W zusammengestoßen und tödlich verunglückt. Infolgedessen hat K einen Schock erlitten. Die Folgebehandlungen wie z.B. das Ausziehen des K aus der Eigentumswohnung beruhen (unstreitig) auf diesem Ereignis. Das Gleiche gilt für das Versetzenlassen in den Innendienst, aufgrund der Unfähigkeit ein Kraftfahrzeug zu steuern. Daher ist die mögliche Gesundheitsverletzung jedenfalls bei Betrieb eines Kraftfahrzeugs eingetreten.
III. Kein Ausschlussgrund gemäß § 7 Abs. 2 StVG
Da der Unfall nicht auf höherer Gewalt beruht, greift der Ausschlussgrund des § 7 Abs. 2 StVG nicht.
IV. Gesundheitsverletzung
Die Verletzung muss nach § 7 Abs. 1 StVG darin bestehen, dass ein Mensch getötet, der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt, oder eine Sache beschädigt (auch zerstört) wird. Hier kommt eine Gesundheitsverletzung des K in Betracht. Die Gesundheitsverletzung bezieht sich auf negative Beeinträchtigungen innerer körperlicher Funktionen (PWW/Schaub, 9. Aufl. 2014, Rn. 24). Wann sog. Schockschäden eine Gesundheitsschädigung darstellen ist problematisch. Unter dem Begriff des Schockschadens werden verschiedene Fälle diskutiert (Dauner-Lieb/Langen/Huber, BGB, Schuldrecht, 2. Auflage 2012, § 253 Rn. 64). Hier geht es um den Fall, in dem eine schwere Verletzung oder der Tod des Erstgeschädigten eine – zumeist psychische – Beeinträchtigung bei einem Zweitgeschädigten auslöst (Dauner-Lieb/Langen/Huber, BGB, Schuldrecht, 2. Auflage 2012, § 253 Rn. 64). Voraussetzung ist eine besonders schwere Verletzung des Erstgeschädigten oder dessen Tod (Dauner-Lieb/Langen/Huber, BGB, Schuldrecht, 2. Auflage 2012, § 253 Rn. 65). Die Schwelle, ab der eine Ersatzfähigkeit bejaht wird, ist sehr hoch. Nach Ansicht des BGH geht es um wenige Härtefälle. Meist geht es nicht um körperlich nachweisbare Schäden (z.B. Verschlimmerung des Herzleidens oder einen Schlaganfall). Im Vordergrund stehen psychische Beschwerden. Soweit diese Folgen bloß in Trauer und Schmerz bestehen, gebührt kein Ersatz. Eine ausgeprägte depressive Stimmungslage ist nicht ausreichend. Verlangt werden traumatische Auswirkungen von einiger Dauer (Dauner-Lieb/Langen/Huber, BGB, Schuldrecht, 2. Auflage 2012, § 253 Rn. 65). Verlangt wird außerdem eine personale Sonderbeziehung zwischen Erst- und Zweitgeschädigtem (Dauner-Lieb/Langen/Huber, BGB, Schuldrecht, 2. Auflage 2012, § 253 Rn. 67).
Sofern die hohen Hürden für die Zuerkennung eines Ersatzanspruchs von mittelbar Geschädigten überhaupt genommen wurden, verfolgt die Rechtsprechung auch beim Umfang des Ersatzes eine durchaus restriktive Linie. Im Regelfall bewegt sich der Ersatz in einer Größenordnung zwischen 500 und 3.000 €. Nur bei besonders qualifizierten Umständen geht der Ersatzumfang darüber hinaus z.B., wenn es sich um das einzige Kind gehandelt hat oder Familienangehörige mitansehen mussten, wie ein Kind bzw. Elternteil getötet wird (Dauner-Lieb/Langen/Huber, BGB, Schuldrecht, 2. Auflage 2012, § 253 Rn. 68).
Hier wurde der K infolge der Eindrücke aus dem Unfallgeschehen veranlasst, aus der in seinem Eigentum stehenden ehelichen Wohnung auszuziehen und seinen Beruf als Lkw-Fahrer aufzugeben. Sein Arzt hatte ihm zu dem Wohnungswechsel geraten, um die Bedingungen der psychischen Verarbeitung des Unfallereignisses zu verbessern. Der Kläger musste seinen Beruf aufgeben, weil er unter fortdauernden Angstzuständen, Schweißausbrüchen und Zittern im Straßenverkehr leidet und deshalb nicht mehr in der Lage ist, ein Fahrzeug zu führen. Auch auf das Motorradfahren muss der Kläger verzichten. Diese Beeinträchtigungen gehen deutlich über die gesundheitlichen Auswirkungen hinaus, denen Hinterbliebene bei der Benachrichtigung vom Unfalltod eines Angehörigen erfahrungsgemäß ausgesetzt sind. Der Kläger begab sich auch infolge des Unfalls in ärztliche Behandlung bei seinem Hausarzt Dr. F. Dieser diagnostizierte eine akute Belastungsreaktion nach ICD F43.9 G. Bei der Ehefrau des K handelt es sich auch um eine nahe Angehörige. Darüber hinaus musste K auch selbst unmittelbar mit ansehen wie seine Frau mit Herrn W. kollidierte. Eine Gesundheitsschädigung ist daher im Ergebnis gegeben. In Anbetracht aller Umstände scheint ein Schmerzensgeld i.H.v. 8000 € auch angemessen.
Mithin sind die Voraussetzungen von §§ 7, 11 S. 2 StVG insgesamt gegeben.
Der BGH führte hierzu folgendes aus:
„Das Berufungsgericht ist [...] zutreffend davon ausgegangen, dass durch ein Unfallgeschehen ausgelöste, traumatisch bedingte psychische Störungen von Krankheitswert eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB darstellen können [...]. Der Senat hat wiederholt ausgesprochen, dass die Schadensersatzpflicht für psychische Auswirkungen einer Verletzungshandlung nicht voraussetzt, dass sie eine organische Ursache haben; es genügt vielmehr grundsätzlich die hinreichende Gewissheit, dass die psychisch bedingte Gesundheitsschädigung ohne die Verletzungshandlung nicht aufgetreten wäre [...].
Im Ausgangspunkt zu Recht hat das Berufungsgericht auch angenommen, dass dieser Grundsatz nach der gefestigten Rechtsprechung des Senats im Bereich der sogenannten Schockschäden eine gewisse Einschränkung erfährt. Danach begründen seelische Erschütterungen wie Trauer und seelischer Schmerz, denen Hinterbliebene beim (Unfall)Tod eines Angehörigen erfahrungsgemäß ausgesetzt sind, auch dann nicht ohne Weiteres eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB, wenn sie von Störungen der physiologischen Abläufe begleitet werden und für die körperliche Befindlichkeit medizinisch relevant sind. Der Senat hat dies damit begründet, dass die Anerkennung solcher Beeinträchtigungen als Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB der Absicht des Gesetzgebers widerspräche, die Deliktshaftung gerade in § 823 Abs. 1 BGB sowohl nach den Schutzgütern als auch den durch sie gesetzten Verhaltenspflichten auf klar umrissene Tatbestände zu beschränken und Beeinträchtigungen, die auf die Rechtsgutverletzung eines anderen bei Dritten zurückzuführen sind, soweit diese nicht selbst in ihren eigenen Schutzgütern betroffen sind, mit Ausnahme der §§ 844, 845 BGB ersatzlos zu lassen [...]. Psychische Beeinträchtigungen infolge des Todes naher Angehöriger, mögen sie auch für die körperliche Befindlichkeit medizinisch relevant sein, können vielmehr nur dann als Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB angesehen werden, wenn sie pathologisch fassbar sind und über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgehen, denen Hinterbliebene bei der Benachrichtigung vom tödlichen Unfall eines Angehörigen erfahrungsgemäß ausgesetzt sind [...].
3. Die Revision rügt aber mit Erfolg, dass das Berufungsgericht die Anforderungen an die Annahme einer Gesundheitsverletzung in diesem Sinne überspannt und nicht berücksichtigt hat, dass der Kläger den Unfalltod seiner Ehefrau unmittelbar miterlebt hat und durch das grob verkehrswidrige Verhalten des W. selbst gefährdet war.
a) Nach den Feststellungen des Berufungsgerichts hatte Dr. F. beim Kläger eine akute Belastungsreaktion nach ICD F43.9 G festgestellt. [...] Wie das Berufungsgericht weiter festgestellt hat, sah sich der Kläger infolge der Eindrücke aus dem Unfallgeschehen veranlasst, aus der in seinem Eigentum stehenden ehelichen Wohnung auszuziehen und seinen Beruf als Lkw-Fahrer aufzugeben. Nach dem mangels gegenteiliger Feststellungen revisionsrechtlich zugrunde zu legenden Sachvortrag des Klägers hatte ihm sein Arzt zu dem Wohnungswechsel geraten, um die Bedingungen der psychischen Verarbeitung des Unfallereignisses zu verbessern. Der Kläger musste seinen Beruf aufgeben, weil er unter fortdauernden Angstzuständen, Schweißausbrüchen und Zittern im Straßenverkehr leidet und deshalb nicht mehr in der Lage ist, ein Fahrzeug zu führen. Auch auf das Motorradfahren muss der Kläger verzichten. Diese Beeinträchtigungen gehen aber deutlich über die gesundheitlichen Auswirkungen hinaus, denen Hinterbliebene bei der Benachrichtigung vom Unfalltod eines Angehörigen erfahrungsgemäß ausgesetzt sind.
b) Rechtsfehlerhaft hat das Berufungsgericht auch nicht berücksichtigt, dass der Senat stets dem Umstand maßgebliche Bedeutung beigemessen hat, ob die von dem "Schockgeschädigten" geltend gemachten psychischen Beeinträchtigungen auf seine direkte Beteiligung an einem Unfall oder das Miterleben eines Unfalls zurückzuführen oder ob sie durch den Erhalt einer Unfallnachricht ausgelöst worden sind [...]. So hat der Senat die Haftung des Schädigers für psychisch vermittelte Gesundheitsstörungen in den Fällen für zweifelsfrei gegeben erachtet, in denen der Geschädigte am Unfall direkt beteiligt war und dieser das Unfallgeschehen psychisch nicht verkraften konnte [...].
Die Revision macht zu Recht geltend, dass der Kläger nach den getroffenen Feststellungen nicht lediglich vom Tod seiner Ehefrau benachrichtigt wurde und deshalb einen tief empfundenen Trauerfall bewältigen musste, sondern den tödlichen Unfall seiner Ehefrau unmittelbar miterlebt hat; darüber hinaus war er selbst dem Unfallgeschehen ausgesetzt und durch das grob verkehrswidrige Verhalten des W. gefährdet. Nach dem mangels gegenteiliger Feststellungen revisionsrechtlich zugrunde zu legenden Vortrag des Klägers hatte dieser, nachdem ihn das bei der Beklagten versicherte Fahrzeug um Haaresbreite verfehlt hatte, in den Rückspiegel geblickt und mit angesehen, wie seine Ehefrau mit voller Wucht von dem Fahrzeug erfasst wurde. Legt man dies zugrunde, so hat der Kläger zum einen selbst unmittelbare Lebensgefahr für sich wahrgenommen und zum anderen akustisch und optisch miterlebt, wie seine Ehefrau bei einer sehr hohen Kollisionsgeschwindigkeit als Motoradfahrerin nahezu ungeschützt von einem Auto erfasst und getötet wurde. Ein solches Erlebnis ist hinsichtlich der Intensität der von ihm ausgehenden seelischen Erschütterungen mit dem Erhalt einer Unfallnachricht nicht zu vergleichen.“
V. Ergebnis
K hat gegen W einen Schmerzensgeldanspruch i.H.v. 8000 € gemäß §§ 7 Abs. 1, 11 S. 2 StVG. Also besteht demnach auch ein Anspruch gegenüber B gemäß § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG.
K hat gegen B einen Schmerzensgeldanspruch i.Hv. 8000 € gemäß §§ 7 Abs. 1, 11 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG.
B. Schmerzensgeldanspruch gemäß §§ 18 Abs. 1, 11 S. 2 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG
W war auch Fahrer des Kraftfahrzeugs, sodass auch ein Schmerzensgeldanspruch gemäß §§ 18 Abs. 1, 11 S. 2 StVG i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG gegen B besteht.
C. Schmerzensgeldanspruch gemäß §§ 823 Abs. 1, 823 Abs. 2, 253 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 1 ff. StVO i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG
Da W auch schuldhaft gehandelt hat, hat K gegen B auch einen Schmerzensgeldanspruch gemäß §§ 823 Abs. 1, 823 Abs. 2, 253 Abs. 2 BGB i.V.m. §§ 1 ff. i.V.m. § 115 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 VVG.
Anmerkung: Zur Vertiefung der Problematik und für weitere Rechtsprechungshinweise kann auf die folgende Urteilsbesprechung verwiesen werden: NJW-Spezial 2015, S. 16 [beck-online]. Auch auf die Urteilsanmerkung von Kääb sei verwiesen, der die notwendige Abgrenzung noch einmal verdeutlicht (FD-StrVR 2015, 367118 [beck-online]. Weitere Ausführungen zu diesem Thema finden Sie auch in unseren ExO`s und im GuKO ZR. Eine Leseprobe aus unserem Skript finden Sie hier: http://www.juracademy.de/web/skript.php?id=37341.