Mit dieser überraschenden Frage musste sich der BGH im „Berliner-Wettbüro-Mordfall“ (NJW 2022, 1826) befassen.
Hinweis
Für jeden und damit auch für die Ermittlungsbeamten gilt die Verpflichtung aus § 138 StGB. Diese Norm gilt vor allem dem Schutz der betroffenen Rechtsgutsträger. Daraus folgt, dass die potenziellen Opfer sicherlich einen Anspruch auf Einschreiten eines jeden Bürgers und auch des Staates haben. Hier geht es aber darum, ob der Täter einen solchen Anspruch hat!
Der Anführer einer Berliner Gruppierung der „Hells Angels“ (A) hatte andere Mitglieder derselben Gruppierung dazu angestiftet, seinen langjährigen Rivalen (R) zu töten. Am 10. Januar 2014 suchten alle zusammen dementsprechend das Stammlokal des R auf und gaben in kurzer Folge mehrere tödliche Schüsse auf R ab.
Die Ermittlungsbeamten wussten von einer möglichen Bedrohung des später Getöteten schon seit Ende Oktober 2013. Anfang November 2013 wurde daraufhin ein Ermittlungsverfahren gegen A eingeleitet und seine Telekommunikation überwacht. Jedoch wurde R, dessen Aufenthaltsort nicht bekannt war, nicht gesucht und gewarnt noch erfolgte eine Gefährderansprache gegenüber A.
Aus diesem Grund nahm die Strafkammer des erstinstanzlich urteilenden Landgerichts Berlin (Urt. v. 1.10.2019 – (515 Ks) 251 Js 26/14 (7/14) und Urt. v. 18.12.2019 – (515 Ks) 251 Js 256/17 (7/14)) an, die Ermittler hätten womöglich „den Dingen ihren Lauf“ gelassen, um später strafrechtlich gegen alle Beteiligten vorgehen zu können. Ein Hervorrufen oder Verstärken des Tatentschlusses des A durch Ermittlungsbeamte hat es jedoch mangels Kommunikation nicht gegeben.
Das Landgericht hat das Unterlassen aber gleichwohl als Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens gem. Art 6 I EMRK gewertet und im Wege der Vollstreckungslösung einen Vollstreckungsabschlag gemacht und 2 Jahre der lebenslangen Freiheitsstrafe als vollstreckt angesehen.
Hinweis
Bei einer lebenslangen Freiheitsstrafe fragt man sich natürlich, was ein Vollstreckungsabschlag soll. Hier ist aber § 57a StGB zu beachten, wonach unter den dort genannten Voraussetzungen eine Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zur Bewährung nach 15 Jahren in Betracht kommen kann.
Der BGH (a.a.O.) hat einen Anspruch des Täters gegen den Staat auf Verhinderung seiner eigenen Straftat zu Recht abgelehnt. Er sieht keine Verletzung des Rechts auf ein faires Verfahren und führt dazu folgendes aus:
„Aus dem Recht auf ein faires Verfahren gem. Art. g I 1 EMRK erwächst einem Straftäter kein Anspruch darauf, dass die Ermittlungsbehörden rechtzeitig gegen ihn einschreiten….
Aus dem Legalitätsprinzip (§ 152 II StPO) folgt hinsichtlich des Zeitpunkts des Tätigwerdens durch die Strafverfolgungsbehörden keine Vorgabe. Gründe der Prozessökonomie und der Ermittlungstaktik, etwa im Interesse einer umfassenden Aufklärung, können eine Zurückstellung von Ermittlungshandlungen (auch einer Festnahme) gebieten. Die Frage des Einschreitens der Strafverfolgungsbehörden gegenüber einem Beschuldigten hängt dabei von vielfältigen Einschätzungen auch kriminalpolitischer Natur ab …
Sehen die Strafverfolgungsbehörden willkürlich davon ab, strafrechtliche Ermittlungen gegen einen Tatverdächtigen einzuleiten oder unabweisbar erforderliche Ermittlungshandlungen zu ergreifen (zB Festnahme eines auf der Flucht ins außereuropäische Ausland begriffenen dringend Tatverdächtigen), kann dies strafrechtliche Konsequenzen etwa in Form einer Verurteilung wegen Strafvereitelung im Amt durch Unterlassen für die betreffenden Beamten zeitigen …. weil sie gegebenenfalls hierdurch die Pflicht des Staates zu einer wirksamen Aufklärung und Ahndung von Straftaten verletzen …. (Prozessuale) Rechte des Beschuldigten werden durch derartige Versäumnisse jedoch nicht tangiert. Dies gilt zur Vermeidung der Privilegierung besonders gefährlicher Täter unabhängig davon, wie gewichtig das durch ihn gefährdete Rechtsgut ist. Als Kehrseite begünstigen solche Versäumnisse vielmehr die Ziele eines Straftäters (Verwirklichung einer beabsichtigten oder Genuss der Früchte einer begangenen Straftat, Vermeidung einer Bestrafung). Ein pflichtwidriges und daher gegebenenfalls strafrechtlich zu ahndendes Unterlassen (repressiver) staatlicher Maßnahmen kommt damit sogar als Reflex dem Straftäter zugute. Eine zu kompensierende Verletzung seines subjektiven Anspruchs auf ein faires Verfahren kann es demnach nicht begründen….
Soweit das LG gemeint haben sollte, dass den Angekl. aus Art. 6 I 1 EMRK ein Anspruch auf gefahrenabwehrrechtliche Maßnahmen zur Verhinderung der von ihnen verabredeten Straftat erwachsen sein könnte, verkennt es, dass allenfalls das präsumtive Opfer eines Tötungsdelikts einen solchen subjektiven Anspruch auf Schutz seines Lebens haben kann … Der Straftäter hat dagegen keinen subjektiven Anspruch aus dem Grundgesetz oder der Menschenrechtskonvention gegen den Staat darauf, dass dieser die von ihm geplante Straftat durch gegen ihn oder das Opfer der beabsichtigten Tat gerichtete präventive Maßnahmen verhindert.“