Sachverhalt
Die Vergabe der Studienplätze für das Fach Humanmedizin wird durch das Hochschulrahmengesetz sowie den Staatsvertrag über die Errichtung einer gemeinsamen Einrichtung für Hochschulzulassung geregelt. Danach erfolgt die Verteilung nach folgenden Kriterien:
Zunächst werden 30 % der Studienplätze bestimmten Bewerbern vorbehalten, um besondere soziale und persönliche Gründe zu berücksichtigen sowie ausländischen Studenten ein bestimmtes Kontingent zu sichern.
Von den restlichen Studienplätze werden 20 % nach der sog. „Abiturbestenquote“ vergeben. Durch die Bildung von Landesquoten wird dabei sichergestellt, dass nur Bewerber aus demselben Bundesland miteinander konkurrieren.
Weitere 20 % der Studienplätze werden nach der Wartezeitquote vergeben. Dabei werden die Studienplätze nach der Dauer vergeben, die seit dem Zeitpunkt des Erwerbs der Hochschulzugangsberechtigung vergangen ist.
Für die übrigen 60% der Studienplätze räumen die gesetzlichen Regelungen den Hochschulen die Möglichkeit ein, diese nach einem Auswahlverfahren der Hochschulen zu vergeben. Als mögliche Kriterien für dieses Auswahlverfahren sind die Abiturnote, das Ergebnis eines Studierfähigkeitstests oder eines Auswahlgesprächs vorgesehen. Allerdings ist hier – anders als bei der Abiturbestenquote – keine Bildung von Landesquoten vorgesehen, so dass Bewerber unterschiedlicher Bundesländer gegeneinander konkurrieren.
Das Landesgesetze ermöglichen es den Hochschulen selbst weitere Kriterien festlegen, die bei der Verteilung der Studienplätze berücksichtigt werden.
Im Rahmen der Klage eines Bewerbers um einen Studienplatz kommt das VG Gelsenkirchen zu der Überzeugung, dass diese Vorgaben mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sind. Das Gericht hat diese Frage daher dem BVerfG zur Entscheidung vorgelegt.
Lösung des BVerfG
Zulässigkeit
Es handelt sich um eine konkrete Normenkontrolle, die nach Art. 100 GG i.V.m. §§ 13 Nr. 11, 80 ff. BVerfG zulässig ist.
Die Zulässigkeitsvoraussetzungen (Vorlageberechtigung, Vorlagegegenstand, Überzeugung von der Nichtigkeit des Gesetzes, Entscheidungserheblichkeit der Norm, Form) liegen allesamt vor.
Begründetheit
Möglicherweise verletzen die gesetzlichen Regelungen zur Vergabe der Studienplätze im Fach Humanmedizin das Grundgesetz.
In Betracht kommt dabei vor allem eine Verletzung des Grundrechts aus Art. 12 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG.
Aus der Ausbildungs- und Berufswahlfreiheit gem. Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG folgt in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz gem. Art. 3 Abs. 1 GG ein Recht auf Teilhabe an den vorhandenen Studienangeboten. Dieses Grundrecht umreißt das BVerfG folgendermaßen:
„Diejenigen, die dafür die subjektiven Zulassungsvoraussetzungen erfüllen, haben ein Recht auf Gleiche Teilhabe am staatlichen Studienangebot und damit einen Anspruch auf gleichheitsgerechte Zulassung zum Studium ihrer Wahl. Da die Frage der Bemessung der Anzahl verfügbarer Ausbildungsplätze aber der Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers obliegt, besteht das Recht auf chancengleichen Zugang zum Hochschulstudium nur im Rahmen der tatsächlich bestehenden Ausbildungskapazitäten.“
Aus dem Grundgesetz kann also kein Anspruch auf Schaffung zusätzlicher Studienplätze abgeleitet werden. Aber es gibt einen Anspruch darauf, dass die vorhandenen Studienplätze nach den Anforderungen ergeben werden, die aus Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG folgen.
Zu bestimmen ist daher, welchen Maßstab für die Verteilungsentscheidung das Grundgesetz vorgibt.
Grundsätzlich folgt aus dem Gebot der Gleichheit, dass sich die Regeln über die Vergabe von Studienplätze am Kriterium der Eignung orientieren muss.
Daher ist es zunächst verfassungsrechtlich unproblematisch, dass 20 % der Studienplätze nach der Abiturnote vergeben werden. Hier knüpft der Gesetzgeber an eine Beurteilung der Leistungen der Studienbewerber an, die von der Schule am Ende einer allgemeinbildenden Ausbildung vorgenommen wird. Es unterliegt keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, die Abiturnote als Indiz für die Studierfähigkeit zu nehmen. Unabhängig von Einzelfällen darf der Gesetzgeber nämlich hier eine typisierende Betrachtung zu Grunde legen und davon ausgehen, dass das Ergebnis der Abiturprüfung als Hochschulzugangsberechtigung ein geeignetes Kriterium ist.
Ebenso wenig unterliegt es verfassungsrechtlichen Bedenken, weitere 20% der Studienplätze anhand der Wartezeit zu vergeben. Denn das Verstreichen einer Wartezeit ist für sich allein betrachtet kein sachgerechtes Zulassungskriterium, da es wenig über die Eignung eines Bewerbers aussagt. Allerdings hat der Gesetzgeber bei der Festlegung verschiedener Zulassungskriterien mit verschiedenen Quoten ein Gestaltungsermessen. Zudem lässt sich aus der Bereitschaft zu Warten auch in gewissem Rahmen eine (hohe) Motivation für das Wunschstudium ablesen.
Im Hinblick auf die Vergabe der übrigen 60% der Studienplätze ist ebenfalls die Abiturnote ein wesentliches Auswahlkriterium. Allerdings werden hier keine Länderquoten ermittelt oder auf andere Weise berücksichtigt, dass sich die Abiturnoten in den Ländern erheblich unterscheiden. Somit konkurrieren Bewerber verschiedener Bundesländer unmittelbar miteinander anhand ihrer Abiturnoten.
Es ist fraglich, ob dies verfassungsrechtlich zulässig ist.
Dafür spricht, dass das Abitur als allgemeine Hochschulzugangsvoraussetzung bundesweit anerkannt ist. Ein Abitur in einem Land berechtigt grundsätzlich zur Aufnahme eines Hochschulstudiums in allen Ländern. Wenn also die Qualifikation als solche in allen Ländern anerkannt wird und somit als vergleichbar angesehen wird, spricht dies dafür, auch die Note mit der diese Qualifikation erreicht wurde, als vergleichbar anzusehen.
Dagegen spricht, dass die Notenverteilung in den einzelnen Ländern erheblich voneinander abweicht. Die Durchschnittsnoten in einigen Ländern sind erheblich besser als in anderen.
Das BVerfG führt dazu aus:
„Das Außerachtlassen dieser Unterschiede führt zu einer gewichtigen Ungleichbehandlung. Es nimmt in Kauf, dass eine große Zahl von Bewerberinnen und Bewerbern abhängig davon, in welchem Land sie ihre allgemeine Hochschulreife erworben haben, erhebliche Nachteile erleiden. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass es auch im Auswahlverfahren der Hochschulen maßgeblich auf Grenzbereiche der Benotung ankommt und die Dezimalstellen der Durchschnittsnoten häufig über den Erfolg einer Bewertung entscheiden. Für diese Ungleichbehandlung fehlt es an einem einleuchtenden, belastbaren Sachgrund.“
Schließlich stellt sich die Frage, ob die gesetzlichen Regelungen den Vorgaben des Wesentlichkeitsvorbehalts entsprechen. Danach müssen im grundrechtsrelevanten Bereich die wesentlichen Fragen durch den (demokratisch legitimierten) parlamentarischen Gesetzgeber selbst erfolgen. Dies ist im Bereich der Studienplatzvergabe der Fall:
„Bei der Vergabe von Studienplätzen handelt es sich um eine wesentliche Regelungsmaterie, die den Kern des Zulassungswesens ausmacht und damit dem Parlamentsvorbehalt unterliegt. Insofern müssen die Auswahlkriterien ihrer Art nach durch den demokratisch legitimierten Gesetzgeber selbst bestimmt werden.“
Damit unvereinbar ist es, dass den Hochschulen nach einigen Landesgesetzen die Möglichkeit gegeben ist, selbst über die beispielhaft („insbesondere“) im Gesetz vorgegebenen Auswahlkriterien noch weitere Kriterien in das Verfahren der Studienplatzvergabe einzubeziehen. Ein solches „Kriterienerfindungsrecht“ ist verfassungsrechtlich unzulässig.
Klausurrelevanz und weitere Hinweise
Es handelt sich hier um die erhebliche gekürzte Darstellung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die im Original länger als 50 Seiten ist. Die Rechtslage wird dadurch noch weiter kompliziert, dass die Regelungen über den Zugang zum Medizinstudium zwar in seinen Grundlagen bundesrechtlich einheitlich, in den Details aber in den Ländern unterschiedlich geregelt ist.
Die Entscheidung hebt die Bedeutung der Grundrechte in ihrer Funktion als Teilhaberecht hervor. Diese sind auch deshalb in einer Klausur nicht einfach zu prüfen, weil der klassische Aufbau (Schutzbereich – Eingriff – Verfassungsrechtliche Rechtfertigung) wenig geeignet ist, die Besonderheiten dieser Grundrechtsfunktion zu erfassen.
Dogmatisch leitet das BVerfG diese Funktion aus einer Verbindung zwischen dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und dem betroffenen Freiheitsrecht, hier der Berufsfreiheit gem. Art. 12 Abs. 1 GG ab.
In einer Klausur sollten Sie sich an der Struktur einer Prüfung eines Gleichheitsgrundsatzes orientieren: Liegt eine Ungleichbehandlung vor, weil bestimmte Bewerber gegenüber anderen benachteiligt werden? Falls ja, gibt es dafür einen sachlichen Grund, der die Ungleichbehandlung rechtfertigen kann?
Hervorzuheben ist auch, dass das Bundesverfassungsgericht die Bedeutung des sog. „Wesentlichkeitsvorbehalts“ gestärkt hat: in grundrechtssensiblen Bereichen muss der parlamentarische Gesetzgeber alle wesentlichen Fragen selbst klären und darf sie nicht an die Exekutive delegieren. Was genau „wesentlich“ ist, ist im Einzelfall schwer zu bestimmen. Sarkastische Zeitgenossen bringen es mit der Formel auf den Punkt: „Wesentlich ist das, was das BVerfG als wesentlich bezeichnet.“
Inhaltlich interessant an der Entscheidung ist, dass das BVerfG ausdrücklich eine Vergleichbarkeit der Abiturnoten verschiedener Länder verneint und dem Gesetzgeber aufgibt, hier durch Landesquoten oder andere Ausgleichsmechanismen eine Gleichbehandlung sicherzustellen.