Verfassungsbeschwerden sind gem. §§ 23, 92 BVerfGG schriftlich zu begründen. Dieses Erfordernis wird i.d.R. am Ende der Zulässigkeitsprüfung zusammen mit der Fristeinhaltung (Form/Frist) geprüft.
Die Annahme zur Entscheidung ist weder eine Frage der Zulässigkeit noch der Begründetheit der Verfassungsbeschwerde, daher sollte sie als einzelner Prüfungspunkt zwischen Zulässigkeit und Begründetheit aufgeführt werden. Die meisten eingereichten Verfassungsbeschwerden werden nicht zur Entscheidung angenommen, hierüber entscheidet in der Regel eine Kammer (§ 15a BVerfGG) nach § 93b BVerfGG, gegen den Beschluss sind keine Rechtsmittel möglich.
Die vorliegende Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen eine landesverfassungsgerichtliche Entscheidung, mit der das Thüringer Gesetz zur Einführung paritätischer Listen bei der Landtagswahl vom Verfassungsgerichtshof am 15.07.2020 - VerfGH 2/20 - für nichtig erklärt wurde.
Folgender Sachverhalt liegt zugrunde:
Auf der Grundlage eines Gesetzentwurfs der Landtagsfraktionen der Parteien DIE LINKE, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN (LTDrucks 6/6964) sowie eines Änderungsantrags jener Fraktionen (Vorlage 6/5766 vom 26. Juni 2019) beschloss der Thüringer Landtag am 5. Juli 2019 das Siebte Gesetz zur Änderung des Thüringer Landeswahlgesetzes – Einführung der paritätischen Quotierung (im Folgenden: Paritätsgesetz). Es wurde am 30. Juli 2019 von der Landtagspräsidentin ausgefertigt und am 19. August 2019 im Gesetz- und Verordnungsblatt für den Freistaat Thüringen veröffentlicht (GVBl 2019, S. 322).
Die Regelung sah vor:
Das Thüringer Landeswahlgesetz in der Fassung vom 28. März 2012 (GVBI. S. 309), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 24. April 2017 (GVBI. S. 89), wird wie folgt geändert:
1. § 29 wird wie folgt geändert: Nach Absatz 4 wird folgender neuer Absatz 5 eingefügt:
„(5) Die Landesliste ist abwechselnd mit Frauen und Männern zu besetzen, wobei der erste Platz mit einer Frau oder einem Mann besetzt werden kann. Personen, die im Personenstandsregister als 'divers' registriert sind, können unabhängig von der Reihenfolge der Listenplätze kandidieren. Nach der diversen Person soll eine Frau kandidieren, wenn auf dem Listenplatz vor der diversen Person ein Mann steht; es soll ein Mann kandidieren, wenn auf dem Listenplatz vor der diversen Person eine Frau steht.“
2. Der bisherige Absatz 5 wird Absatz 6.
3. In § 30 Abs. 1 werden nach Satz 3 folgende Sätze eingefügt:
„Wahlvorschläge, die nicht den Anforderungen des § 29 Abs. 5 entsprechen, werden zurückgewiesen; Wahlvorschläge, die zum Teil den Anforderungen des § 29 Abs. 5 nicht entsprechen, werden nur bis zu dem Listenplatz zugelassen, mit dessen Besetzung die Vorgaben des § 29 Abs. 5 noch erfüllt sind (Teilzurückweisung). Dies gilt auch für die Streichung einzelner Bewerbungen, die gegen § 29 Abs. 5 verstoßen.“
Mit Antragsschrift vom 16. Januar 2020 leitete die Landtagsfraktion der AfD ein Verfahren zur Überprüfung des Paritätsgesetzes im Wege der abstrakten Normenkontrolle ein und beantragte, dessen Nichtigkeit wegen Verstoßes gegen Art. 44 Abs. 1 Satz 2, Art. 45 Satz 1 und Art. 46 Abs. 1 und Abs. 2 Thüringer Verfassung (ThürVerf) sowie gegen Art. 44 Abs. 1 Satz 2, Art. 45 Satz 1 und Art. 46 Abs. 1 ThürVerf in Verbindung mit Art. 21 Abs. 1 GG festzustellen. Die angehörte Thüringer Landesregierung trat dem entgegen. Mit angegriffenem Urteil vom 15. Juli 2020 erklärte der Thüringer Verfassungsgerichtshof das Paritätsgesetz für nichtig. Durch das Gesetz werde in verfassungsrechtlich verbürgte subjektive Rechte eingegriffen, ohne dass dieser Eingriff auf eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung gestützt werden könne. Hiergegen wendeten sich nun die Beschwerdeführer mit ihrer Verfassungsbeschwerde an das BVerfG.
Die Verfassungsbeschwerde nahm das BVerfG (Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 06. Dezember 2021
- 2 BvR 1470/20 -, Rn. 1-61) nicht zur Entscheidung an, weil die Annahmevoraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorlagen. Nach § 93a Abs. 1 BVerfGG bedürfen Verfassungsbeschwerden der Annahme zur Entscheidung, diese sind anzunehmen, wenn die Voraussetzungen von Abs. 2 erfüllt sind. Dies ist der Fall, wenn es zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 genannten Rechte angezeigt ist. Dies ist insbesondere dann nicht gegeben, wenn die Verfassungsbeschwerde bereits unzulässig ist. So entschied die Kammer hier: Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche Bedeutung zu und ihre Annahme ist nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt, denn sie ist unzulässig.
Die Kammer führte zunächst aus, welche Anforderungen an die Begründung einer Verfassungsbeschwerde gemäß § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG bestehen und sah diese als nicht erfüllt an (Rn. 29). Danach ist der die Rechtsverletzung enthaltende Vorgang substantiiert und schlüssig vorzutragen, bei einer gegen eine gerichtliche Entscheidung gerichteten Verfassungsbeschwerde hat sich der Beschwerdeführer mit dieser inhaltlich auseinanderzusetzen, liegt zu den mit der Verfassungsbeschwerde aufgeworfenen Verfassungsfragen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bereits vor, so ist der behauptete Grundrechtsverstoß in Auseinandersetzung mit den vom Bundesverfassungsgericht entwickelten Maßstäben zu begründen (30).
Hier sieht die Kammer keine ausreichende Auseinandersetzung insbesondere mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den getrennten Verfassungsräumen von Bund und Ländern (31) und führt aus:
Art. 28 Abs. 1 GG enthält nur wenige Vorgaben für die Verfassungen der Länder (32) im Bereich des Wahlrechts hat das Grundgesetz die Anforderungen, die an demokratische Wahlen zu den Volksvertretungen im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG zu stellen sind, für die Verfassungsräume des Bundes und der Länder in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG und Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG jeweils gesondert geregelt (33). Mit Blick auf die Verfassungsautonomie der Länder beschränkt sich das Grundgesetz auf eine objektivrechtliche Kontrolle und räumt nicht auch jeder Bürgerin und jedem Bürger bei Wahlen im Land das Recht ein, die Beachtung der Wahlrechtsgrundsätze mit der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht einzufordern. Insoweit gibt das Grundgesetz den Ländern Raum, den subjektiven Schutz des Wahlrechts zu ihren Volksvertretungen auszugestalten und durch die Gerichtsbarkeit des Landes sicherzustellen (35)
Zudem fehlt es – so die Kammer - an der ausreichenden Darlegung der Möglichkeit einer Verletzung von im Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen das Urteil des Thüringer Verfassungsgerichtshofs rügefähigen Grundrechten oder grundrechtsgleichen Gewährleistungen der Beschwerdeführenden. Eine Verletzung der grundrechtsgleichen Rechte aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG durch die angegriffene Entscheidung scheidet von vornherein aus; ebenso reicht der Rückgriff der Beschwerdeführenden auf Art. 28 Abs. 1 GG und das Demokratieprinzip gemäß Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG für sich genommen zur Darlegung eines Eingriffs in subjektive rügefähige Rechte der Beschwerdeführenden nicht aus. Des Weiteren ist die Möglichkeit einer Verletzung des Anspruchs auf Gleichberechtigung aus Art. 3 Abs. 2 GG nicht hinreichend substantiiert ausgeführt. Schließlich genügt der Sachvortrag der Beschwerdeführenden den Anforderungen an die Begründung einer Missachtung des allgemeinen Willkürverbots aus Art. 3 Abs. 1 GG oder eines Eingriffs in die Garantie des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht (38). Die Behauptung der Beschwerdeführenden, aus Art. 20 Abs. 1 und Abs. 2 GG folge ein rügefähiger „Anspruch auf Demokratie“, hätte näherer Begründung bedurft (41) und eine Auseinandersetzung mit dem aus dem Demokratieverständnis des Grundgesetzes abgeleiteten Grundsatz der Gesamtrepräsentation vermissen die Richter komplett (42).
Zur möglichen Verletzung des Rechts auf Gleichberechtigung aus Art. 3 Abs. 2 GG erklärt die Kammer dass es auch hier an einem substantiierten Vortrag fehle (45), auch ein aus Art. 3 Abs. 2 GG abzuleitendes Verfassungsgebot der paritätischen Ausgestaltung des Wahlvorschlagsrechts könne der Beschwerde nicht entnommen werden (47).
Der Kammer erscheint zweifelhaft, ob der Verweis auf die Unterrepräsentanz von Frauen in den Parlamenten bereits ausreicht, um von einer „strukturellen Benachteiligung von Frauen in der Politik“ ausgehen zu können (49). Demgemäß ist ein Verstoß des Thüringer Verfassungsgerichtshofs gegen Art. 3 Abs. 1 GG durch die angegriffene Entscheidung weder von den Beschwerdeführenden substantiiert dargelegt noch in sonstiger Weise ersichtlich (52). Insgesamt hatte die Verfassungsbeschwerde somit mangels substantiierter Darlegung und daraus folgender Unzulässigkeit keinerlei Aussicht auf Erfolg und war nicht zur Entscheidung anzunehmen.