A. Tatbestand (abgewandelt):
A und B trafen sich zu einem freundschaftlichen Besuch bei B. A stellte seinen BMW am Straßenrand vor dem Haus des B ab. Nach der Begrüßung bemerkte B, dass der PKW des A sich aufgrund unzureichender Sicherung in Bewegung setzte und rückwärts den Hang hinunterzurollen begann. B lief – in offenen Sandalen – sofort hinter das Fahrzeug und versuchte, es dadurch aufzuhalten, dass er mit seinen Händen gegen das Heck des Fahrzeugs drückte. Dies gelang ihm jedoch nicht. Er geriet ins Straucheln und wurde von dem Fahrzeuggewicht niedergedrückt, so dass er rücklings zu Fall kam und von dem PKW überrollt und über eine Strecke von etwa 20 m mitgeschleift wurde. Der PKW kam schließlich – wie es vorhersehbar war – etwa 33 m vom ursprünglichen Abstellort entfernt in einem Gebüsch zum Stehen. Auf der Rückrollstrecke des Wagens verstärkt sich das Gefälle von ca. 2,5 % am Abstellort bis auf maximal 14,5 %. Der B lag eingeklemmt unter dem, zum Stehen gekommenen PKW, bis Rettungskräfte eintrafen und ihn befreiten. Er erlitt einen Herzstillstand und musste reanimiert werden. Zudem erlitt er eine Oberschenkelfraktur, eine Rippenserienfraktur mit Pneumothorax sowie Verbrennungen und Ablederungen am Bauch.
Hat B einen Schadensersatzanspruch gegen A wegen der Heilbehandlungskosten?
B. Lösung
Als Anspruchsgrundlage kommen hier § 7 I StVG und § 823 I BGB in Betracht.
I. B könnte gegen A ein Anspruch aus § 7 I StVG zustehen.
1. A ist lt. Sachverhalt Halter des Pkw. B wurde an seiner Gesundheit verletzt. Die Verletzung steht auch in kausalem Zusammenhang zum Betrieb (verkehrstechnische Auffassung) des Fahrzeugs. Insbesondere ist das Merkmal „bei Betrieb“ erfüllt, da die Verletzung maßgeblich durch das Fahrzeug (mit-)geprägt wurde.
Hinweis
Denken Sie immer daran, dass das Merkmal „bei Betrieb“ eine spezifische Kausalitätsanforderung (Schutzzweck der Norm) ist und insb. von der Rechtsprechung (sehr) weit ausgelegt wird.
2. Fraglich ist, ob der Ausschlussgrund aus § 8 Nr. 2 StVG der Haftung des A entgegensteht. § 8 Nr. 2 StVG liegt der Gedanke zu Grunde, dass Personen, die den Gefahren des Kfz in besonderer Weise ausgesetzt sind, nicht in den Genuss der Garantiehaftung kommen sollen. Wer sich freiwillig den Gefahren des Kfz derart aussetzt, kann sich nicht auf die Garantiehaftung berufen. Hierbei handelt es sich um eine Ausnahmevorschrift, welche einer engen Auslegung bedarf. Daher ist grundsätzlich eine längere Dauer der Einwirkung notwendig.
Im vorliegenden Fall gilt es jedoch zu beachten, dass kein besonders langer Zeitraum der Einwirkung bestand. Auf der anderen Seite muss im Rahmen der Auslegung berücksichtigt werden, dass sich der B den Triebkräften des Fahrzeugs in ganz besonderer Weise freiwillig ausgesetzt hat. Dies entspricht gerade dem Sinn und Zweck des Ausschlussgrundes, weshalb sich B nicht auf den Haftungstatbestand aus § 7 I StVG berufen darf.
3. Ergebnis
Eine Haftung des A gegenüber B aus § 7 I StVG kommt nicht in Betracht.
II. B könnte gegen A ein Anspruch aus § 823 I BGB zustehen.
1. Haftungsvoraussetzungen
Auch hier sind die Haftungsvoraussetzungen grundsätzlich unproblematisch erfüllt. Eine Rechtsgutverletzung liegt hier in Gestalt der Gesundheitsverletzung vor, diese wurde adäquat kausal durch ein Unterlassen der ordnungsgemäßen Fahrzeugsicherung (Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit) herbeigeführt.
Fraglich ist, ob das eigenmächtige Eingreifen des B eine andere Beurteilung rechtfertigen kann (Dazwischentreten eines Dritten). Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass die Reaktion des B auf das rollende Fahrzeug eine vollkommen untypische Reaktion darstellt und daher die Adäquanz nicht entfallen lässt.
Die sonstigen Voraussetzungen der Haftung liegen im Übrigen unproblematisch vor.
2. Mitverschulden
Fraglich ist, ob B sich eine Anspruchskürzung entgegenhalten lassen muss. Eine solche könnte sich vorliegend aus § 254 I BGB ergeben (Mitverschulden im Rahmen der Haftungsbegründung). Ob und in welcher Höhe eine Kürzung im Ergebnis veranlasst ist, ist anhand einer umfassenden Betrachtung des Einzelfalls zu beurteilen.
Ein Mitverschulden kann sich daraus ergeben, dass B sich im zunehmenden Gefälle hinter das Fahrzeug stellte. Dabei trug B kein ordentliches Schuhwerk, sondern nur offene Sandalen. Ferner drohte erkennbar nur ein geringer Schaden für andere Sachgüter. Diese Tatsachen waren für B unproblematisch erkennbar. Es lag auch kein Fall einer unbeachtlichen falschen Reaktion aus schuldloser Bestürzung (BGH NJW 2011, 292) vor, sodass von der Berücksichtigung des Mitverschuldens nicht insgesamt abgesehen werden kann.
Bei der Bildung der Quote gilt es neben den oben genannten Tatsachen noch die Spontanität der Reaktion zugunsten des B zu berücksichtigen und die Tatsache, dass durch die fehlende Sicherung des Fahrzeugs am Hang, A den Anlass für die „Rettungsaktion“ gesetzt hat.
Vor diesem Hintergrund erscheint eine Anspruchskürzung von 70 % angemessen.
Hinweis
Bilden Sie in der Klausur stets eine Quote und stellen nicht bloß klar, dass eine Anspruchskürzung zu erfolgen hat.
3. Ergebnis
B hat einen Anspruch auf Ersatz der Heilbehandlungskosten in Höhe von 30 % des angefallenen Betrags.