Sachverhalt
Nach italienischem Recht ist es grundsätzlich erlaubt, die Urne mit der Asche von Verstorbenen entweder auf einem kommunalen Friedhof oder aber von den Angehörigen zu Hause aufzubewahren. Das Bestattungsgesetz bestimmt dazu in § 52:
„Die Urne wird – unter Beachtung der Anweisungen des Verstorbenen – dem (näher zu bestimmenden) Angehörigen zur Aufbewahrung in einer Wohnung übergeben. Der Empfänger darf die Urne ausschließlich bei sich zu Hause an einem vor Schändung oder Entwendung geschützten Ort aufbewahren. In keinem Fall ist es dem Empfänger gestattet, die Aschenurne durch Dritte aufbewahren zu lassen. Niemandem ist es gestattet, die Aufbewahrung von Ascheurnen als wirtschaftliche Tätigkeit mit der Absicht der Gewinnerzielung auszuüben.“
Mit dieser Regelung soll die öffentliche Gesundheit geschützt und die gebührende Achtung des Andenkens an die Verstorbenen sichergestellt werden.
Daneben gibt es im italienischen Recht eine allgemeine Regelung, nach der
„die Vorschriften des italienischen Rechts, die im Vergleich zu den durch die Rechtsordnung garantierten Bedingungen für Unionsangehörige eine diskriminierende Wirkung haben, sind auf italienische Staatsangehörige nicht anwendbar“. Damit soll die Möglichkeit einer sog. „Inländer“-Diskriminierung vermieden werden, wenn für EU-Ausländer durch die Berufung auf Unionsrecht eine günstigere Rechtslage gilt.
Der italienische Staatsangehörige M eröffnete einen sog. „Ort des Gedenkens“. Dabei handelt es sich um einen ästhetisch ansprechend gestalteten, ruhigen Raum, in dem Urnen aufbewahrt und für die Angehörigen zugänglich sein sollen. Die zuständige Behörde untersagte dem M die Ausübung seiner Tätigkeit.
Dagegen klagte M vor dem zuständigen Gericht und begründete dies vor allem damit, dass die nationale Regelung mit den europäischen Grundfreiheiten unvereinbar sei.
Trotz gewisser Zweifel, ob Unionsrecht auf einen solchen Sachverhalt überhaupt anwendbar ist, legte das italienische Gericht dem EuGH folgende Frage vor: Sind die Vorschriften des AEUV so auszulegen, dass sie der Anwendung des § 52 Bestattungsgesetz entgegenstehen?
Lösung des EuGH
Zulässigkeit
Nach Art. 267 AEUV ist der EuGH zuständig im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens. Das italienische Gericht ist auch dazu berechtigt, eine Vorlage an den EuGH zu richten und es handelt sich um eine zulässige Vorlagefrage über die Auslegung von Unionsrecht gem. Art. 267 Abs. 1 Buchst. a) AEUV.
Fraglich ist allerdings, ob der Zulässigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens entgegensteht, dass es sich hier um einen rein innerstaatlichen Sachverhalt zwischen dem italienischen Staatsbürger M und der italienischen Behörde handelt. Dies könnte gegen die Entscheidungserheblichkeit sprechen, die ebenfalls eine Zulässigkeitsvoraussetzung ist. Dazu der EuGH:
„Auch wenn Staatsangehörige desselben Mitgliedstaats einander gegenüberstehen, weist ein Rechtsstreit einen Anknüpfungspunkt zu den Art. 49 und 56 AEUV auf, der die Auslegung dieser Bestimmungen für die Entscheidung dieses Rechtsstreits erforderlich machen kann, wenn das nationale Recht dem vorlegenden Gericht vorschreibt, diesen Staatsangehörigen die gleichen Rechte zuzuerkennen, wie sie den Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten in gleicher Lage aufgrund des Unionsrechts zustünden. Hier ist das Gericht nach der einschlägigen Regelung verpflichtet, zugunsten der Staatsangehörigen die Art. 49 und 56 AEUV anzuwenden. Unter diesen Umständen ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht dargelegt hat, inwieweit der Rechtsstreit trotz seines rein innerstaatlichen Charakters einen Anknüpfungspunkt zu den Art. 49 und 56 AEUV aufweist, der die Auslegung des Unionsrechts erforderlich macht.“
Somit ist das Vorabentscheidungsverfahren hier – trotz eines rein innerstaatlichen Sachverhalts zulässig.
Begründetheit/ Auslegung des Unionsrechts
Schutzbereich – Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit
Zunächst ist sodann zu klären, was der Maßstab für die Prüfung ist, also welche Grundfreiheit hier einschlägig ist. Hier kommen sowohl die Dienstleistungsfreiheit gem. Art. 56 AEUV also auch die Niederlassungsfreiheit gem. Art. 49 AEUV in Betracht. Diese beiden Grundfreiheiten grenzt der EuGH voneinander ab und hält mit folgender Begründung – allein – die Niederlassungsfreiheit für anwendbar:
„Wenn ein Wirtschaftsteilnehmer seine wirtschaftliche Tätigkeit mittels einer festen Einrichtung im Aufnahmemitgliedstaat auf unbestimmte Zeit tatsächlich ausüben will, ist seine Situation anhand der Niederlassungsfreiheit zu prüfen.“
Entscheidend für die Unterscheidung sind also Aspekte wie räumliche Einrichtung, festes Personal und die beabsichtigte Dauer der Tätigkeit.
Der grenzüberschreitende Bezug, der grundsätzlich für die Anwendbarkeit der Niederlassungsfreiheit erforderlich ist, liegt hier im Hinblick auf die italienische Regelung vor – wie bereits im Rahmen der Zulässigkeit näher erläutert wurde.
In persönlicher Hinsicht kann sich der M. als Unionsbürger gem. Art. 20 AEUV auf die Grundfreiheiten berufen.
Beschränkung
Bei der Niederlassungsfreiheit handelt es sich nicht allein um ein Diskriminierungs-, sondern auch um ein Beschränkungsverbot. Daher gilt als Beschränkung jede nationale Maßnahme, die – unabhängig von einer Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit – die Ausübung der Niederlassungsfreiheit durch Unionsangehörige untersagt, behindert oder weniger attraktiv macht, als Beschränkung im Sinne von Art. 49 AEUV.
Rechtfertigung durch Gründe des Allgemeinwohls
Möglicherweise kann diese Beschränkung aber gerechtfertigt werden. Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit, die keine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit enthalten, sondern unterschiedslos anwendbar sind, können durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein. Zudem müssen sie geeignet sein, die Erreichung des mit ihr verfolgten Ziels zu gewährleisten und nicht über das zu seiner Erreichung erforderliche Maß hinausgehen.
Als Rechtfertigungsgrund wäre zunächst der Schutz der öffentlichen Gesundheit möglich.
„der Schutz der öffentlichen Gesundheit ist zwar einer der im Unionsrecht anerkannten zwingenden Gründe des Allgemeininteresses und die Mitgliedstaaten verfügen in diesem Bereich über einen weiten Ermessensspielraum. Jedoch kann ein solches Ziel die Beschränkung hier nicht rechtfertigen, da die Asche, anders als die sterblichen Überreste, vom biologischen Gesichtspunkt aus inert ist, da sie durch die Hitze steril wird, so dass ihre Aufbewahrung keine auf Erwägungen der öffentlichen Gesundheit beruhende Verpflichtung darstellen kann.“
Als weiterer Grund des Allgemeinwohls, der die Beschränkung der Niederlassungsfreiheit möglicherweise rechtfertigen kann, kommt zudem noch die gebührende Achtung des Andenkens an die Verstorbenen in Betracht. Der EuGH anerkennt, dass dies ein zwingender Grund des Allgemeinwohls darstellen kann. Zweifellos ist ein Verbot gewerblicher Aufbewahrung von Ascheurnen auch geeignet, mögliche Verletzungen der Pietät und unangemessene Verhaltensweisen zu verhindern. Allerdings ist festzustellen,
„dass es weniger einschränkende Maßnahmen gibt, um dieses Ziel zu erreichen, wie insbesondere die Pflicht, die Urnenaufbewahrung unter gleichen Bedingungen wie auf den Friedhöfen der Gemeinde sicherzustellen. Daher geht die Regelung über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels des Schutzes der gebührenden Achtung des Andenkens an die Verstorbenen erforderlich ist.“
Insgesamt ergibt sich damit, das die italienische Regelung unverhältnismäßig ist und daher keine gerechtfertigte Einschränkung der Niederlassungsfreiheit darstellt.
Im Ergebnis ist Art. 49 AEUV dahin auszulegen, dass er der italienischen Regelung entgegensteht, die es verbietet, eine Urne mit der Asche Verstorbener, im Rahmen einer gewerblichen Tätigkeit aufzubewahren.
Weiterführende Hinweise
Die Grundfreiheiten des AEUV sind hier auf den ersten Blick nicht anwendbar, da es sich um einen rein innerstaatlichen Sachverhalt handelt. Aber über die im SV erwähnte allgemeine Regelung des italienischen Rechts, muss man sich den Fall so vorstellen, als würde ein Unionsbürger sich niederlassen, um die „Urnenaufbewahrung“ anzubieten. In diesem Fall wäre das Verbot nach rein italienischem Recht dann zweifellos am Maßstab der unionalen Grundfreiheiten zu messen und unionsrechtswidrig. Damit aber nun italienische Staatsangehörige nicht gegenüber EU-Ausländern benachteiligt werden, gilt die im Sachverhalt beschriebene allgemeine Regelung im italienischen Recht. Dies wiederum lässt der EuGH ausreichen, um eine Entscheidungserheblichkeit des Unionsrechts und eine Zulässigkeit des Vorabentscheidungsverfahrens anzunehmen.
Ein solcher „Kunstgriff“ lässt sich mühelos in eine Klausur einbauen, womit nahezu sämtliche innerstaatlichen Regelungen auf ihre Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht überprüft werden können.
Einmal mehr ein Anlass für uns, euch dringend davon abzuraten, im Europarecht auf Lücke zu setzen.
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