A, der die zulässige Höchstgeschwindigkeit vorsätzlich überschritten hatte, erhielt vom zuständigen Landratsamt einen Anhörungsbogen in einem Bußgeldverfahren, mit welchem die Verhängung eines Bußgeldes und eines einmonatigen Fahrverbots angedroht wurde. Er informierte sich daraufhin im Internet über Möglichkeiten, die angedrohten Sanktionen zu umgehen und stieß auf die Internetseite des nicht ermittelbaren B, der ihm anbot, gegen die Zahlung von 1.000 € selber die Punkte und das Fahrverbot zu übernehmen. Nachdem A den Betrag auf ein Schweizer Nummernkonto überwiesen hatte, füllte B den Anhörungsbogen, den A ihm zuvor per Mail übersandt hatte, aus, wobei er angab, X zu sein und als vermeintlicher X gab er dann auch den Verstoß zu und unterzeichnete den Anhörungsbogen. Tatsächlich gab es keinen X, der Bogen wurde also im Namen einer fiktiven Person ausgestellt. Diesen Anhörungsbogen übermittelte B an das Landratsamt. Das Verfahren gegen A wurde daraufhin eingestellt und ein neues Verfahren gegen X eingeleitet. Nach einem halben Jahr erhielt die Behörde dann die Mitteilung von der Polizei, dass es X nicht gebe. Zu diesem Zeitpunkt war bereits in Bezug auf A Verfolgungsverjährung gem. § 31 II Nr. 4 OWiG eingetreten, so dass er nicht mehr belangt werden konnte.
Das OLG Stuttgart (NJW 2018, 1110) bestätigte den Freispruch des A in letzter Instanz.
Bevor wir uns mit § 164 II StGB beschäftigen, wollen wir uns kurz anschauen, welche anderen Straftaten in einer Klausur oder in der mündlichen Prüfung angeprüft werden müssten.
Zu denken ist zunächst an eine Beteiligung – ob als Mittäter oder Teilnehmer – an § 267 I 1. und 3. Alt. StGB. Durch das Ausfüllen und Unterzeichnen des Anhörungsbogens hat B eine unechte Urkunde hergestellt und diese dann auch durch das Versenden an die Behörde gebraucht. Dass der vermeintliche Aussteller – X – gar nicht existiert, ist dabei unerheblich (Fischer, § 267Rn. 30 mwN). B könnte sich dabei auch wegen einer Urkundefälschung in einem besonders schweren Fall strafbar gemacht haben gem. Abs. 3 Nr. 1., da er wohl gewerbsmäßig handelte. Eine Strafbarkeit des A, ob als Mittäter oder Teilnehmer, scheitert allerdings am Vorsatz, da A glaubte, B werde den Bogen in seinem Namen unterzeichnen, mithin also eine echte Urkunde herstellen.
Sofern nach der Vorstellung des A die Ordnungswidrigkeit des B im Fahreignungsregister eingetragen worden wäre, könnte man an §§ 271, 22 StGB denken. Dann müsste dieses Register jedoch ein „öffentliches Register“ sein (§ 415 ZPO), was nicht der Fall ist (Jahn, JuS 2018, 592).
Zu denken ist ferner an eine Beteiligung an § 263 I StGB. Dies scheitert allerdings am Schaden, da die Sanktionsansprüche des Staates nicht zum geschützten Vermögen des § 263 StGB gehören.
Sanktionsansprüche werden aber über § 258 StGB geschützt, allerdings nur, soweit es sich um eine verfolgbare Straftat handelt, Ordnungswidrigkeiten sind nicht erfasst.
Das Gleiche gilt für § 145d, so dass auch hier eine Beteiligung an einer Straftat nicht in Betracht kommt.
Damit kommen wir zu einer Beteiligung an § 164 StGB. Abs. 1 scheidet von vorneherein aus, da sich die falsche Verdächtigung auf eine rechtswidrige Tat beziehen muss und nicht auf eine Ordnungswidrigkeit.
Damit wird nun aber Abs. 2 relevant, der ansonsten ein relatives Schattendasein fristet.
Hier wird bestraft, wer wissentlich (also zumindest mit dolus directus 2. Grades) eine sonstige Behauptung tatsächlicher Art aufstellt, die geeignet ist, ein behördliches Verfahren oder andere behördliche Maßnahmen gegen „einen anderen“ herbeizuführen oder fortdauern zu lassen.
B hat wahrheitswidrig behautet, dass X eine Ordnungswidrigkeit begangen habe. Dies Behauptung war geeignet, ein Ordnungswidrigkeitenverfahren gegen X einzuleiten. Problematisch ist nun jedoch, ob sich dieses Verfahren gegen „einen anderen“ richten sollte. Auf den ersten Blick möchte man das bejahten, da X definitiv nicht A ist und damit ein „anderer“ sein könnte. Die Besonderheit des vorliegenden Falles besteht darin, dass X gar nicht existiert. Damit stellt sich die Frage, ob auch nichtexistierende Personen „andere“ im Sinne der Norm sind.
Das OLG Stuttgart hat dies verneint und dabei klassisch anhand der Auslegungsmethoden argumentiert (was auch sonst?!). Damit Sie lernen, wie man es richtig macht, nachfolgend die Argumente des OLG (a.a.O.).
- Wortlaut
„Bis zur Neubekanntmachung des Strafgesetzbuchs zum 1.1.1975 lautete die gesetzliche Abschnitts- und Normüberschrift bei insoweit gleichem Wortlaut der Norm „Falsche Anschuldigung“, seit diesem Zeitpunkt „Falsche Verdächtigung“. Zwar stellt die Normüberschrift selbst keinen Teil des gesetzlichen Straftatbestands dar, sie kann aber zur Auslegung herangezogen werden. „Anschuldigung“ und „Verdächtigung“ beziehen sich nach ihrem Wortsinn stets auf eine konkret existierende Person. So definiert das Duden-Wörterbuch den Verdacht als eine argwöhnische Vermutung einer bei jemandem liegenden Schuld, einer jemanden betreffenden schuldhaften Tat oder Absicht. Auch der Normtext „über einen anderen“ selbst spricht – wenn auch nicht zwingend – dafür, dass sich die Tathandlung auf eine andere existierende Person beziehen muss.“
- Systematik
„Systematisch spricht vor allem § 165 StGB als Ergänzung des § 164 StGB im Zehnten Abschnitt des Besonderen Teils des Strafgesetzbuchs dafür, dass sich die Behauptung gegen eine tatsächlich existierende Person richten muss: § 165 StGB gesteht dem Verletzten unter bestimmten Voraussetzungen ein Recht auf öffentliche Bekanntgabe der Verurteilung zu. Notwendigerweise setzt damit § 165 StGB bei einer Tat nach § 164 StGB einen Verletzten, mithin eine existierende Person, voraus.“
- Historisch
„Auch eine historische Betrachtung stützt diese Ansicht: Nach § 164 des Reichsstrafgesetzbuchs von 1871 wurde bestraft, wer bei einer Behörde eine Anzeige erstattet, durch welche er jemanden wider besseres Wissen der Begehung einer strafbaren Handlung oder der Verletzung einer Amtspflicht beschuldigt. Auf der Grundlage des Entwurfs von 1927 wurde der Tatbestand 1933 durch das Gesetz zur Änderung strafrechtlicher Vorschriften vom 26.5.1933 (RGBl. I 1933, 295 f.) neu gefasst, als Tathandlung das „Verdächtigen eines anderen“ eingeführt und im neu geschaffenen Absatz 2 andere behördliche Verfahren in den Schutz einbezogen (vgl. zur Historie insgesamt MüKoStGB/Zopfs, § 164 Rn. 1, 8 f.). Schließlich wurde durch die Strafrechtsangleichungsverordnung vom 29.5.1943 (RGBl. I 1943, 339) § 145 d StGB als Auffangtatbestand für diejenigen Fälle eingefügt, die nicht als falsche Verdächtigung, Betrug oder Strafvereitelung erfasst werden konnten (MüKoStGB/Zopfs, § 145 d Rn. 1 mwN). Dabei war die Schaffung des § 145 d StGB eine bewusste Reaktion des Normgebers auf die „Strafbarkeitslücke“ des § 164 StGB, ausdrücklich auch in Bezug auf das Verdächtigen einer nicht existenten oder nicht bestimmbaren Person (Mezger in Gürtner, Das kommende deutsche Strafrecht, BT, Bericht über die Arbeit der amtlichen Strafrechtskommission, 2. Aufl. 1936, 335). § 145 d StGB erfasste die hier in Rede stehende Fallkonstellation bis der Gesetzgeber durch Art. 3 Nr. 4 des Einführungsgesetzes zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten vom 24.5.1968 (BGBl. I 1968, 503 [513]) die bis dahin als Straftaten ausgestalteten Straßenverkehrsübertretungen in Ordnungswidrigkeiten umwandelte (BT-Drs. 5/1319, 87 f.). Bei der in diesem Zusammenhang erfolgten Anpassung des Strafgesetzbuchs zog der Gesetzgeber, obwohl er andere Vorschriften des Strafgesetzbuchs angepasst hat (vgl. BT-Drs. 5/1319, 53), eine Änderung des § 145 d StGB nicht in Erwägung. Eine historische Auslegung der Norm ergibt daher, dass der Gesetzgeber in § 164 StGB nur die falsche Verdächtigung einer bestimmten existierenden Person unter Strafe stellen wollte.“
- Teleologisch:
Eine teleologische Betrachtung der Norm mag zwar für ihre Anwendbarkeit auch im Fall von Behauptungen, die sich auf nicht existente Personen beziehen, sprechen: Während das RG zunächst die Auffassung vertreten hatte, dass § 164 StGB zumindest vorrangig die Rechtspflege vor Irreführung schütze, ist heute in Rechtsprechung und Literatur ganz überwiegend anerkannt, dass die Norm zwei Rechtsgüter schützt. So soll § 164 StGB zum einen die Funktionsfähigkeit der innerstaatlichen Rechtspflege im weiteren Sinne vor ungerechtfertigter Inanspruchnahme schützen. Zum anderen soll die Norm auch dem Individualrechtsschutz dienen und den Einzelnen vor ungerechtfertigten Verfahren und anderen Maßnahmen irregeführter Behörden bewahren (vgl. zum geschützten Rechtsgut und Normzweck LK-StGB/Ruß, § 164 Rn. 1; Lenckner/Bosch in Schönke/Schröder, § 164 Rn. 1 a; MüKoStGB/Zopfs, § 164 Rn. 2, jew. mwN). Diese beiden Schutzrichtungen bestehen nach herrschender Meinung nebeneinander (Fischer, § 164 Rn. 2 mwN). Sieht man bereits die Beeinträchtigung eines der beiden geschützten Güter als zur Annahme strafwürdigen Verhaltens ausreichend an (sog. „Alternativitätstheorie“, Lenckner/Bosch in Schönke/Schröder, § 164 Rn. 1 a), könnte auch eine nur erfundene, nicht existente Person als „anderer“ iSv § 164 StGB qualifiziert werden, auch wenn dadurch das ebenfalls geschützte Individualinteresse nicht berührt wird. Da mit der Irreführung von Behörden – wie sie hier vorliegt – jedenfalls ein Schutzgut der Norm verletzt ist, kann ein solches Verständnis des Normzwecks für eine Strafbarkeit der Bezichtigung nichtexistierender Personen sprechen.
Ein solches Ergebnis der teleologischen Auslegung steht den Ergebnissen der Auslegung nach Wortsinn, Systematik und Historie aber entgegen. Die Auslegung eines Strafgesetzes findet ihre Grenze in dem – aus Sicht des Bürgers – noch möglichen Wortsinn. Soweit auf den Willen des Gesetzgebers abgestellt werden soll, muss dieser im Gesetz einen hinreichend bestimmten Ausdruck gefunden haben. Art. 103 II GG verpflichtet den Gesetzgeber, die Voraussetzungen eines Straftatbestands so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich sowie Rechtsfolgen eines Verstoßes zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen (vgl. Senat, NStZ-RR 2015, 89; NStZ-RR 2016, 255, jew. mwN). Zwar mag ein Verständnis des Wortlauts des § 164 II StGB, das die Bezichtigung nicht existierender Personen einschließt, noch möglich erscheinen. Jedoch wird das Normverständnis auch wesentlich durch die gesetzlichen Norm- und Abschnittsüberschriften, in denen jeweils von „Verdächtigung“ die Rede ist, geprägt. Dieses Argument führt zusammen mit dem eindeutigen Ergebnis der historischen Auslegung sowie dem Ergebnis der systematischen Auslegung der Norm dazu, dass der Begriff des „anderen“ in § 164 StGB nur eine existente Person sein kann. Daher ist es hinzunehmen, dass trotz der nicht unerheblichen Beeinträchtigung des Schutzgutes der innerstaatlichen Rechtspflege eine Strafbarkeit nach § 164 StGB ausscheidet und dem Normzweck in dieser Hinsicht keine Geltung verschafft werden kann.“
Zusammengefasst ergibt sich also folgendes: Dem Wortlaut nach bezieht sich das Verdächtigen auf eine konkrete und damit lebende Person. Dies wird durch den systematischen Vergleich mit § 165 StGB gestützt, wonach dem Verletzten ein Recht auf öffentliche Bekanntgabe eingeräumt wird – dafür muss es aber existieren. Dies wiederum führt dazu, dass das geschützte Rechtsgut nicht nur die Funktionsfähigkeit der innerstaatlichen Rechtspflege sondern ergänzend (und nicht alternativ, so das OLG) der Schutz des Einzelnen vor ungerechtfertigten Verfahren ist. Bei nichtexistierenden Personen ist eine Verletzung des zweiten Rechtsguts nicht möglich, so dass § 164 StGB nur bei existierenden Personen anwendbar ist. Zu einem anderen Ergebnis kämen die Vertreter der „Alternativitätstheorie“ (Lenckner/Bosch in Schönke/Schröder, § 164 Rn. 1 a). Der Vorteil dieser Auffassung besteht darin, dass Strafbarkeitslücken wie im vorliegenden Fall geschlossen werden.
Da somit keine Beteiligung des A an Straftaten des B in Betracht kommt, war A frei zu sprechen.