Sachverhalt (vereinfacht)
S ist praktizierender Sikh und trägt aus religiösen Gründen in der Öffentlichkeit stets einen Turban. Außerdem fährt er regelmäßig Motorrad. Um seinen Turban dafür nicht mit einem Motorradhelm tauschen zu müssen, beantragt er eine – grundsätzlich mögliche – Ausnahmegenehmigung zur Befreiung von der Pflicht, beim Motorradfahren einen Schutzhelm zu tragen. Nur so könne er die von ihm als verpflichtend empfundenen religiösen Gebote erfüllen.
Die zuständige Behörde lehnte seinen Antrag ab. Begründet wurde dies damit, dass die begehrte Befreiung nur aus gesundheitlichen Gründen erteilt werden kann. Eine Befreiung aus religiösen Gründen komme von vornherein nicht in Betracht.
Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren klagt S auf Erteilung der Ausnahmegenehmigung. Er sieht sich durch die Ablehnung in seiner Religionsfreiheit verletzt.
„§ 21a StVO
(1) …
(2) Wer Krafträder führt sowie auf oder in ihnen mitfährt, muss während der Fahrt einen geeigneten Schutzhelm tragen.“
§ 46 StVO
(1) Die Straßenverkehrsbehörden können in bestimmten Einzelfällen oder allgemein für bestimmte Antragsteller Ausnahmen genehmigen
(…)
Nr. 5 b: von den Vorschriften über das Anlegen von Sicherheitsgurten und das Tragen von Schutzhelmen (§ 21a StVO).“
Hat seine Klage Aussicht auf Erfolg?
Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts
Zulässigkeit
Da es sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art handelt, ist der Verwaltungsrechtsweg nach § 40 Abs. 1 VwGO eröffnet.
Die statthafte Klageart richtet sich nach dem Begehren des Klägers, § 88 VwGO. Hier begehrt S eine Ausnahmegenehmigung von der Verpflichtung zum Tragen eines Schutzhelms. Dabei handelt es sich um einen Verwaltungsakt i.S.d. § 35 S. 1 VwVfG. Somit ist die Verpflichtungsklage gem. § 42 Abs. 1 VwGO in der Form der Versagungsgegenklage statthaft.
S müsste klagebefugt nach § 42 Abs. 2 VwGO sein. Dazu müsste eine Verletzung eines subjektiv-öffentlichen Rechts des S zumindest möglich sein. S könnte einen Anspruch aus § 46 Abs. 1 StVO auf Erteilung der Ausnahmegenehmigung haben. Diese Vorschrift dient zumindest auch seinen individuellen Interessen. Somit hat S einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung. Es ist nicht von vornherein ausgeschlossen, dass dieses Recht dadurch verletzt wurde, dass ihm eine Ausnahmegenehmigung aus religiösen Gründen versagt wurde.
S hat das Widerspruchsverfahren – das ggf. nach landesrechtlichen Vorschriften entbehrlich ist – erfolglos durchgeführt.
Zudem müsste er die Monatsfrist des § 74 VwGO ab Zustellung des Widerspruchsbescheids einhalten und die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen, insbesondere nach den §§ 61, 62, 78 VwGO erfüllen.
Somit ist seine Klage zulässig.
Begründetheit
Fraglich ist, ob die Klage des S begründet ist. Dies ist der Fall, wenn die Ablehnung des Begehrens des S auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung rechtswidrig war und ihn in seinen Rechten verletzt.
Zu prüfen ist also, ob S einen Anspruch auf Erteilung der Ausnahmegenehmigung hat.
Ein solcher könnte sich aus § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5b StVO ergeben. Danach kann eine Ausnahmegenehmigung erteilt werden von der Pflicht zum Tragen eines Schutzhelms bei Führen eines Kraftrads gem. § 21 a Abs. 2 StVO.
Besondere Tatbestandsvoraussetzungen enthält die Norm nicht. Die Ausnahmegenehmigung „kann“ erteilt werden, die Behörde hat also Ermessen. S wiederum hat damit einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Antrag.
Die Behörde lehnt die Befreiung mit dem Hinweis darauf ab, diese könne allein aus gesundheitlichen Gründen erteilt werden. Somit hat die Behörde offenbar nicht erwogen, dass dem S auch eine Ausnahmegenehmigung aus religiösen Gründen erteilt werden könnte. Er stützt das Tragen eines Turbans auf ein religiöses Gebot, das ihn dazu verpflichte, diesen Turban zu tragen und auch beim Motorradfahren nicht zugunsten eines Schutzhelms abzusetzen. Es ist daher nicht von vornherein ausgeschlossen, dass sich ein Anspruch auf Erteilung der Ausnahmegenehmigung aus religiösen Gründen ergibt und die Religionsfreiheit des S gem. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG das Ermessen der Behörde beschränkt. Solche Überlegungen hat die Behörde aber offenbar gar nicht angestellt. Sie hat die Religionsfreiheit als Grundrecht gar nicht als ermessenslenkende und -beschränkendes Verfassungsgut bei der Ausübung ihres Ermessens beachtet. Darin liegt ein Ermessensfehler in Form eines Ermessensausfalls bzw. eines Ermessensfehlgebrauch.
Somit ist der Anspruch des S auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Antrag auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung verletzt worden.
Fraglich ist, ob S auch einen unmittelbaren Anspruch auf Erteilung der Ausnahmegenehmigung zur Befreiung von der Helmpflicht hat. Ein solcher Anspruch kommt nur bei einer Ermessensreduzierung auf Null in Betracht.
Eine solche Ermessensreduzierung könnte sich aus der Bedeutung der Religionsfreiheit gem. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ergeben.
Dazu das BVerwG:
„Durch die in § 21a Abs. 2 StVO angeordnete Pflicht, beim Motorradfahren einen geeigneten Schutzhelm zu tragen, wird zwar niemand an der Praktizierung seines Glaubens gehindert. Bei Befolgung der von ihm als verbindlich empfundenen Bekleidungsvorschriften muss der Kläger aber auf das Motorradfahren verzichten. Die Regelung kann ihn daher mittelbar in seiner Religionsausübung beeinträchtigen.“
Ein Anspruch auf Befreiung von der Helmpflicht kann aber nur dann bestehen, wenn dem Betroffenen der Verzicht auf das Motorradfahren aus besonderen individuellen Gründen nicht zugemutet werden kann.
Eine Einschränkung der Religionsfreiheit muss sich aus der Verfassung selbst ergeben. Art. 4 Abs. 1 und 2 GG enthält keinen Gesetzesvorbehalt, so dass eine Einschränkung nur aus verfassungsimmanenten Schranken in Betracht kommt, also Grundrechte Dritter und Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang.
Dazu führt das BVerwG aus:
„Die in § 21a Abs. 2 StVO angeordnete Verpflichtung, beim Motorradfahren einen Schutzhelm zu tragen, soll dazu beitragen, die Folgen von Kraftradunfällen zu mindern und die Verkehrssicherheit auf öffentlichen Straßen zu erhöhen. Die Vorschrift dien zwar primär dem Schutz des Motorradfahrens und seiner Mitfahrer vor schweren Kopfverletzungen. Sie hat aber auch den Schutz der Allgemeinheit im Blick und soll Gefährdungen anderer Unfallbeteiligter oder Dritter vermeiden.
Ein Kraftradfahrer, der ohne geeigneten Schutzhelm fährt und deshalb bei einem Unfall eine schwere Kopfverletzung davonträgt, schadet nicht nur sich selbst, sein Verhalten hat vielmehr auch weitreichende Folgen für die Allgemeinheit. Durch die Verpflichtung, beim Führen eines Kraftrads einen geeigneten Schutzhelm zu tragen, werden betroffene Motorradfahrer nach einem Unfall eher in der Lage sein, zur Abwehr von Gefahren für Leib und Leben anderer Personen beizutragen. Dies gilt unmittelbar dadurch, dass sie selbst Erste Hilfe leisten oder einen Notarzt rufen können. Sie können aber auch mittelbar zur Vermeidung weiterer Schäden beitragen, indem sie Maßnahmen zur Absicherung der Unfallstelle ergreifen, z.B. Warndreiecke aufstellen oder in anderer Weise auf die Unfallstelle aufmerksam machen und Hindernisse von der Fahrbahn räumen.“
Insofern dient die Einschränkung der Religionsfreiheit also dem Grundrecht von Leben und körperlicher Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG. Eine Ermessensreduzierung auf Null und ein unmittelbarer Anspruch auf Erteilung der Ausnahmegenehmigung kommt insofern nicht in Betracht. Vielmehr muss die Religionsfreiheit im Einzelfall mit der Gefahr für die öffentliche Sicherheit abgewogen werden. Es bleibt somit bei dem Ermessensfehler, der sich daraus ergibt, dass die Straßenverkehrsbehörde eine Befreiung von der Helmpflicht aus religiösen Gründen nicht einmal in Betracht gezogen hat. Die (ermessensfehlerhafte) Ablehnung des Antrags des S ist somit rechtswidrig und verletzt ihn in seinen Rechten. Also ist die Klage zulässig und begründet.
Hinweise
Der Fall zeigt anschaulich, welche Bedeutung die Grundrechte auch in einer verwaltungsrechtlichen Klausur erlangen können. Hier war zunächst zu erkennen, dass eine fehlerfreie Ermessensausübung zumindest die Bedeutung der Religionsfreiheit als ermessenslenkendes Verfassungsgut hätte berücksichtigen müssen. Danach war zu prüfen, ob das Grundrecht der Religionsfreiheit möglicherweise sogar eine Ermessensreduzierung auf Null begründet, war hier im Ergebnis abzulehnen ist.
Im Ergebnis wird ein sog. Bescheidungsurteil ergehen, vgl. § 113 Abs. 5 VwGO. Die Sache ist noch nicht spruchreif. Die Behörde wird erneut eine Ermessensentscheidung zu treffen haben – unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts.