Der Entscheidung des BGH (Urt. v. 1.7.2014 − 5 StR 134/14) lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Der aidskranke und körperlich geschwächte Angeklagte A wohnte zur Tatzeit zusammen mit dem späteren, gewohnheitsmäßig trinkenden Tatopfer R in einem Männerwohnheim. Am Tattag war es am nachmittag bereits zu einer Auseinandersetzung zwischen A und R gekommen, die jedoch damit endete, dass A den aggresiv auftretenden und stark alkoholisierten R durch das Entgegenhalten eines Hammers einschüchterte und schließlich auch vertrieb. Am Abend desselben Tages ging A mit einem Kumpel an einem Haus vorbei, in dessen 1. OG sich R auf dem Balkon aufhielt, um zusammen mit anderen zu trinken. Dabei war er bewaffnet mit einem Küchenmesser mit einer Klingenlänge von 13 cm, das er möglicherweise stets zu seinem Schutz bei sich zu tragen pflegte. Als R ihn bemerkte, fragte er A in aggresiven Ton, ob er immer noch seinen Hammer dabei habe, was A verneinte. Daraufhin rief R dem A zu, dass er nunmehr herunter kommen werde. Der zu diesem Zeitpunkt angetrunkene aber schuldfähige A, der damit rechnete, von R angegriffen zu werden, verbleib vor Ort, u.a. um nicht als Feigling dazustehen und weil er meinte, man müsse die Angelegenheit nun mal abschließend klären.
Als R, der eine Blutalkoholkonzentration von 2,76 Promille hatte, auf ihn zugelaufen kam, erkannte A dessen hohe Alkoholisierung und fehlende Bewaffnung. R versuchte ihm mit der Faust in das Gesicht zu schlagen. Aufgrund seiner Alkoholisierung kam er jedoch ins Straucheln und verfehlte A, der ihm hatte ausweichen können. Dann erhob er erneut die Faust zum Schlag. Nunmehr zog A sein in der Hosentasche verborgenes Messer hervor, „um sich nicht ausschließbar damit gegen einen weiteren Angriff zu wehren“. Obwohl ihm ein erneutes Ausweichen ohne weiteres möglich gewesen wäre, stach er ohne Vorwarnung und mit bedingtem Tötungsvorsatz mit dem Messer in Richtung des Oberkörpers seines Kontrahenten, wobei er möglicherweise dessen Schlagfaust treffen wollte. Der Stich traf R jedoch direkt in die Brust und verletzte dort die Hauptschlagader. Er brach infolge dieser Verletzung sofort zusammen und verstarb noch am Tatort.
A könnte sich gem. § 212 StGB des Totschlags an R strafbar gemacht haben, indem er mit dem Messer zustach.
Der objektive und subjektive Tatbestand sind unproblemtisch erfüllt.
Fraglich ist jedoch, ob A nicht gem. § 32 StGB gerechtfertigt sein könnte. In den versuchten Faustschlägen liegt zunächst einmal ein gegenwärtiger und rechtwidriger Angriff des R auf die körperliche Integrität des A. Eine Notwehrlage kann mithin bejaht werden. Fraglich ist nun aber, ob der Stich die erforderliche und gebotene Verteidigungshandlung darstellte.
Erfoderlich ist eine Handlung, wenn sie geeignet ist, den Angriff zu beenden und von mehreren gleich geeigneten Mitteln das mildeste Mittel ist.
Die Tötung ist zweifelsohne die geeignetste Handlung, um jedweden Angriff abzuwehren, Fraglich ist aber, ob sie auch das mildeste Mittel ist. Bei Verwendung tödlicher Verteidigungsmittel hat der Täter grundsätzlich eine "Stufenfolge" einzuhalten, sofern es die "Kampflage" hergibt.
Der BGH führt dazu folgendes aus: "Ob dies der Fall ist, muss auf der Grundlage einer objektiven ex-ante-Betrachtung der tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Verteidigungshandlung beurteilt werden ... Danach muss der Angegriffene auf weniger gefährliche Verteidigungsmittel nur dann zurückgreifen, wenn deren Abwehrwirkung unzweifelhaft ist und genügend Zeit zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht. Auch der sofortige, das Leben des Angreifers gefährdende Einsatz einer Waffe kann mithin durch Notwehr gerechtfertigt sein. Gegenüber einem unbewaffneten Angreifer ist der Gebrauch eines bis dahin noch nicht in Erscheinung getretenen Messers allerdings in der Regel anzudrohen."
Vorliegend hätte A zunächst das Messer zücken und dessen Einsatz androhen müssen. Wie die vorangegangene Auseinandersetzung am Nachmittag gezeigt hatte, hatte sich R bereits zuvor durch das Androhen des Hammers beeindrucken lassen und war auch jetzt nur Heruntergekommen, weil A das Bei-Sich-Führen des Hammers verneint hatte. Zudem hätte A versuchen müssen, zunächst Arme und/oder Beine zu treffen. In Anbetracht dessen war der Stich schon nicht erforderlich, so dass eine Notwehr gem. § 32 StGB ausscheidet.
Zudem bestehen in Anbetracht der von A zutreffend erkannten, schweren Alkoholisierung des R Zweifel an der Gebotenheit. Ist ein Angreifer ersichtlich schuldunfähig oder jedenfalls vermindert schuldfähig, dann muss der Angegriffene versuchen, zunächst Schutzwehr zu üben, bevor er zur Trutzwehr übergehen darf.
Auch könnte man über eine Notwehrprovokation nachdenken. Dann müsste das verbleiben des A am späteren Tatort ein provozierendes Vorverhalten darstellen, was aber letztlich verneint werden müsste, da zugunsten des A davon asugegangen werden muss, dass er die Angelegenheit mit R argumentativ klären wollte, was ein sozialethisch zulässiges Verhalten ist.
Da auch die Schuld bejaht werden kann, hat A sich zunächst gem. § 212 StGB strafbar gemacht. Fraglich ist nunmehr aber, ob nicht ein minder schwerer Fall gem. § 213 StGB vorliegen könnte.
Der BGH führt hierzu folgendes aus:
"Die Gewichtung der im Urteil aufgeführten zahlreichen Strafmilderungsgründe im Rahmen des im Ergebnis zutreffend gewählten Strafrahmens des § 213 StGB begegnet durchgreifenden Bedenken.
Es ist schon zweifelhaft, ob die erste Alternative des § 213 StGB verneint werden durfte. Angesichts der aggressiven Ansprache des Angekl. durch das spätere Opfer vom Balkon unter Bezugnahme auf dessen vorangegangene Aggressionen am Nachmittag im Wohnheim und angesichts seines versuchten Faustangriffs auf den Angekl. ... ist die unter Verweisung auf das „Trinkermilieu“ vom LG angenommene Verneinung einer Provokation im Sinne der Vorschrift fehlerhaft. Ein Verschulden des Angekl. in seinem beharrlichen Verbleiben am Tatort zu sehen, ist angesichts der maßgeblich vom späteren Opfer ausgehenden Aggression gleichfalls bedenklich. Zweifelhaft bleibt freilich, ob der Umstand, dass der Angekl. damit gerechnet hatte, angegriffen zu werden, ein „Hingerissensein“ zur Tat im Sinne der Norm hindert .... Der Senat kann dies offenlassen.
Denn die Anwendung der zweiten Alternative des § 213 StGB war hier aufgrund der Notwehrlage und „einer Tötung im Grenzbereich der Notwehr“ zwingend. Diese Problematik hat das LG zwar erkannt, das in gleichem Maße wie beim Vorliegen der ersten Alternative anzuerkennende Gewicht dieses ausschlaggebenden Strafrahmenfaktors aber nicht ausreichend gewichtet, weil es ihn lediglich im Rahmen einer „Gesamtabwägung“ mit den sonstigen Strafmilderungsgründen für die Strafrahmenwahl herangezogen hat. …"
Bedenken Sie in Ihrer Klausur also stets § 213 StGB, wenn Sie die Erforderlichkeit oder Gebotenheit der Notwehr verneint haben und Sie es mit einer Handlung im Grenzbereicht der Notwehr zu tun haben.