Der Entscheidung des BGH (Urteil des BGH vom 15.2.2022 – VI ZR ZR 937/20) lag folgender Tatbestand zugrunde:
„Im Dezember 2012 verunglückte der Kläger bei einem Verkehrsunfall, als er sich als Unfallhelfer auf dem Seitenstreifen einer Autobahn befand und von einem ins Schleudern geratenen Fahrzeug erfasst wurde. Für die Folgen des Unfalls ist der Beklagte dem Grunde nach einstandspflichtig. Der Kläger erlitt bei dem Unfall erhebliche Verletzungen, unter anderem eine erstgradig offene Unterschenkelfraktur rechts, einen knöchernen Kollateralbandausriss am Wadenbein links, eine minimale intracerebrale Gehirnblutung fronto-parietal rechts sowie eine Ruptur der Fibulotalarbänder des oberen Sprunggelenks. Im Zeitraum zwischen dem Unfallereignis und Februar 2015 wurde der Kläger 13-mal stationär in Krankenhäusern behandelt, in denen er insgesamt über 500 Tage verbrachte. Es wurden mehrere Revisionsoperationen und Materialentfernungen durchgeführt, bis schließlich aufgrund eines persistierenden Infekts im November 2014 der rechte Unterschenkel amputiert und der Kläger mit einer Endoprothese versorgt wurde. Der Kläger ist in Folge des Verkehrsunfalls zu mindestens 60 % in seiner Erwerbsfähigkeit gemindert.“
Bei der Entscheidung hatte die Vorinstanz die Methode der sogenannten taggenauen Berechnung des Schmerzensgeldes zur Anwendung gebracht. Die Berechnung erfolgt dabei in zwei Stufen. Auf der 1. Stufe wird unabhängig von den konkreten Verletzungen und den damit individuell einhergehenden Schmerzen ein am Pro-Kopf-Bruttonationaleinkommen orientierter Tagessatz gebildet. Je nach Grad der Schädigungsfolgen und der Behandlungsstufe (z.B. Normalstation oder Intensivstation) werden unterschiedliche Prozentsätze für den Abschlag angesetzt. Die ermittelten Werte werden sodann (taggenau) addiert. Diesem Berechnungsansatz liegt die Grundannahme zu Grunde, dass „jeder Mensch vor dem Schmerz gleich“ sei.
Erst im Rahmen der 2. Stufe werden Abweichungen von der zuvor errechneten Summe vorgenommen. Hier wird der Einzelfall berücksichtigt. Zu- und Abschläge können aufgrund des Verschuldensgrades, der besonderen Schwere des Falls oder der Vermögensverhältnisse der Parteien vorgenommen werden.
Diese Berechnungsmethode hat der BGH abgelehnt.
Zunächst werden das alleinige Abstellen auf die Anzahl der Tage und das pauschale Kriterium der Behandlungsstufe kritisiert.
„Das alleinige Abstellen auf die Dauer des Krankenhausaufenthalts und auf die Frage, ob der Geschädigte auf der Intensiv- oder einer Normalstation behandelt wurde, gründet auf der Annahme, dass sich die Lebensbeeinträchtigung zweier Patienten, die für dieselbe Dauer auf der gleichen Stationsart behandelt werden, unabhängig davon entspreche, ob Auslöser für die Behandlung etwa eine Querschnittlähmung oder Arm- und Rippenfrakturen seien. Hierdurch lässt das Berufungsgericht wesentliche für die Bemessung des Schmerzensgeldes maßgebliche Umstände außer Acht, namentlich, welche Verletzungen der Kläger überhaupt erlitten hat, wie die Verletzungen behandelt wurden und welches individuelle Leid bei ihm durch die Verletzungen und ggf. auch durch die Behandlungsmaßnahmen ausgelöst wurde. Die in der Konzentration auf den vermeintlich "allgemeingültigen Parameter" der Behandlungsform (hier: Normalstation) liegende Loslösung von der konkreten Verletzung widerspricht zudem jeder Lebenserfahrung. Eine stationäre Behandlung kann aus einer Vielzahl von Gründen veranlasst sein, die von der Aufnahme zur Beobachtung bei einem bloßen Krankheitsverdacht ohne spürbare Beeinträchtigung des körperlichen Wohlbefindens bis zur Notwendigkeit der Behandlung multipler, schwerster Verletzungen reichen. Auch wird bei der vom Berufungsgericht vorgenommenen Pauschalierung nicht berücksichtigt, dass selbst objektiv gleichartige Verletzungen, die auf dieselbe Weise behandelt werden, zu individuell sehr verschieden empfundenem Leid führen können“.
Auch das ausschließliche Abstellen auf den Grad der Schädigungsfolgen (GdS) ist nicht angemessen.
„Zwar handelt es sich bei den Auswirkungen der durch den Unfall verursachten Dauerschäden auf das Alltagsleben des Geschädigten um wesentliche, für die Bemessung des Schmerzensgeldes maßgebliche Umstände. Doch kann der Umfang des individuellen Leidens, dem ein Geschädigter infolge von Dauerschäden ausgesetzt ist, unabhängig von inhaltlichen Einwänden gegen eine unzureichende Binnendifferenzierung der genannten Verordnung nicht durch die isolierte Betrachtung der körperlichen und/oder psychischen Defizite ermittelt werden. Er hängt vielmehr ganz wesentlich von den individuellen Lebensumständen des Geschädigten ab.“
Hinweis
Die Amputation eines Unterschenkels stellt sich für einen Leistungssportler, der sich beruflich neu orientieren muss, als gravierenderer Einschnitt in sein Leben dar als für einen Geschädigten, der eine Bürotätigkeit ausübt und diese auch weiterhin ausüben kann. Auch jenseits der beruflichen Tätigkeit sind die denkbaren Einbußen an Lebensqualität infolge einer Unterschenkelamputation sehr verschieden und stellen sich beispielsweise für einen Geschädigten, der in seiner Freizeit bislang sportlich aktiv war und dies nicht in gleichem Umfang wird fortführen können, schwerwiegender dar als für einen Geschädigten, der Hobbys pflegt, deren Ausübung nicht in gleicher Weise durch das Fehlen eines Unterschenkels beeinträchtigt wird.
Ferner wird klargestellt, dass die Schadensdauer einen wichtigen Faktor bei der Bemessung des Schmerzensgeldes darstellt, jedoch eine schematische Konzentration an der Anzahl der Tage bei der Berechnung nicht veranlasst ist.
„In der zunächst schematischen Konzentration auf die Anzahl der Tage, die der Geschädigte in einer bestimmten Einrichtung verbracht hat, und - vor allem - auf die Anzahl der Tage, die er nach seiner Lebenserwartung mit der dauerhaften Einschränkung voraussichtlich noch wird leben müssen, liegt zudem eine rechtsfehlerhafte Betonung der Schadensdauer. Zwar ist die Dauer der Schmerzen, Leiden und Entstellungen eines der ausschlaggebenden Momente für die Bemessung der Lebensbeeinträchtigung. Als solches ist sie aber den ebenfalls wichtigen Kriterien der Größe und Heftigkeit der Schmerzen nicht vorrangig (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. September 2016 - VGS 1/16, BGHZ 212, 48 Rn. 54; vom 6. Juli 1955 - GSZ 1/55, BGHZ 18, 149, 167 f., juris Rn. 42); ein Rangverhältnis lässt sich insoweit nicht aufstellen.“
Auch die Bezugsgröße des Bruttonationaleinkommens wird als unzureichend abgelehnt.
„Der Referenzgröße des Bruttonationaleinkommens, das die innerhalb eines Jahres von allen Bewohnern eines Staates erwirtschafteten Einkommen erfasst, fehlt als rein statistischer Größe jeder systematische Bezug zu dem individuellen immateriellen Schaden, der mit dem Schmerzensgeld ausgeglichen werden soll. Wird das Schmerzensgeld, wie das Berufungsgericht es getan hat, gleichwohl unter Heranziehung dieser materiellen Größe bestimmt, um die "Gleichheit vor dem Schmerz" mit der "Gleichheit vor dem Durchschnittseinkommen" zu koppeln, liegt hierin eine unzulässige Abkopplung von dem eigentlichen Maßstab zur Bemessung einer billigen Entschädigung in Geld (§ 253 Abs. 2 BGB), nämlich der gerade individuell zu ermittelnden Lebensbeeinträchtigung des Geschädigten, wobei auch die konkreten wirtschaftlichen Verhältnisse des Geschädigten (wie auch des Schädigers) nicht von vornherein von einer Berücksichtigung ausgeschlossen werden können.“