Sachverhalt (vereinfacht):
A ist Beamtin und als Lehrerin an einer öffentlichen Schule im Bundesland L beschäftigt. Im März 2016 nimmt sie während der Dienstzeit an einem Streik teil, zu dem die Lehrer-Gewerkschaft während der Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst aufgerufen hatte.
A weiß zwar, dass allgemein die Auffassung herrscht, dass Beamte nicht streiken dürfen. Allerdings fühlt sie sich an diesen Grundsatz schon deshalb nicht gebunden, weil ein Streikverbot in den einschlägigen Beamtengesetzen nirgendwo ausdrücklich geregelt ist. Davon abgesehen hält sie das Streikverbot für verfassungswidrig wegen eines Verstoßes gegen die Koalitionsfreiheit gem. Art. 9 GG.
Ihr Dienstherr sieht die Angelegenheit und As Teilnahme am Streik weniger locker. Es wird ein Disziplinarverfahren gegen sie eingeleitet, das mit einer Disziplinarmaßnahme endet.
A klagt – allerdings erfolglos – bis zur letzten Instanz gegen diese Maßnahme.
Das BVerwG weist seine Klage mit Hinweis darauf ab, dass die Streikteilnahme einen Verstoß gegen grundlegende beamtenrechtliche Pflichten darstelle. Ein Beamter dürfe grundsätzlich nicht ohne Genehmigung dem Dienst fernbleiben. Die Teilnahme am Streik befreie davon nicht.t
Daraufhin erhebt A form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde.
Entscheidung des BVerfG
Zulässigkeit
Das BVerfG ist für die Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG i.V.m. §§ 90 ff. BVerfG zuständig.
A ist als Grundrechtsträger zulässiger Beschwerdeführer. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich auch gegen einen zulässigen Beschwerdegegenstand, nämlich die Disziplinarmaßnahme des Dienstherrn und die Entscheidungen der Gerichte, mit denen diese bestätigt wird (Urteilsverfassungsbeschwerde).
Diese Verpflichtung verletzt die A zumindest möglicherweise in ihrem Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG. Danach wird das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Zumindest möglicherweise gehört dazu auch das Recht auf Teilnahme an Streiks, zu denen die Gewerkschaften aufrufen.
Dass A beamtete Lehrerin ist, schließt ihre Beschwerdebefugnis nicht aus. Denn auch Beamte sind - soweit nicht allein das innerbehördliche Verhältnis betroffen ist - Träger der Grundrechte. Sofern aus dem Sonderrechtsverhältnis Beschränkungen abgeleitet werden können, ist dies allein eine Frage der materiellen Verfassungsmäßigkeit, schließt aber nicht die Beschwerdebefugnis aus.
A ist auch selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen. Die erforderliche Beschwerdebefugnis liegt damit vor.
Der Rechtsweg wurde durch die A vor der Verfassungsbeschwerde ausgeschöpft (§ 90 BVerfGG), ein Verstoß gegen den Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde ist nicht ersichtlich.
Die form- und fristgerecht (vgl. §§ 23, 93 Abs. 1 BVerfGG) eingelegte Verfassungsbeschwerde ist somit zulässig.
Begründetheit
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn A in einem seiner Grundrechte verletzt ist. Dazu müsste ein Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts vorliegen, der verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt ist.
Zunächst bestimmt das BVerfG den sachlichen Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG, der sog. „Koalitionsfreiheit“. Dagegen, dass der sachliche Schutzbereich des Art. 9 Abs. 3 GG auch die Teilnahme von Beamten am Streik umfasst, könnte sprechen, dass Beamte von der tariflichen Lohngestaltung ausgeschlossen sind. Ihre Besoldung wird stattdessen durch den Gesetzgeber festgelegt. Damit kann eines der zentralen Ziele des Streiks – eine höhere Bezahlung – durch den Streit gar nicht erreicht werden. Allerdings lehnt das BVerfG ein solches enges Verständnis vom Schutzbereich der Koalitionsfreiheit ab. Somit ist auch die Teilnahme von Beamten am gewerkschaftlich getragenen Streiks vom Schutzbereich der Koalitionsfreiheit nach Art. 9 Abs. 3 GG erfasst, mit dem z.B. die Tarifverhandlungen unterstützt werden.
Die angegriffene Disziplinarmaßnahme und ihre gerichtliche Bestätigung beeinträchtigen auch das Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG. Denn die Disziplinarmaßnahme verkürzt die grundrechtliche Gewährleistung dadurch, dass die Möglichkeit zur Teilnahme an einem Arbeitskampf für beamtete Lehrer wie A begrenzt wird. Ein Eingriff liegt somit vor.
Fraglich ist, ob der Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann.
Dafür sind zunächst die Schranken des Grundrechts der Koalitionsfreiheit gem. Art. 9 Abs. 3 GG zu bestimmen. Art. 9 Abs. 3 GG unterliegt keinem einfachen Gesetzesvorbehalt, so dass hier eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung durch kollidierendes Verfassungsrecht in Betracht kommt.
Auch bei einer Beschränkung durch kollidierendes Verfassungsrecht ist aber der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes zu beachten. Daher ist verfassungsrechtlich zunächst problematisch, dass das Streikverbot nicht ausdrücklich im Beamtenrecht einfachgesetzlich normiert ist. Hier stellt sich die Frage nach der Vereinbarkeit mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, der Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips ist.
Das BVerfG stellt dazu fest:
„Eine ausdrückliche gesetzliche Normierung des Streikverbots für Beamte ist von Verfassungs wegen nicht gefordert. Die in den Landesbeamtengesetzen enthaltenen Regelungen zum Fernbleiben vom Dienst und die gesetzlich normierten beamtenrechtlichen Grundpflichten der uneigennützigen Amtsführung zum Wohl der Allgemeinheit sowie der Weisungsgebundenheit stellen jedenfalls in ihrer Gesamtheit eine hinreichende Konkretisierung des aus Art. 33 Abs. 5 GG folgenden Streikverbots dar.“
Kollidierendes Verfassungsrecht sind vor allem – aber nicht nur – Grundrechte Dritter. Daneben kommen auch andere Rechtsgüter mit Verfassungsrang in Betracht. Hier sind die hergebrachten Grundsätze des Berufsbeamtentums gem. Art. 33 Abs. 5 GG zu beachten.
Art. 33 Abs. 5 GG stellt eine institutionelle Garantie dar.
Zu diesen hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums gehört neben dem Alimentationsprinzip (Anspruch auf Besoldung, Versorgung) und dem Lebenszeitprinzip auch das Streikverbot für Beamte. Voraussetzung dafür ist zum einen, dass der Grundsatz auf eine jedenfalls bereits in der Staatspraxis der Weimarer Republik begründete Traditionslinie zurückgeht (sog. „Traditionalität“), zum anderen dass es eine enge inhaltliche Verknüpfung mit fundamentalen Grundsätzen des Berufsbeamtentums in Deutschland gibt (sog. „Substanzialität“).
Danach ist auch das Streikverbot Teil der institutionellen Garantie des Art. 33 Abs. 5 GG, die vom Gesetzgeber zu beachten ist. Es ist somit grundsätzlich kollidierendes Verfassungsrecht, das die Koalitionsfreiheit begrenzen und Eingriffe in dieses Grundrecht verfassungsrechtlich rechtfertigen kann.
Wenn zwei Verfassungsgüter kollidieren, muss zwischen ihnen ein schonender Ausgleich, die sog. „praktische Konkordanz“ hergestellt werden.
Dazu führt das BVerfG aus:
„Das Spannungsverhältnis zwischen Koalitionsfreiheit und Art. 33 Abs. 5 GG ist zugunsten eines für Beamtinnen und Beamte bestehenden Streikverbots aufzulösen. Der Eingriff in Art. 9 Abs. 3 GG trifft Beamtinnen und Beamte nicht unzumutbar schwer. Ein Streikverbot führt nicht zu einem vollständigen Zurücktreten der Koalitionsfreiheit und beraubt sie nicht gänzlich ihrer Wirksamkeit. Der Gesetzgeber hat auch Regelungen geschaffen, die zu einer Kompensation der Beschränkung von Art. 9 Abs. 3 GG bei Beamtinnen und Beamten beitragen sollen, insbesondere das beamtenrechtliche Alimentationsprinzip. Dieses räumt dem Beamten das grundrechtsgleiche Recht ein, die Erfüllung der dem Staat obliegenden Alimentationsverpflichtung erforderlichenfalls auf dem Rechtsweg durchzusetzen.“
Insbesondere betont das BVerfG, dass Beamte in einem ausgewogenen, wechselseitigen System von aufeinander bezogenen Rechten und Pflichten bestehen. Ein „Rosinenpicken“ dergestalt, dass der Beamte einzelne Vorteile in Anspruch nimmt, ist damit ausgeschlossen. Würde dem Beamten das Streikrecht eingeräumt, hätte dies zwangsläufig (nachteilige) Auswirkungen auf andere beamtenrechtliche Rechte und Pflichten. Das BVerfG spricht insoweit anschaulich von einer „Kettenreaktion“.
Schließlich wäre als milderes Mittel gegenüber einem Streikverbot für alle Beamte noch in Betracht, das Streikverbot auf Beamte zu beschränken, die schwerpunktmäßig hoheitliche Befugnisse i.S.d. Art. 33 Abs. 4 GG ausüben.
Allerdings lehnt das BVerfG eine solche „Aufspaltung“ des Streikverbots mit deutlichen Worten ab:
„Die Anerkennung eines Streikrechts für „Randbereichsbeamte“ verzichtete auf die Gewährleistung einer stabilen Verwaltung und staatlichen Aufgabenerfüllung jenseits hoheitlicher Tätigkeiten. Davon abgesehen schüfe ein solchermaßen eingeschränktes Streikrecht eine Sonderkategorie der „Beamten mit Streikrecht“ oder „Tarifbeamten“, die das klar konzipierte zweigeteilte [gemeint: die Unterscheidung zwischen Beamten und Tarifbeschäftigten] öffentliche Dienstrecht in Deutschland durchbräche. Während im Kernbereich hoheitlichen Handelns das Alimentationsprinzip weitergälte, würde den sonstigen Beamten die Möglichkeit eröffnet, Forderungen zur Gestaltung ihrer Arbeitsbedingungen bei fortbestehendem Beamtenstatus gegebenenfalls mit Arbeitskampfmaßnahmen durchzusetzen.“
Insgesamt ist der Eingriff in die Koalitionsfreiheit daher wegen der verfassungsrechtlichen Verankerung des Streikverbots als hergebrachter Grundsatz des Berufsbeamtentums verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Die Verfassungsbeschwerde ist somit zwar zulässig, aber unbegründet.
Fazit und Hinweis auf EMRK-Recht
Die Entscheidung des BVerfG ist von erheblicher praktischer Bedeutung. Wie immer man es rechtspolitisch beurteilt, ist sie eine klare Absage an alle Forderungen, das Berufsbeamtentum in Deutschland durch eine Annäherung an die Regelungen, die im Arbeitsrecht zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber gelten, zu schwächen.
Im Hinblick auf eine Klausur ist sie deshalb interessant, weil ein eher selten geprüftes Grundrecht, nämlich die Koalitionsfreiheit gem. Art. 9 Abs. 3 GG, den Schwerpunkt bildet und das kollidierende Verfassungsrecht sich in dieser Konstellation nicht aus den Grundrechten Dritter ergibt.
Eine Problematik, die in dieser Kurzdarstellung nur erwähnt werden soll, im Originalfall aber von erheblicher Bedeutung war, ist die Frage, ob das Streikverbot für Beamte gegen Grundrechte verstößt, die sich aus der EMRK ergeben. Ansatzpunkt dafür ist eine Entscheidung des EGMR, die – für das Recht des öffentlichen Dienstes in der Türkei – in Zweifel zieht, ob ein ausnahmsloses Streikverbot mit der konventionsrechtlichen Garantie des Art. 11 Abs. 1 EMRK vereinbar ist.
Das BVerfG setzt sich mit dieser Rechtsprechung intensiv auseinander und kommt zu dem Ergebnis, das ein etwaiger Eingriff in das Menschenrecht aus Art. 11 Abs. 1 EMRK jedenfalls nach Art. 11 Abs. 2 Satz 1 EMRK bzw. Art. 11 Abs. 2 Satz 2 EMRK gerechtfertigt ist.