Der Entscheidung (BGH , Urt. v. 11.11.2020 – 5 StR 256/20) lag folgender Sachverhalt zugrunde: Die angeklagten Ärzte A und B waren in der Geburtsmedizin tätig und mit der Entbindung der Zwillinge, mit denen S schwanger war, beauftragt. Während der Schwangerschaft hatte sich gezeigt, dass einer der Zwillinge an einer schweren Hirnschädigung litt, die zu extremen geistigen und körperlichen Einschränkungen nach der Geburt geführt hätte. Damit lagen die Voraussetzungen einer straffreien Abtreibung gem. § 218a II StGB vor. Da mit dem Eingriff jedoch auch das Risiko für den gesunden Zwilling gestiegen wäre, entschieden sich die Ärzte A und B in Kenntnis der rechtlichen Konsequenzen, den Abbruch / die Tötung unter der Geburt vorzunehmen. Sie öffneten den Uterus der S mittels eines Kaiserschnitts, entbanden den gesunden Zwilling und töteten den kranken Zwilling mit einer Kaliumchloridinjektion.
Das LG verurteilte beide Ärzte zu einer Freiheitsstrafe von unter 2 Jahren wegen Totschlag in einem minder schweren Fall gem. §§ 212 I, 213 StGB, wobei die Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Der BGH musste sich nun mit der Frage befassen, ob der getötete Zwilling bereits ein Mensch gem. § 212 I StGB war oder ob sich die Strafbarkeit nach den §§ 218 StGB richtet. Dazu hat er folgendes ausgeführt:
„Die Abgrenzung zwischen §§ 211 ff. und § 218 StGB wird von der höchstrichterlichen Rechtsprechung seit jeher vom Beginn der Geburt abhängig gemacht…. Abgeleitet wurde dieses Ergebnis vor allen Dingen aus § 217 StGB aF, der von Inkrafttreten des Reichsstrafgesetzbuchs 1871 (vgl. RGBl. 127) bis zu seiner Abschaffung durch das 6. Strafrechtsreformgesetz (v. 26.1.1998, BGBl. 1998 I 164) nahezu unverändert galt und die Tötung eines unehelichen Kindes „in oder gleich nach der Geburt“ unter Strafe stellte ….. Mit der Abschaffung von § 217 StGB aF sollte sich an dieser Rechtslage nach dem Willen des Gesetzgebers nichts ändern…. Es besteht kein Anlass, die mit dem Willen des Gesetzgebers übereinstimmende, seit 140 Jahren in ständiger Rechtsprechung praktizierte und dem überwiegenden kontinentaleuropäischen Rechtsverständnis entsprechende …Abgrenzung zwischen §§ 211 ff. und § 218 StGB anders als anhand des Geburtsbeginns vorzunehmen…. Im Einklang mit dem überwiegenden Teil der Lehre ist an dem Geburtsbeginn als maßgeblicher Zäsur zwischen §§ 211 ff. und § 218 StGB festzuhalten, weil das Kind gerade in der mit Risiken für Gesundheit und Leben verbundenen Geburtsphase besonderen Schutzes – auch vor fahrlässigen Einwirkungen – bedarf … Mit dem Wortlaut des § 218 StGB ist es ohne Weiteres vereinbar, den Beginn der Geburt – entsprechend der medizinischen Terminologie – als Ende der von § 218 StGB geschützten Schwangerschaft und damit als Beginn des Schutzes durch §§ 211 ff. StGB anzusehen “
Nun stellt sich natürlich die Frage, wie der „Geburtsbeginn“ zu bestimmen ist. Bei einer natürlichen Geburt wird der Geburtsbeginn überwiegend anhand des Einsetzens der Eröffnungswehen bestimmt, die zur Ausstoßung der Leibesfrucht führen. Fraglich ist aber, wie es sich bei einem Kaiserschnitt verhält. Dazu führt der BGH folgendes aus:
„Wann bei einem – vor Beginn der Eröffnungswehen vorgenommenen – Kaiserschnitt (sectio caesarea) die Geburt und damit der Anwendungsbereich der §§ 211 ff. StGB beginnt, ist bislang noch nicht höchstrichterlich entschieden…. Nach Auffassung des Senats ist dies mit der Eröffnung des Uterus zum Zweck der Beendigung der Schwangerschaft durch Entnahme des Kindes aus dem Mutterleib der Fall … Entscheidend hierfür ist, dass mit der Eröffnung des Uterus (in vergleichbarer Weise wie beim Beginn einer natürlichen Geburt) ein Abbruch des begonnenen Geburtsvorgangs regelmäßig praktisch nicht mehr in Betracht kommt, der Nasciturus damit erstmals direkt vom Geburtsvorgang betroffen ist und dies in aller Regel – anders als Narkose oder Bauchschnitt – ein eindeutiges Ende der Schwangerschaft iSv § 218 StGB bewirkt….. Diese objektive Grenzziehung bedarf aufgrund der medizinischen Möglichkeiten, den Uterus zu fetalchirurgischen Zwecken zu öffnen und wieder zu verschließen, um die Schwangerschaft anschließend fortdauern zu lassen, einer Einschränkung. In subjektiver Hinsicht muss die Gebärmutter zu dem Zweck eröffnet werden, den Fetus dauerhaft vom Mutterleib zu trennen und damit die Schwangerschaft zu beenden … Diese Intention des Arztes lässt sich regelmäßig anhand objektiver Merkmale (insb. Operationsvorbereitung) feststellen.“
Damit war der objektive Tatbestand erfüllt. A und B handelten auch mit Wissen und Wollen und damit vorsätzlich.
Fraglich ist, ob nicht eine Rechtfertigung analog § 218a II StGB in Betracht kommen könnte. Hätten A und B noch einen Tag zuvor während der Schwangerschaft einen Eingriff vorgenommen, der zur Tötung der Leibesfrucht geführt hätte, wäre ihr Handeln gem. § 218a II StGB straflos gewesen. Davon hatten sie jedoch im Interesse des Schutzes des anderen Zwillings abgesehen.
„Entgegen der Auffassung der Revision ist eine analoge Anwendung von § 218 a II StGB im vorliegenden Fall nicht veranlasst. Eine Analogie ist nur zulässig, wenn das Gesetz eine planwidrige Regelungslücke enthält und der zu beurteilende Sachverhalt in rechtlicher Hinsicht soweit mit dem Tatbestand vergleichbar ist, den der Gesetzgeber geregelt hat, dass angenommen werden kann, der Gesetzgeber wäre bei einer Interessenabwägung, bei der er sich von den gleichen Grundsätzen hätte leiten lassen wie bei dem Erlass der herangezogenen Gesetzesvorschrift, zu dem gleichen Abwägungsergebnis gekommen (vgl. BGH NJW 2003, 1932 [1933] mwN).
Es fehlt schon an einer planwidrigen Regelungslücke. Angesichts der umfassenden parlamentarischen Diskussion der auch weltanschaulich umstrittenen Fragen in Zusammenhang mit § 218 a II StGB beruht die Beschränkung dieses Rechtfertigungsgrundes auf die Zeit der Schwangerschaft auf einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers in Umsetzung entsprechender Vorgaben des BVerfG … Gegen eine Analogie spricht auch, dass Ausnahmevorschriften wie § 218 a II StGB eng auszulegen sind („singularia non sunt extendenda“, vgl. BVerwGE 127, 302 = NJW 2006, 77 [98]) und durch eine Analogie eine vom Gesetzgeber als Ausnahme gewollte Regelung nicht zum allgemeinen Prinzip erhoben werden darf.“
Die Lösung derartiger Fälle sucht der BGH wie schon zuvor das Landgericht auf der Strafzumessungsebene über § 213 StGB. Zugunsten der Angeklagten spreche, dass „die Tat lange zurückliegt, beide unbestraft sind, sie lediglich der Zeugin S in einer schwierigen Situation helfen wollten und im Ergebnis den Zustand hergestellt haben, der auch bei Vornahme eines zulässigen selektiven Schwangerschaftsabbruchs bestanden hätte.“
Expertentipp
Sollte Ihnen ein solcher Sacherhalt alt Teil einer Klausur begegnen, dann läge der „Punktgewinn“ darin, eine analoge Anwendung des § 218a II StGB zu diskutieren. Es wäre eine Analogie zugunsten der Täter und würde damit nicht gegen Art. 103 II GG verstoßen.