Auch der BGH muss sich immer wieder mit diesen beiden Prüfungspunkten beschäftigen. Einer Entscheidung aus dem April 2016 (Beschluss v. 12.04.2016 – 2 StR 523/15 – abrufbar unter www.bundesgerichtshof.de) lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Der kokainabhängige N hatte den wohnsitzlosen A, der einen Handel mit Betäubungsmitteln trieb, in seine Wohnung als Mitbewohner aufgenommen. Er erhoffte sich davon Gesellschaft und Versorgung mit Drogen.
Am Tattag forderte N den A auf, ihm Drogen zu besorgen, was dieser jedoch ablehnte. Als N dann am Abend ein Geräusch hörte, von welchem er annahm, dass A sich Crack zubereite, geriet er in Wut, ging in das Zimmer des A und packte ihn am Arm, um ihn aus der Wohnung zu werfen. Als A überrascht fragte, was das solle, begann N, dem A mehrfach auf den Brustkorb zu schlagen und ihn dadurch aus der Wohnung zu drängen. Bei A, der latent unter Brustschmerzen litt, lösten diese Schläge einen akuten Schmerzschub aus. Während weiterer Schläge entdeckte A im Flur schließlich ein Klappesser mit einer 7 cm langen Klinge. Dieses ergriff er und hielt es dem N vor, der jedoch weiter auf A, dem mittlerweile schwindelig wurde, einschlug. Um N von weiteren Schlägen abzuhalten, stach A schließlich diesem in den Arm. Nachdem auch dieser Stich keine Wirkung entfaltete, stach A schließlich zwei Mal in die Brust und den Bauch des N. Die Messerstiche trafen den Herzmuskel und den Magen. A floh aus der Wohnung, rief aber einen Notarzt herbei, wodurch N gerettet wurde.
Lösung
Zu denken ist natürlich zunächst an eine Strafbarkeit des A gem. §§ 212, 22, 23 wegen versuchten Totschlags.
Im Tatentschluss wäre in einer Klausur zu diskutieren, ob A Vorsatz im Hinblick auf das Herbeiführen des Todes hatte. In Betracht käme dolus eventualis. Dieser setzt nach h.M. voraus, dass der Täter die Möglichkeit des Erfolgseintritts kennt und den Erfolg billigend in Kauf nimmt. Sofern es in einer Klausur keine Angaben dazu gibt, was der Täter sich gedacht hat, müssen Sie anhand der Gefährlichkeit der Handlung und der Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts argumentieren. Grundsätzlich gilt: je wahrscheinlicher und gefährlicher, desto vorsätzlicher.
Bei einem Stich in den Bauch und die Brust ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass lebenswichtige Organe wie die Lunge und das Herz getroffen werden, deren Verletzung schnell zum Tode führen kann. Von daher muss davon ausgegangen werden, dass auch A die Gefährlichkeit und das hohe Risiko kannte. Dafür spricht auch, dass er trotz der bedrängten Situation, in der er sich befand, zunächst versuchte, den Arm zu verletzen und erst danach die gefährliche Begehungsweise wählte. Auch liegt aufgrund des länger andauernden Geschehens keine Spontantat vor, bei der der Täter sich gelegentlich nur wenig Gedanken um die Konsequenzen macht.
Von daher kann dolus eventualis bejaht werden.
Expertentipp
Achten Sie darauf, dass Sie eine überzeugende Argumentation nicht durch einen pauschalen Hinweis auf eine „Hemmschwellentheorie“ des BGH ersetzen. Der BGH hat deutlich gemacht, dass es eine solche Theorie nicht gibt und der Hinweis auf die bei einem Tötungsdelikt zu überwindende Hemmschwelle nur ein Hinweis auf § 261 StPO sei, wonach bei Tötungsdelikten hohe Anforderungen an die Überzeugung des Gerichts zu stellen seien. Wichtig ist also in erster Linie eine überzeugende, sachverhaltsnahe Argumentation.
Das unmittelbare Ansetzen kann unproblematisch bejaht werden, da A die Tötungshandlung bereits ausgeführt hat.
Fraglich ist nun aber, ob A nicht eventuell gem. § 32 StGB gerechtfertigt gewesen sein könnte.
Hinweis
Das LG hatte zutreffen in der ersten Instanz einen Rücktritt vom Versuch gem. § 24 I 1 StGB bejaht und die nachfolgenden Erwägungen dann im Rahmen der Körperverletzungsdelikte vorgenommen. Da Sie in einer Klausur im 1. Examen nicht „springen“ sollten, ist das Problem beim versuchten Totschlag zu diskutieren.
Unproblematisch stellen die Schläge des N einen gegenwärtigen und rechtswidrigen Angriff auf die körperliche Unversehrtheit des A dar.
Die Stiche müssten nun die erforderliche und gebotene Verteidigungshandlung sein.
Der BGH hat zur Erforderlichkeit folgendes ausgeführt:
„Wird eine Person rechtswidrig angegriffen, ist sie grundsätzlich berechtigt, das Abwehrmittel zu wählen, welches eine endgültige Beseitigung der Gefahr gewährleistet. Der Angegriffene muss sich nicht mit der Anwendung weniger gefährlicher Verteidigungsmittel begnügen, wenn deren Abwehrwirkung zweifelhaft ist; auf Risiken braucht er sich nicht einzulassen (vgl. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, 4. Aufl., § 15 Rn. 43). Nur wenn mehrere wirksame Mittel zur Verfügung stehen, hat der Verteidigende dasjenige Mittel zu wählen, das für den Angreifer am wenigsten gefährlich ist. Wann eine weniger gefährliche Abwehrhandlung geeignet ist, die Gefahr zweifelsfrei und sofort endgültig zu beseitigen, hängt von den Umständen des Einzelfalls ab (vgl. Senat, Urteil vom 5. Oktober 1990 - 2 StR 347/90, NJW 1991, 503, 504). Unter mehreren Verteidigungsmöglichkeiten ist der Angegriffene zudem nur dann auf eine für den Angreifer weniger gefährliche Alternative zu verweisen, wenn ihm genügend Zeit zur Wahl des Mittels sowie zur Abschätzung der Lage zur Verfügung steht (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juni 2004 - 2 StR 82/04, BGHR StGB § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 17; Urteil vom 27. September 2012 - 4 StR 197/12, BGHR StGB § 32 Erforderlichkeit 20).“
Das LG hatte die Erforderlichkeit verneint und darauf hingewiesen, dass A den Angriff auch hätte abwehren können, indem er N angeboten hätte, ihm Kokain zu besorgen und / oder indem er die Wohnung verlassen hätte. Diese Ausführungen sind sicherlich geprägt durch das Bestreben, die „Schneidigkeit“ der Notwehr einzugrenzen.
Der BGH weist jedoch darauf hin, dass dem § 32 StGB auch das Rechtsbewährungsprinzip zugrunde liege, wonach der Angegriffene nicht nur seine eigenen Rechtsgüter bzw. Rechtsgüter Dritter schütze, sondern auch die Rechtsordnung. Von daher ist Flucht im Einzelfall vielleicht vernünftig aber im Sinne der Notwehr kein milderes Mittel.
Andere mildere Mittel standen A aber nach zutreffender Auffassung des BGH nicht zur Verfügung, zumal A die „Stufenfolge“ eingehalten hatte. Bei lebensgefährdenden Verteidigungsmitteln wie Messer und Schusswaffen, sollten diese zunächst angedroht werden. Danach sollte der Täter versuchen, Arme und Beine zu treffen, bevor er dazu übergehen darf, lebenswichtige Bereiche zu verletzen. Diese Stufenfolge hatte A aber eingehalten, so dass die Stiche die erforderliche Verteidigung darstellten.
Expertentipp
Sowohl bei der Erforderlichkeit als auch bei der Gebotenheit ist die „Kampflage“ zu beachten. Es gibt viele Fälle, in denen der Täter ein Überraschungsmoment ausnutzen muss und ihm demzufolge ein Androhen nicht zumutbar ist. Die „Stufenfolge“ ist also in einer Klausur nicht starr anzuwenden, sondern erneut ist eine am Sachverhalt orientierte Argumentation klausurentscheidend.
Im Rahmen der Gebotenheit war nun zu prüfen, ob eine sozialethisch begründete Einschränkung aufgrund eines sozialen Näheverhältnisses vorgenommen werden muss. Ein solches könnte sich aus dem Umstand ergeben, dass A und N eine Wohngemeinschaft teilten.
In der Literatur wird überwiegend eine Notwehreinschränkung bei engen persönlichen Beziehungen mit einer entsprechenden Beschützergarantenstellung gegenüber dem Angreifer angenommen (Kühl Strafrecht AT, 7 Aufl. 2012, § 7 Rn 202). Der BGH beschränkt „die Fallgruppe der besonderen persönlichen Beziehungen, die zu einer sozialethischen Einschränkung des Notwehrrechts führen, (…) auf Fälle einer engen familiären Verbundenheit oder eheähnlichen Lebensgemeinschaft“.
Nach beiden Auffassungen kann eine Einschränkung im Rahmen der Gebotenheit nicht angenommen werden, weswegen die Messerstiche auch die gebotene Verteidigung waren.
A handelte auch in Kenntnis und aufgrund der Notwehrlage, so dass eine Rechtfertigung gem. § 32 StGB angenommen werden kann. Eine Strafbarkeit des A scheidet aus.