Unter dem Rücktrittshorizont wird der Zeitpunkt der letzten Ausführungshandlung verstanden. Glaubt der Täter zu diesem Zeitpunkt, noch nicht alles Erforderliche getan zu haben, dann liegt ein unbeendeter Versuch vor, von welchem er durch bloßes Aufgeben seines Handelns zurücktreten kann. In engen Grenzen ist auch eine Korrektur des Rücktrittshorizontes möglich. Glaubt ein Täter zunächst, der Versuch sei beendet, erkennt er dann aber in unmittelbarem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang, dass es sich doch um einen unbeendeten Versuch handelt, dann kann er seinen Horizont korrigieren und durch Aufgeben der Tat zurücktreten.
So weit, so einfach. Wie aber ist die Situation zu beurteilen, wenn der Täter von der einen zur anderen Tat übergeht, um dann auf die Ausgangstat wieder zurückzukommen und dabei mehrfach seinen Vorsatz wechselt. Mit folgendem Sachverhalt musste sich der BGH (Beschl. V. 23.11.2016, 4 StR 471/16) auseinandersetzen:
Zwischen A und seinem Vater V kam es zu einer handfesten Auseinandersetzung, in deren Verlauf A sich ans Steuer des Familienfahrzeuges setzte, um wegzufahren. V, der ihn daran hindern wolle, stellte sich vor das Fahrzeug. Erst als A ihm androhte, ihn über den Haufen zu fahren, ging er weg, wurde jedoch von A, der zunächst zurückgesetzt und dann beim Vorwärtsfahren Gas gab, mit 10 km/h erfasst und stürzte neben dem Fahrzeug zu Boden. Beim Anfahren handelte A mit Tötungsvorsatz. A stieg dann aus dem Fahrzeug aus und erkannte, dass V noch bei Bewusstsein war und (möglicherweise) den Kopf hob. Daraufhin trat er ihn mit dem Spann seines Fußes einmal gegen den Kopf und zweimal in den Bauch. Zu diesem Zeitpunkt konnte ihm nur noch Körperverletzungsvorsatz nachgewiesen werden. Anschließend lief er davon, wobei er nun davon ausging, V evtl. durch das Anfahren doch lebensgefährlich verletzt zu haben. V überlebte jedoch.
Man würde in einer Klausur chronologisch mit dem Anfahren beginnen und eine Strafbarkeit gem. §§ 212, 22 StGB prüfen. Tatbestand, Rechtswidrigkeit und Schuld sind unproblematisch. Fraglich ist aber, ob A nicht strafbefreiend zurückgetreten sein könnte. Und hier muss man nun aufpassen, auf welchen Zeitpunkt abzustellen ist. Zu denken wäre zum einen an den Zeitpunkt nach dem letzten Tritt. Hier glaubte A, seinen Vater V letztlich durch das Anfahren doch lebensgefährdend verletzt zu haben. Es läge demnach ein beendeter Versuch vor, von welchem A nur noch durch das Ingangsetzen einer Kausalkette, die zur Verhinderung des Erfolges führen muss, zurücktreten könnte, nicht aber durch das bloße Aufgeben der Tat. A hat jedoch durch das Verlassen des Tatorts keine Kausalkette in Gang gesetzt. Hätte A die Tritte ebenfalls mit Tötungsvorsatz ausgeführt, dann wäre dies in der Tat der Zeitpunkt, auf den man abstellen müsste – jedenfalls, wenn man der herrschenden Gesamtbetrachtungslehre folgen und das Geschehen nicht in Einzelakte aufspalten wollte.
Zu beachten ist aber, dass A seinen Tötungsvorsatz aufgab, als er aus dem Auto stieg und nunmehr nur noch Körperverletzungsvorsatz hatte. Damit ist der richtige Zeitpunkt jener nach dem Aussteigen. Der Vorsatzwechsel stellt also – wie immer - eine Zäsur dar! Der BGH führt dazu folgendes aus:
„Dies zugrunde gelegt lassen die – insofern auch nicht widerspruchsfreien – Ausführungen des Schwurgerichts besorgen, dass es bei der Feststellung des Rücktrittshorizonts fehlerhaft nicht auf den Zeitpunkt unmittelbar nach der letzten Tathandlung, also der Tötungshandlung, bzw. einen mit dieser in obigem Sinn eng zusammenhängenden „Korrekturzeitraum“ abgestellt hat, sondern auf die Vorstellungen des Angeklagten nach der letzten, „lediglich“ von Körperverletzungsvorsatz getragenen Handlung. Hat ein Täter aber nach der mit Tötungsvorsatz begangenen Handlung erkannt, dass er noch nicht alles getan hat, was nach seiner Vorstellung zur Herbeiführung des Todes erforderlich oder zumindest ausreichend ist, so liegt ein unbeendeter Versuch des Tötungsdelikts auch dann vor, wenn sein anschließendes Handeln bei unverändertem Vorstellungsbild nicht mehr auf den Todeserfolg gerichtet ist, obwohl ihm ein hierauf gerichtetes Handeln – wie von ihm erkannt – möglich gewesen wäre.“
Sofern also davon ausgegangen werden kann, dass A zum Zeitpunkt des Aussteigens aufgrund der Reaktionen des V davon ausging, noch nicht alles Erforderliche zur Herbeiführung des Todes getan zu haben, ist er durch die nachfolgenden Tritte, die nicht mehr der Vollendung dienten, zurückgetreten vom versuchten Totschlag und zu einer Körperverletzung übergegangen. Beachten Sie, dass es beim Rücktritt nur auf die konkrete Tat, hier den versuchten Totschlag, ankommt. Für die Freiwilligkeit kommt es nach h.M. nur darauf an, ob der Täter aus autonomen Motiven heraus handelte, was vorliegend der Fall ist.
Mit dem Anfahren des Vaters V hat sich A also nicht gem. §§ 212, 22 StGB strafbar gemacht, wohl aber gem. den §§ 223, 224 I Nr. 2 und 5 StGB. Auch die Tritte stellen erneut eine gefährliche Körperverletzung dar. Das Verlassen des Vaters könnte nun zudem ein Totschlag (oder Mord in Verdeckungsabsicht, sofern A den Tod des Vaters nun sicher wollte) durch Unterlassen sein. Die Garantenstellung ergibt sich unproblematisch aus Ingerenz.
Hinweis
Lesen Sie dazu auch die aktuelle Entscheidung des BGH zum selben Thema: JuS 2018, 818