Sachverhalt
Die AfD-Partei (A) hat für den 7.11.2015 eine Versammlung unter dem Motto „Rote Karte für Merkel! – Asyl braucht Grenzen“ angemeldet.
Zu dieser Versammlung veröffentlichte die Bundesbildungsministerin auf der Homepage des Ministeriums eine Pressemitteilung mit – im Wesentlichen – folgendem Wortlaut:
„Rote Karte für die AfD
Die Rote Karte sollte der AfD und nicht der Bundeskanzlerin gezeigt werden. Sprecher der Partei leisten der Radikalisierung, in der Gesellschaft Vorschub. Rechtsextreme, die offen Volksverhetzung betreiben, erhalten damit unerträgliche Unterstützung“.
Die A-Partei sieht sich in ihrem Recht auf Chancengleichheit der politischen Parteien aus Art. 21 GG verletzt und wendet sich an das BVerfG.
Lösung des BVerfG
Zulässigkeit
Es handelt sich um ein Organstreitverfahren, das nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG i.V.m. § 13 Abs. 1 Nr. 4, §§ 63 ff. BVerfGG zulässig ist.
Nach ständiger Rechtsprechung des BVerfG ist eine politische Partei zulässiger Antragsteller in einem Organstreitverfahren, soweit sie eine Verletzung ihres Rechts auf gleichberechtigte Teilnahme am politischen Wettbewerb geltend macht und sich damit auf ihren besonderen, in Art. 21 GG umschriebenen verfassungsrechtlichen Status beruft. Denn politische Parteien sind verfassungsrechtlich notwendige Einrichtungen für die politische Willensbildung des Volkes und in durch Art. 21 GG in den Rang einer verfassungsrechtlichen Institution erhoben.
Die Bundesministerin ist als Teil des obersten Staatsorgans Bundesregierung mit eigenen Rechten ausgestattet (Art. 65 S. 2 GG) und daher zulässige Antragsgegnerin gem. § 63 BVerfGG bzw. als anderer Beteiligter gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG.
Zulässiger Antragsgegenstand ist die Veröffentlichung der Pressemitteilung auf der Homepage des Ministeriums.
Die Antragsbefugnis der A-Partei ergibt sich daraus, dass es nicht von vornherein ausgeschlossen ist, dass die Antragsgegnerin durch die Veröffentlichung der Pressemitteilung das Recht auf Chancengleichheit politischer Parteien gem. Art. 21 GG der Antragstellerin verletzt hat.
Auch die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen (Form, Frist) liegen vor.
Somit ist der Antrag zulässig.
Begründetheit
Der Antrag ist begründet, wenn die Veröffentlichung der Pressemitteilung auf der Homepage des Bundesministeriums die Antragstellerin in ihrem Recht auf Chancengleichheit der politischen Parteien aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG verletzt.
Zunächst fasst das BVerfG den Inhalt dieses besonderen Gleichheitsrechts zusammen:
„Der aus Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG folgende Grundsatz der Chancengleichheit umfasst das Recht der Parteien, an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken. Damit ist die einseitige Einflussnahme von Staatsorganen auf die Ankündigung oder Durchführung politischer Kundgebungen grundsätzlich unvereinbar.“
Ausdrücklich hebt das BVerfG hervor, dass auch das Recht, durch Demonstrationen und Versammlungen an der politischen Willensbildung des Volkes mitzuwirken, ebenfalls von Art. 21 Abs. 1 S. 1 GG geschützt ist.
Die Veröffentlichung der Pressemitteilung auf der Homepage des Ministeriums stellt einen Eingriff in dieses Recht der Chancengleichheit dar, denn durch die Äußerung „Rote Karte“ und den Vorwurf des Rechtsextremismus, nimmt das Ministerium negativ Stellung gegenüber der A-Partei.
Fraglich ist, ob ein solcher Eingriff gerechtfertigt werden kann. In Betracht kommt dafür die Befugnis der Bundesregierung zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit. Die aus Art. 65 GG abgeleitete Aufgabe der Staatsleitung schließt – unabhängig von einer ausdrücklichen, gesonderten Ermächtigungsgrundlage – auch die Befugnis ein, durch Informations- und Öffentlichkeitsarbeit die Regierungspolitik zu erläutern und wichtige Vorgänge der politischen Diskussion zu bewerten und ggf. auch Empfehlungen und Warnungen auszusprechen.
Allerdings folgt aus dem Grundsatz der Chancengleichheit politischer Parteien, dass dabei der Grundsatz der Neutralität beachtet werden muss. Dies beinhaltet konkret folgendes:
„Die staatliche Einwirkung in den Wahlkampf zugunsten oder zulasten einer politischen Partei widerspricht dem aus Art. 21 Abs. 1 GG resultierenden Status der Parteien. Die Staatsorgane haben als solche allen zu dienen und sich im Wahlkampf neutral zu verhalten. Einseitige Parteinahmen während des Wahlkampfs verstoßen gegen die Neutralität des Staates gegenüber politischen Parteien.“
Das BVerfG hebt hervor, dass der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien die Beachtung des Gebots staatlicher Neutralität auch außerhalb von Wahlkampfzeiten erfordert.
Neben dem Grundsatz der Neutralität hat die Bundesregierung vor allem das Gebot der Sachlichkeit zu wahren. So darf die Bundesregierung sich mit Kritik sachlich auseinandersetzen und unsachliche Angriffe zurückweisen. Allerdings muss sie auch dabei einseitige, parteiergreifende Stellungnahmen zugunsten oder zulasten einzelner politischer Parteien unterlassen. Sie darf nicht für Regierungsparteien werben oder Oppositionsparteien bekämpfen.
Ausdrücklich lehnt das BVerfG es ab, der Bundesregierung ein
„Recht auf Gegenschlag dergestalt einzuräumen, dass staatliche Organe auf unsachliche oder diffamierende Angriffe in gleicher Weise reagieren dürfen.“
Nach diesen Maßstäben hat das Ministerium das Neutralitätsgebot hier missachtet. Denn es nimmt die Ankündigung der A-Partei zur Durchführung einer Versammlung zum Anlass, sich einseitig mit dieser Kundgebung und der A-Partei auseinanderzusetzen:
Mit dem Aufruf, der A-Partei die „Rote Karte“ zu zeigen, fordert die Bundesministerin dazu auf, sich von der A-Partei zu distanzieren. Die Äußerung enthält zudem eine zumindest mittelbare Aufforderung, an der angekündigten Versammlung der A-Partei nicht teilzunehmen. Eine solche Aufforderung verletzt das Gebot der Neutralität staatlicher Organe im politischen Wettbewerb.
In dem Hinweis auf Rechtsextremismus, Radikalisierung und Volksverhetzung liegt zudem eine abwertende Qualifizierung der A-Partei, die geeignet ist, deren Position im politischen Meinungskampf zu beeinträchtigen.
Damit ist der Antrag der A-Partei im Organstreitverfahren begründet.
Klausurrelevanz und weitere Hinweise
In letzter Zeit haben das BVerfG und andere Gerichte wiederholt darüber entschieden, ob politische Äußerungen von Bundespräsident, Bundesministern oder Bürgermeistern verfassungsrechtlich zulässig sind. Die Problematik ist daher von herausragender Examensrelevanz, gerade weil die Sachverhalte als solche relativ einfach und in vielfältigen Variationen zu erstellen sind.
Das Recht auf Chancengleichheit der Parteien aus Art. 21 GG ist zwar kein Grundrecht und auch kein grundrechtsgleiches Recht; in der Struktur der Prüfung kann man sich allerdings an den Aufbau eines Grundrechts anlehnen: 1. Bestimmung des Inhalts des Rechts auf Chancengleichheit (vgl. „Schutzbereich“), 2. Beeinträchtigung dieses Rechts durch öffentliche Äußerung (vgl. „Eingriff“), 3. Rechtfertigung der öffentlichen Äußerung durch Befugnis zur Informations- und Öffentlichkeitsarbeit (vgl. „Schranke“), 4. Grenzen der Befugnis zur Äußerung durch die Grundsätze der Neutralität und der Sachlichkeit (vgl. „Schranken-Schranke“, insbesondere Verhältnismäßigkeit.
Interessant ist, dass das BVerfG hier auch das Recht der politischen Partei Versammlungen durchzuführen auf Art. 21 Abs. 1 GG stützt. Dies lässt sich nur dadurch erklären, dass in einem Organstreit ein Rückgriff auf die Grundrechte – hier Art. 8 Abs. 1 GG – ausgeschlossen ist.
Schließlich ist zu beachten, dass die Qualifizierung der Äußerung der Bundesministerin in diesem Fall völlig unproblematisch war: es ging um eine Pressemitteilung, die auf der Homepage des Bundesministeriums veröffentlicht wurde.
In vielen anderen Fällen wird dies problematischer – und damit ein eigenständiger Schwerpunkt der Klausur sein: Denn die Frage, wann sich ein Bundesminister oder Bundeskanzler in offizieller Eigenschaft (und damit gebunden an die Grundsätze der Neutralität und Sachlichkeit) oder aber außerhalb seiner Funktion im politischen Meinungskampf äußert ist oft schwierig. Eine Abgrenzung zwischen „Bundesminister“, „Parteipolitiker“ oder „Privatperson“ ist z.B. bei öffentlichen Reden, Zeitungsinterviews oder Auftritten in den Medien nur anhand der konkreten Umstände des Einzelfalls zu ziehen.