Sachverhalt
Eine europäische Verordnung regelt die Vorschriften über die Etikettierung von Rindfleisch. Nach Art. 13 der Verordnung müssen alle Marktteilnehmer, die Rindfleisch in der Union vermarkten, dies nach den Vorschriften der Verordnung etikettieren. Mit dem obligatorischen Etikettierungssystem soll der Weg von dem landwirtschaftlichen Betrieb über den Schlachthof bis zu dem vermarkteten Fleischstück nachweisbar und nachvollziehbar sein. Nach Art. 13 Abs. 2 der Verordnung sind auf dem Etikett u.a. folgende Angaben zu machen: eine Referenznummer, anhand derer sich die Verbindung zwischen dem Fleisch und dem Tier nachvollziehen lässt; die Zulassungsnummer des Schlachthofs, in dem das Tier geschlachtet wurde und die Zulassungsnummer des Zerlegungsbetriebs. Daneben sind noch in zahlreichen weiteren Vorschriften detaillierte und in den Einzelheiten unterschiedliche Etikettierungspflichten geregelt.
Nach Art. 21 der europäischen Verordnung treffen die Mitgliedstaaten alle erforderlichen Maßnahmen zur Einhaltung der Verordnung, insbesondere über angemessene Sanktionen.
In Deutschland wurde daraufhin – formell ordnungsgemäß – das Rindfleischetikettierungsgesetz erlassen, in dem sich u.a. folgende Vorschrift findet:
„§ 10 Strafvorschriften
(1) Mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer einer unmittelbar geltenden Vorschrift in Rechtsakten der Europäischen Union über die Etikettierung von Rindfleisch und Rindfleischerzeugnissen zuwiderhandelt, soweit eine Rechtsverordnung nach Absatz 2 für einen bestimmten Tatbestand auf diese Strafvorschrift verweist.
(2) Das Bundesministerium wird ermächtigt, soweit es zur Durchsetzung der Rechtsakte der Europäischen Union erforderlich ist, durch Rechtsverordnung ohne Zustimmung des Bundesrates die Tatbestände zu bezeichnen, die als Straftat nach Absatz 1 zu ahnden sind.“
Formell ordnungsgemäß erlässt das zuständige Bundesministerium daraufhin die Rindfleischetikettierungsstrafverordnung. Darin ist im Einzelnen geregelt, welche Verstöße gegen die EU-Verordnung als Straftat i.S.d § 10 Rindfleischetikettierungsgesetz geahndet werden. So lautet eine Vorschrift beispielsweise:
„Nach § 10 Abs. 1 des Rindfleischetikettierungsgesetzes wird bestraft, wer gegen die Verordnung (EG) Nr. 1760/2000 verstößt, indem er entgegen Artikel 13 Abs. 1 UAbs. 1 i.V.m. Abs. 2 Buchst. a Satz 1, Buchstabe b oder c, Rindfleisch nicht, nicht richtig, nicht vollständig oder nicht rechtzeitig etikettiert.“
Das AG Tiergarten hat den A des vorsätzlichen Verstoßes gegen das Rindfleischetikettierungsgesetz schuldig gesprochen und zu einer Geldstrafe von 250 Tagessätzen zu je 100 EUR verurteilt. Der A hatte es unterlassen, 60 kg frisches Rindfleisch, ordnungsgemäß zu etikettieren.
Im Berufungsverfahren hat das LG Berlin gem. Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG die Frage vorgelegt, ob § 10 Rindfleischetikettierungsgesetz mit Art. 103 Abs. 2, Art. 104 Abs. 1 und Art. 80 Abs. 1 GG unvereinbar und daher nichtig ist.
Wie wird das BVerfG über die zulässige konkrete Normenkontrolle entscheiden?
Prüfungsmaßstab ist hier vor allem Art. 103 Abs. 2 GG. Danach darf eine Tat nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde. Dabei sind als Gesetz i.S.d. Art. 103 Abs. 2 GG nicht nur Gesetze im formellen Sinne („Parlamentsgesetze“) zu verstehen, sondern auch Gesetze im (nur) materiellen Sinne, also Rechtsverordnungen oder auch Satzungen von Gemeinden. Somit folgt aus Art. 103 Abs. 2 GG sowohl ein striktes Rückwirkungsverbot als auch ein striktes Bestimmtheitsgebot. Hier kommt allein ein Verstoß gegen den letzten Aspekt in Betracht.
Zunächst legt das BVerfG die wesentlichen Aspekte des Bestimmtheitsgebots dar, wie es sie in der bisherigen Rechtsprechung entwickelt hat.
Sinn und Zweck des Bestimmheitsgebots ist es sicherzustellen, dass „der Gesetzgeber selbst abstrakt-generell über die Strafbarkeit entscheidet. Insoweit enthält Art. 103 Abs. 2 GG einen strengen Gesetzesvorbehalt, der es der vollziehenden und rechtsprechenden Gewalt verwehrt, die normativen Voraussetzungen einer Bestrafung festzulegen. (…) Art. 103 Abs. 2 GG enthält dementsprechend die Verpflichtung, wesentliche Fragen der Strafwürdigkeit oder Straffreiheit im demokratisch-parlamentarischen Willensbildungsprozess zu klären und die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Tragweite und Anwendungsbereich der Straftatbestände zu erkennen sind und sich durch Auslegung ermitteln lassen. Die allgemeinen rechtsstaatlichen Grundsätze, dass der Gesetzgeber im Bereich der Grundrechtsausübung alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen und Rechtsvorschriften so genau fassen muss, wie dies nach der Eigenart der zu ordnenden Lebenssachverhalte mit Rücksicht auf den Normzweck möglich ist („Normenklarheit“), gelten für den grundrechtssensiblen Bereich des materiellen Strafrechts besonders strikt. Das Bestimmtheitsgebot des Art. 103 Abs. 2 GG verlangt daher, den Wortlaut von Strafnormen so zu fassen, dass der Normadressat im Regelfall bereits anhand des Wortlauts der gesetzlichen Vorschriften voraussehen kann, ob ein Verhalten strafbar ist oder nicht.“
Besonders interessant werden die die genauen Grenzen des Bestimmtheitsgebot, wenn das Verhältnis zwischen formellem Gesetz und Rechtsverordnung ausgelotet werden muss. Denn das BVerfG geht nicht den denkbaren, striktesten Weg, der darin bestünde, strafbegründende Vorschriften ausschließlich in formellen Gesetzen zuzulassen. Dies begründet das BVerfG ausführlich:
„Allerdings muss der Gesetzgeber auch im Strafrecht in der Lage bleiben, der Vielgestaltigkeit des Lebens Herr zu werden. Müsste er jeden Straftatbestand stets bis ins Letzte ausführen, anstatt sich auf die wesentlichen Bestimmungen über Voraussetzungen, Art und Maß der Strafe zu beschränken, bestünde die Gefahr, dass die Gesetze zu starr und kasuistisch würden und dem Wandel der Verhältnisse oder der Besonderheit des Einzelfalls nicht mehr gerecht werden könnten.
Daher schließt das Bestimmtheitsgebot die Verwendung unbestimmter, konkretisierungsbedürftiger Begriffe bis hin zu Generalklauseln nicht aus. Gegen ihre Verwendung bestehen jedenfalls dann keine Bedenken, wenn sich mit Hilfe der üblichen Auslegungsmethoden eine zuverlässige Grundlage für eine Auslegung und Anwendung der Norm gewinnen lässt. Dabei lässt sich der Grad der für eine Norm jeweils erforderlichen Bestimmtheit nicht abstrakt festlegen, sondern hängt von den Besonderheiten des jeweiligen Tatbestandes einschließlich der Umstände ab, die zur gesetzlichen Regelung geführt haben. Der Gesetzgeber muss den Tatbestand nicht stets vollständig im förmlichen Gesetz umschreiben, sondern darf auf andere Vorschriften verweisen. Solche Verweisungen sind als vielfach übliche und notwendige gesetzestechnische Methode anerkannt, sofern die Verweisungsnorm hinreichend klar erkennen lässt, welche Vorscheriften im Einzelnen gelten sollen."
Damit hat das BVerfG den entscheidenden Aspekt herausgearbeitet, wann formalgesetzliche Blankettvorschriften zulässig sind, die für Einzelheiten auf Rechtsverordnungen verweisen und wann der verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgrundsatz verletzt ist und präzisiert dies noch weiter:
„Legt die Blankettstrafnorm nicht vollständig selbst fest, welches Verhalten durch sie bewehrt werden soll, sondern erfolgt dies erst durch eine nationale Rechtsverordnung, auf die verwiesen wird, müssen nach Art. 103 Abs. 2 GG und – soweit eine Freiheitsstrafe angedroht wird – i.V.m. Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG die Voraussetzungen der Strafbarkeit und die Art der Strafe für den Bürger schon aufgrund des Gesetzes und nicht erst aufgrund der hierauf gestützten Rechtsverordnung vorhersehbar sein. Um den Grundsatz der Gewaltenteilung zu wahren, darf dem Verordnungsgeber lediglich die Konkretisierung des Straftatbestandes eingeräumt werden, nicht aber die Entscheidung darüber, welches Verhalten als Straftat geahndet werden soll.“
Anhand dieser Grundsätze ist es wenig überraschend, wenn das BVerfG sodann zu dem Ergebnis kommt, dass das Rindfleischetikettierungsgesetz diesen Anforderungen nicht entspricht und daher nichtig ist. Die Blankettstrafnorm in § 10 des Gesetzes ist nämlich sehr allgemein und vage gefasst. Die Vorschrift lässt nicht hinreichend klar erkennen, welche Verstöße gegen unionsrechtliche Vorgaben sanktioniert werden sollen. Es bleibt letztlich allein dem Verordnungsgeber überlassen, welche der zahlreichen und differenzierten Etikettierungspflichten als Straftat sanktioniert werden. Der Normadressat kann dies aus dem formellen Gesetz nicht einmal in Ansätzen erkennen.
Daneben prüft das BVerfG § 10 Rindfleischetikettierungsgesetz auch am Maßstab des Art. 80 GG. Nach Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG müssen Gesetze, die zum Erlass von Rechtsverordndungen ermächtigen, Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung bestimmen. Das unmittelbar demokratisch legitimierte Parlament soll sich seiner Verantwortung als gesetzgebende Körperschaft nicht dadurch entäußern können, dass es einen Teil der Gesetzgebungsmacht der Exekutive überträgt, ohne die Grenzen dieser Kompetenzen bedacht zu haben.
„Die Ermächtigungsnorm muss in ihrem Wortlaut nicht so genau wie irgend möglich gefasst sein. Sie hat von Verfassungs wegen nur hinreichend bestimmt zu sein. Dazu genügt es, dass sich die gesetzlichen Vorgaben mit Hilfe allgemeiner Auslegungsregeln erschließen lassen, insbesondere aus dem Zweck, dem Sinnzusammenhang und der Entstehungsgeschichte der Norm.“
Hier wird deutlich, dass die Maßstäbe von Art. 103 GG und Art. 80 GG sich annähern. Denn auch für Art. 80 GG betont das BVerfG, dass die Frage, welche „Anforderungen an das Maß der erforderlichen Bestimmtheit im Einzelnen zu stellen sind, lässt sich nicht allgemein festlegen.“
Das BVerfG stellt hier aber Aspekte vor, die für den Grad der Bestimmtheit zu beachten und verallgemeinerungsfähig sind:
„Zum einen kommt es auf die Intensität der Auswirkungen der Regelung für die Betroffenen an. So muss die Bestimmtheit der Ermächtiungsnorm der Grundrechtsrelevanz der Regelung entsprechen, zu der ermächtigt wird. Greift die Regelung erheblich in die Rechtsstellung des Betroffenen ein, sind höhere Anforderungen an den Grad der Bestimmtheit der Ermächtigung zu stellen, als wenn es sich um einen Regelungsbereich handelt, der die Grundrechtsausübung weniger tangiert.
Zum anderen hängen die Anforderungen an Inhalt, Zweck und Ausmaß der gesetzlichen Determinierung von der Eigenart des zu regelnden Sachverhalts ab, insbesondere davon, in welchem Umfang der zu regelnde Sachbereich einer genaueren begrifflichen Umschreibung überhaupt zugänglich ist. Dies kann es auch nahe legen, von einer detaillierten gesetzlichen Regelung abzusehen und die nähere Ausgestaltung des zu regelnden Sachbereichs dem Verordnungsgeber zu überlassen, der die Regelungen rascher und einfacher auf dem neuesten Stand zu halten vermag als der Gesetzgeber.“
Da es im vorliegenden Fall um eine Frage der Strafbarkeit geht, ist es zwingend von einem hohen Maß an erforderlicher Bestimmtheit auszugehen. Diesen Anforderungen an eine hinreichende gesetzliche Bestimmtheit von Inhalt, Zweck und Ausmaß der Ermächtigung zum Erlass von Rechtsverordnungen wird § 10 Abs. 3 Rindfleischetikettierungsgesetz nicht gerecht.
Zu Zweck und Ausmaß legt die Ermächtigung nur fest, dass die Bezeichung der Tatbestände in der Verordnung der Durchsetzung der Rechtsakte der Europäischen Union dienen und zu deren Durchsetzung „erforderlich“ sein muss. Ansonsten stellt die Ermächtigungsnorm es dem Verordnungsgeber völlig frei zu bestimmen, welche Verstöße gegen des Unionsrecht als strafwürdig angesehen werden. Aus der pauschalen Umschreibung „Durchführung der Rechtsakte der Europäischen Union über die Etikettierung von Rindfleisch und Rindfleischerzeugnissen können die Normadressaten nicht mit der notwendigen Klarheit anhand des Gesetzes erkennen, welche Rechtsakte und Pflichten des Unionsrechts konkret sanktioniert werden sollen.
Zusatzhinweis:
Es wäre ein grober Fehler, hier davon auszugehen, dass eine Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes am Maßstab des Grundgesetzes durch das BVerfG nach dem „Solange-II-Grundsatz“ ausgeschlossen ist. Diese Beschränkung der Überprüfbarkeit nationaler Vorschriften am Maßstab des Grundgesetzes gilt nur für Normen, die in wesentlichen Teilen unionsrechtlich determiniert sind. Hier aber lässt das Unionsrecht den Mitgliedstaaten einen weiten Entscheidungs- und Ausgestaltungsspielraum, wie sie Verstöße gegen die Etikettierungspflicht sanktionieren. Die genaue Ausgestaltung der strafrechtlichen Vorschriften war gerade nicht vorgegeben. Somit unterliegen die nationalen Vorschriften – obwohl sie materiell der Durchsetzung von Unionsrecht dienen – uneingeschränkter verfassungsrechtlicher Kontrolle durch das BVerfG.
Verdeutlichen Sie sich auch den Tenor des BVerfG und die Wirkung einer Entscheidung im Verfahren der konkreten Normenkontrolle: Obwohl die Entscheidung aus Anlass eines konkreten fachgerichtlichen Verfahrens vorgelegt wird, gilt die Nichtigkeitserklärung nicht nur zwischen den Parteien, sondern allgemein.