Sachverhalt (vereinfacht)
Im Bundesland L herrscht „Kopftuchstreit“ in der Justiz. Eine Richterin muslimischen Glaubens erscheint mit einem Kopftuch in einer mündlichen Verhandlung.
Da sich die Landesregierung nicht sicher ist, ob das allgemeine beamtenrechtliche Neutralitäts- und Mäßigungsverbot, das auch für Richter gilt, ausreicht, um eine solche Bekleidung zu verbieten, entschließt sie sich zu einer Gesetzesänderung des Landesrichtergesetzes.
Darin soll zum Schutz der Neutralität der Justiz, der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates und der negativen Glaubensfreiheit von Prozessbeteiligten, die sich dem Anblick eines religiösen Symbols und religiöser Kleidung nicht ausgesetzt sehen wollen, religiöse Kleidung grundsätzlich verboten werden.
Die Vorschrift lautet nach ihrem Wortlaut:
„(1) Richter und Richterinnen tragen Amtstracht nach näherer Bestimmung der obersten Dienstbehörde.
(2) Richter und Richterinnen dürfen in Verhandlungen sowie bei allen Amtshandlungen mit Außenkontakt keine sichtbaren religiös oder weltanschaulich geprägten Symbole oder Kleidungsstücke tragen, die Zweifel an ihrer Unabhängigkeit, Neutralität oder ausschließlichen Bindung an Recht und Gesetz hervorrufen können.“
Das Gesetz wird formell ordnungsgemäß vom zuständigen Landtag beschlossen und verkündet.
Die Richterin R, die gerne weiterhin aus religiösen Gründen ihr Kopftuch auch im Rahmen ihrer Amtstätigkeit tragen will, sieht sich durch das Gesetz in ihren Grundrechten verletzt. Sie fühlt sich nicht nur als Angehörige des muslimischen Glaubens, sondern gerade auch als Frau diskriminiert. Schließlich sei allgemein bekannt, dass das Kopftuch-Gebot im Islam nicht für Männer gelte, so dass das gesetzliche Verbot ausschließlich Frauen betreffe.
R erhebt form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde gegen das Gesetz beim BVerfG.
Hinweis: Es ist davon auszugehen, dass der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nicht entgegensteht.
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Zulässigkeit
Das BVerfG ist für die Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG i.V.m. §§ 90 ff. BVerfG zuständig.
R ist als Grundrechtsträgerin zulässige Beschwerdeführerin. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich auch gegen einen zulässigen Beschwerdegegenstand, nämlich das Landesrichtergesetz als formelles Gesetz.
Diese Verpflichtung verletzt die R zumindest möglicherweise in ihren Grundrechten der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG. R ist durch das Gesetz auch selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen. Die erforderliche Beschwerdebefugnis liegt damit vor.
Gegen ein formelles Gesetz gibt es unmittelbar keinen Rechtsweg i.S.d. § 90 BVerfGG.
Der Grundsatz der Subsidiarität steht der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nach dem Hinweis im Sachverhalt nicht entgegen.
Begründetheit:
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn ein Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts oder grundrechtsgleichen Rechts vorliegt, der verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt werden kann.
Hier kommt vor allem eine Verletzung der Religionsfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in Betracht.
Zunächst umreißt das Gericht den Schutzbereich der Religionsfreiheit:
„Das Grundrecht der Religionsfreiheit enthält ein umfassend zu verstehendes einheitliches Grundrecht, das nicht nur die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, schützt, sondern auch die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten. Hiervon sind nicht nur die eigentlichen kultischen Handlungen umfasst. Geschützt ist vielmehr das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und sein Leben in Übereinstimmung mit diesen Lehren zu führen.“
Vor diesem weiten Verständnis des Schutzbereichs ist es folgerichtig und unzweifelhaft, dass auch die Bekundung eines Glaubens durch das Tragen spezieller Kleidungsstücke oder Symbole sowie die Einhaltung religiöser Bekleidungsvorgaben in den Schutzbereich der Religionsfreiheit fällt.
Das gesetzliche Verbot, bei Verhandlungen und anderen Amtshandlungen als Richterin solche Bekleidungsstücke zu tragen, stellt auch einen Eingriff in die so verstandene Religionsfreiheit dar.
Fraglich ist, ob dieser Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann.
Die Glaubens- und Religionsfreiheit des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG ist nach dem Wortlaut und gemäß ständiger Rechtsprechung des BVerfG vorbehaltlos gewährleistet. Jedoch finden vorbehaltlos garantierte Grundrechte ihre immanenten Grenzen durch kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtspositionen.
Als kollidierendes Verfassungsgericht kommt hier zunächst die Religionsfreiheit der Prozessbeteiligten in ihrer Ausprägung als negative Freiheit in Betracht. Dazu das Gericht:
„Die Religionsfreiheit gewährleistet auch die Freiheit, kultische Handlungen eines nicht geteilten Glaubens einschließlich seiner Rituale und Symbole fernzubleiben. Hieraus ergibt sich zwar grundsätzlich kein Anspruch darauf, fremde Glaubensbekundungen oder Symbole zu unterbinden oder durch den Staat vor der Konfrontation mit fremden Glaubensbezeugungen geschützt zu werden. Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn der Einzelne durch eine vom Staat geschaffene Lage ohne Ausweichmöglichkeit dem Einfluss eines bestimmten Glaubens oder seiner Symbole ausgesetzt wird.“
Eine solche „unausweichliche Situation“ kann für die Prozessbeteiligten ohne Weiteres angenommen werden, da sie die Pflicht haben, an einer Gerichtsverhandlung teilzunehmen.
Als weiteres Gut mit Verfassungsrang, aus das eine Einschränkung der Religionsfreiheit als kollidierendes Verfassungsrecht rechtfertigen könnte, kommt der Grundsatz der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates in Betracht.
„Aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 1 WRV ergibt sich ein Gebot der staatlichen Neutralität gegenüber Kirchen, Religionsgemeinschaften und weltanschaulichen Gemeinschaften. Der Staat darf nicht missionarisch wirken oder bestimmte Glaubensinhalte als staatliche Anliegen behandeln.“
Dabei ist zu beachten, dass das verfassungsrechtliche Gebot der Neutralität in besonderer Weise im Bereich der Justiz gilt, wo der Staat verpflichtet ist für eine funktionsfähige Rechtspflege zu sorgen, die das Rechtsstaatsprinzip umsetzt.
Wenn sich mehrere Güter von Verfassungsrang gegenüberstehen – hier einerseits die Religionsfreiheit der Richterin, andererseits die negative Religionsfreiheit der Prozessbeteiligten sowie der Grundsatz der staatlichen Neutralität, sind diese miteinander abzuwägen und möglichst zu einem schonenden Ausgleich zu bringen – die Herstellung praktischer Konkordanz.
Bei dieser Abwägung betont das Gericht die Bedeutung des verfassungsrechtlichen Grundsatzes der Neutralität in der Justiz.
Richter müssen daher in besonderem Maße unabhängig und unparteilich sein und Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bieten. Daher ist bereits im Ansatz der Verdacht zu vermeiden, dass ein Richter sich nicht unparteiisch gegenüber einer Person verhält, die derselben Religion angehört, sondern diese bevorzugt zu behandeln.
„Der Gesetzgeber ist hinsichtlich der Regelung davon ausgegangen, dass die Überzeugungskraft richterlicher Entscheidungen nicht nur auf der juristischen Qualität ihrer Gründe, sondern in hohem Maß auch auf dem Vertrauen beruht, das den Richterinnen und Richtern von der Bevölkerung entgegengebracht werde. (…) Demgegenüber wird die Beeinträchtigung der Glaubens- und Gewissensfreiheit der Amtsträger dadurch begrenzt, dass sich das Verbot des Tragens religiös oder weltanschaulich geprägter Kleidung oder Symbole nicht auf die gesamte dienstliche Tätigkeit, sondern nur auf Verhandlungen und sonstige Amtshandlungen mit Außenwirkung bezieht.“
Schließlich ist auch zu berücksichtigen, dass die Person des Amtsträgers bei der Ausübung richterlicher Tätigkeit hinter seinem Amt zurücktritt und Richter und Richterinnen daher bei der privaten Selbstdarstellung im Rahmen ihrer Amtstätigkeit dem Gebot der Mäßigung unterworfen sind.
Insgesamt stellt sich das gesetzliche Verbot religiöser Kleidung als angemessen dar, der Eingriff in die Religionsfreiheit ist nicht unzumutbar.
Somit verletzt die gesetzliche Regelung nicht die Religionsfreiheit der R.
Weiterhin kommt eine Verletzung des Diskriminierungsverbots wegen des Geschlechts aus Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG in Betracht.
Auf den ersten Blick erscheint eine solche Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts fernliegend, da das gesetzliche Verbot nicht am biologischen Geschlecht des Amtsträgers anknüpft. Eine unmittelbare Ungleichbehandlung liegt somit nicht vor.
Allerdings schützt Art. 3 Abs. 2 und Abs. 3 GG auch vor sog. „mittelbaren Ungleichbehandlungen“. Damit sind Regelungen gemeint, die ihrem Wortlaut nach geschlechtsneutral formuliert sind, faktisch aber vorübergehend auf ein Geschlecht anwendbar sind.
Dies könnte man hier annehmen mit dem Hinweis darauf, dass die gesetzliche Regelung aus Anlass einer kopftuchtragenden Lehrerin geschaffen wurde und faktisch vor allem muslimische Frauen trifft, die aus religiösen Gründen ein Kopftuch tragen wollen. Allerdings stellt das Gericht fest, dass das Gesetz
„nicht nur das Tragen eines Kopftuchs aus religiösen Gründen, sondern vielmehr alle religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke oder Symbole betrifft, die Zweifel an der Unabhängigkeit, Neutralität oder ausschließlichen Bindung ihrer Trägerin oder ihres Trägers an Recht und Gesetz hervorrufen können. Hiervon umfasst sind auch Kleidungsstücke, die ausschließlich oder vorwiegend von Männern getragen, wie etwa die Kippa oder der Dastar.“
Somit liegt schon keine ungleiche Behandlung nach dem Kriterium des Geschlechts vor.
Auf die Frage, ob eine mittelbare Ungleichbehandlung möglicherweise durch objektive Faktoren gerechtfertigt werden kann, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben, kommt es daher nicht mehr an.
Insgesamt ergibt sich, dass das Gesetz verfassungsgemäß ist.
Die Verfassungsbeschwerde der R ist zwar zulässig, aber unbegründet.
Fazit und Bewertung
Der Originalfall spielt in Bayern, betrifft das Bayerische Richter- und Staatsanwaltsgesetz (BayRiStAG) und beruht auf einer Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs (Entscheidung v. 14.03.2019, Az. Vf. 3-VII-18) über eine Popularklage (eine landesverfassungsrechtliche Besonderheit in Bayern).
Tatsächlich könnte der Fall aber auch in jedem anderen Bundesland spielen und eine Entscheidung des BVerfG nach sich ziehen. Der BayVerfGH zitiert bei seinen verfassungsrechtlichen Überlegungen zu einer möglichen Verletzung der Religionsfreiheit und des Diskriminierungsverbots umfassend die einschlägige Rechtsprechung des BVerfG, so dass es naheliegt, dass das BVerfG auch inhaltlich gleich entscheiden würde.
Auf jeden Fall reiht sich die Entscheidung ein in zahlreiche höchstrichterliche Entscheidungen im Spannungsfeld von Religionsfreiheit und religiös-weltanschaulicher Neutralität und bietet sich als Vorlage für eine Klausur gut an.
Bei einer Verfassungsbeschwerde beim BVerfG müsste dann noch näher geprüft werden, ob der Grundsatz der Subsidiarität einer Rechtssatz-Verfassungsbeschwerde entgegensteht: Möglicherweise ist es der Richterin R zumutbar, zunächst disziplinarische Anordnungen abzuwarten und dagegen den Rechtsschutz vor den Fachgerichten zu suchen, bevor sie Verfassungsbeschwerde beim BVerfG erhebt. Allerdings betont auch das BVerfG, dass dieser Aspekt der Subsidiarität, eine Rechtssatzverfassungsbeschwerde dann nicht ausschließt, wenn es erkennbar ausschließlich um die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes geht. Denn in diesem Fall müssten auch die Fachgerichte die einschlägige Rechtsnorm nach Art. 100 GG dem BVerfG im Rahmen einer konkreten Normenkontrolle vorlegen.