Entscheidungen des BGH
I. Anspruch auf Zahlung einer „Ausfallpauschale“
Sachverhalt
Im vorliegenden Urteil beschäftigt sich der BGH (III ZR 78/21; NJW 2022, 2269 ) mit einem Anspruch aus einer Ausfallpauschale.
Die Beklagte und allein Erziehungsberechtigte Mutter (B) vereinbarte zur Behandlung ihres 7-jährigen Kindes einen Behandlungstermin für den 23.3.2020 um 15 Uhr mit der Klägerin (K) zur Steigerung der Konzentrationsfähigkeit ihres Kindes in der Praxis für Ergotherapie. Bei der Anmeldung wurde B aufgefordert ein „Ergänzungsblatt zum Behandlungsvertrag“ auszufüllen. Dort trug sie ihre Daten als Erziehungsberechtigte ein und unterschrieb die Unterlagen ohne Vertretervermerk.
Die Unterlagen enthielten unter anderem folgende Passage:
„Können vereinbarte Termine nicht eingehalten werden, müssen diese mindestens 24 Stunden vorher abgesagt werden. Andernfalls wird Ihnen unabhängig von einer Begründung des kurzfristigen Ausfalls gem. § 293 ff. BGB (gesetzliche Regelungen zum Annahmeverzug) eine Ausfallpauschale iHv 25 EUR privat in Rechnung gestellt. Entsprechendes gilt für vereinbarte, aber nicht abgesagte Termine, die nicht eingehalten werden. Mit Ihrer Unterschrift erkennen Sie die Vereinbarungen an und erklären sich mit ihnen einverstanden.“
In der Nacht zum 23.3.2020 entwickelte der Sohn der B coronatypische Beschwerden (Fieber nebst Kopf- und Halsschmerzen). B rief um 7:30 Uhr in der Praxis an, schilderte die Situation und sagte den vereinbarten Termin ab. Nach unmittelbar nachfolgend erfolgter Kontaktaufnahme mit dem Hausarzt wurde B gebeten mit dem erkrankten Sohn zu Hause zu bleiben und die Entwicklung des Gesundheitszustandes zu beobachten.
In der Folgezeit stellte B der K die Ausfallgebühr in Höhe von 25 € in Rechnung.
Am 22.3.2020 hatte das Land Nordrhein-Westfalen auf der Grundlage der §§ 32, 28 I 1 und 2 IfSchG vom 20.7.2000 (BGBl. 2000 I 1045) die „Verordnung zum Schutz vor Neuinfizierungen mit dem Coronavirus SARS-CoV-2“ (NRWGVBl. 2020, 177a) erlassen, die am 23.3.2020 in Kraft und am 20.4.2020 außer Kraft trat. In § 7 wurde unter anderem bestimmt:
„(3) Dienstleistungen und Handwerksleistungen, bei denen ein Mindestabstand von 1,5 m zum Kunden nicht eingehalten werden kann (insbes. von Friseuren, Nagelstudios, Tätowierern, Massagesalons), sind untersagt. Therapeutische Berufsausübungen, insbesondere von Physio- und Ergotherapeuten, bleiben gestattet, soweit die medizinische Notwendigkeit der Behandlung durch ärztliches Attest nachgewiesen wird und strenge Schutzmaßnahmen vor Infektionen getroffen werden. Das gleiche gilt für gesundheitsorientierte Handwerksleistungen (Hörgeräteakustiker, Optiker, orthopädische Schumacher etc.), die zur Versorgung der betreffenden Person dringend geboten sind.“
Bearbeitervermerk: Der minderjährige Sohn ist mitversicherter Familienangehöriger in der gesetzlichen Krankenversicherung. Es ist davon auszugehen, dass die Praxis exklusive Termine vergibt und diese nicht kurzzeitig anderweitig vergeben kann.
Hat K einen Anspruch gegen B auf Zahlung der Ausfallpauschale i.H.v. 25 €?
Lösung
Der BGH musste in diesem Zusammenhang verschiedene Fragen klären. Zunächst mit wem ein Vertrag überhaupt zustande gekommen ist und sodann, ob sich aus der vertraglichen Vereinbarung oder anderen gesetzlichen Vorschriften – insbesondere § 615 Satz 1 – die Verpflichtung ergeben kann eine solche Ausfallpauschale zu zahlen.
1 Stellvertretung vs. Vertrag zugunsten Dritter
Der BGH stellt klar, dass die Art der vertraglichen Verbindung stets im Einzelfall zu bestimmen ist. Vorliegend wurde ein Behandlungsvertrag nach § 630a I BGB geschlossen. Der BGH geht von einem Vertrag zugunsten Dritter nach § 328 I BGB aus und stellt klar, dass dies der Regelfall ist. Soweit sich nicht etwas anderes aus den Umständen ergibt, berechtigt und verpflichtet der Vertrag die Eltern des Minderjährigen. Maßgeblich für diese Einordnung ist der Gedanke, dass die Eltern durch den Vertragsschluss ihrer Personensorgepflicht aus § 1626 BGB nachkommen, indem sie dem Kind den Behandlungsvertrag verschaffen.
Dieser Einordnung steht auch nicht die Tatsache entgegen, dass eine gesetzliche Krankenversicherung besteht, bei der den mitversicherten Familienangehörigen gemäß § 10 SGB V eigene Leistungsansprüche in der gesetzlichen Krankenversicherung zustehen, welche sie eigenständig geltend machen können. Der Behandlungsvertrag ist privatrechtlicher Natur, sodass eine Einordnung nach § 328 I BGB auch mit Blick auf § 10 SGB V möglich ist.
Dies wird in der Literatur teilweise anders gesehen (MüKo BGB/ Gottwald, § 328 Rn. 48).
Im vorliegenden Fall fehlt es an besonderen Umständen, welche zu einer Einordnung des Vertrags entgegen der oben genannten Regel führen könnten. Insbesondere hat die B hier zu keinem Zeitpunkt Willenserklärungen im Namen des Kindes abgegeben. Der bloße Vermerk der Daten als Erziehungsberechtigte erstellte bei gebotener Auslegung keine Erklärung im fremden Namen zu handeln dar, sondern diente bloß den im Datenblatt angelegten Informationszwecken.
Damit ist B Vertragspartnerin des K geworden.
2 Anspruch auf Ausfallpauschale aus vertraglicher Abrede
Ein Anspruch folgt nicht aus der in den Vertrag aufgenommenen Klausel. Unabhängig von der Frage, ob im vorliegenden Fall eine AGB vorlag, ergibt die gebotene objektive Auslegung der Formulierung – hier insbesondere des Passus, „gesetzliche Regelungen zum Annahmeverzug“ i.V.m. dem Verweis auf die §§ 293 ff. BGB –, dass die Ausfallpauschale nur im Fall des Annahmeverzugs entstehen soll.
Nach den gesetzlichen Vorschriften bleibt der Anspruch auf Vergütung des Dienstverpflichteten gemäß § 615 Satz 1 BGB erhalten, wenn der Dienstberechtigte mit der Annahme der Dienste in Verzug gerät. Dabei findet § 615 Satz 1 BGB über § 630b BGB auch auf den Behandlungsvertrag Anwendung. Ansprüche des Behandelnden wegen Leistungsstörungen richten sich dabei unmittelbar gegen den Kassenpatienten und nicht gegen die Versicherung. Die Versicherung ist nur für Behandlungen, die stattgefunden haben einstandspflichtig.
Die Voraussetzungen für den Annahmeverzug liegen jedoch nicht vor. Der Annahmeverzug ergibt sich vorliegend nicht aus § 296 Satz 1 BGB. Bei der Beurteilung der Frage, ob eine bestimmte Vereinbarung eine kalendermäßige Bestimmung im Sinne der Vorschrift darstellt, verbietet sich eine schematische Betrachtung. Die Vereinbarung eines Behandlungstermins stellt eine Nebenabrede dar und muss nach den §§ 133, 157 BGB unter Berücksichtigung aller Einzelfallumstände ausgelegt werden.
Es ist der K nicht möglich, abgesagte Behandlungstermine kurzfristig anderweitig zu vergeben. Damit besteht ein hohes Interesse an der möglichst frühzeitigen Absage der Termine. Die Vergabe von solchen Exklusiv Terminen liegt nicht nur im Interesse der K, sondern auch der Patienten, die fest reservierte Zeiten für ihre Behandlung erwarten dürfen. Auch werden etwaige Wartezeiten hierdurch verkürzt. Aus dieser Interessenlage folgt, dass die Vereinbarungen nicht bloß unverbindliche Absprachen darstellen, sondern rechtsverbindliche Vereinbarungen sein sollten und damit eine kalendermäßige Bestimmung gewollt war.
Gemäß § 297 BGB kommt der Gläubiger jedoch nicht in Verzug, wenn der Schuldner im Fall des § 296 BGB zu der für die Handlung des Gläubigers bestimmten Zeit außerstande ist die Leistung zu bewirken. Die Vorschrift behandelt den Fall der vorübergehenden Unmöglichkeit. Geht man von einer Nachholbarkeit des Termins aus, so standen der Wahrnehmung des Termins gesetzliche Vorschriften entgegen.
So ergibt sich aus dem Sachverhalt gerade nicht, dass die Voraussetzungen nach § 7 Abs. 3 Satz 2 der Coronaschutz-VO durch K eingehalten wurden. Der Termin betraf „bloß“ die Behandlung von Konzentrationsstörungen und war damit nicht zwingend erforderlich. Auch bestand kein entsprechendes aktuelles ärztliches Attest, welches die medizinische Notwendigkeit des Eingriffs bescheinigt. Auch ergibt sich aus dem Sachverhalt nicht, dass ein ausreichendes Patienten- und Hygienemanagement von K vorgehalten wurde.
Aus diesem Grund bestanden für den Zeitpunkt des Termins vorübergehende Hinderungsgründe. Annahmeverzug nach § 296 lag entsprechend nicht vor.
Hinweis: Wäre ein Fall der fehlenden Nachholbarkeit gegeben, so würde § 275 greifen. Unmöglichkeit schließt den Gläubigerverzug jedoch von vornherein aus.
Hinweis: Da bereits die Voraussetzungen der vertraglichen Abrede nicht vorlagen, kam es auf eine Prüfung des AGB Rechts gar nicht an.
III Ergebnis
Ein Anspruch auf Ersatz der 25 € aus der Ausfallpauschale bestand in Ermangelung des Annahmeverzugs nicht.
II. Anspruch aus § 1004 Abs. 1 S. 1 BGB
Im vorliegenden Fall beschäftigt sich der BGH (VI ZR 172/20, NJW 2022, 2406) im Kern mit dem Anspruchsumfang aus § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB.
Sachverhalt
Die Beklagte ist Eigentümerin der unter Denkmalschutz stehenden Wittenberger Stadtkirche, an deren Außenfassade sich seit etwa dem Jahr 1290 ein Sandsteinrelief befindet. Es zeigt unter anderem eine Sau, an deren Zitzen zwei Menschen saugen, die durch ihre Spitzhüte als Juden identifiziert werden.
Ein ebenfalls durch seinen Hut als Jude zu identifizierender Mensch hebt den Schwanz der Sau und blickt ihr in den After. Im Jahr 1570 wurde in Anlehnung an zwei von Martin Luther 1543 veröffentlichte antijudaistische Schriften über der Sau die Inschrift "Rabini Schem Ha Mphoras" angebracht. Im Jahr 1983 entschied der Gemeindekirchenrat im Rahmen von Sanierungsarbeiten an der Stadtkirche das Relief an seinem Ort zu belassen und ebenfalls zu sanieren.
Am 11. November 1988 wurde unter dem Relief eine nach den örtlichen Verhältnissen nicht zu übersehende, in Bronze gegossene quadratische Bodenreliefplatte mit einer Inschrift eingeweiht. Der Text der Inschrift lautet: "Gottes eigentlicher Name, der geschmähte Schem Ha Mphoras, den die Juden vor den Christen fast unsagbar heilig hielten, starb in 6 Millionen Juden unter einem Kreuzeszeichen". In Hebräischer Schrift ist darüber hinaus der Beginn von Psalm 130 wiedergegeben, der - übersetzt - lautet: "Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir".
Auf einem in unmittelbarer Nähe angebrachten Schrägaufsteller heißt es unter der Überschrift „Mahnmal an der Stadtkirche Wittenberg“: „An der Südostecke der Stadtkirche Wittenberg befindet sich seit etwa 1290 ein Hohn- und Spottbild auf die jüdische Religion. Schmähplastiken dieser Art, die Juden in Verbindung mit Schweinen zeigen - Tiere, die im Judentum als unrein gelten - waren besonders im Mittelalter verbreitet.
Es existieren noch etwa fünfzig derartige Bildwerke. Judenverfolgungen fanden in Sachsen Anfang des 14. Jahrhunderts und 1440 statt, 1536 wurde Juden der Aufenthalt in Sachsen grundsätzlich verboten. Martin Luther veröffentlichte 1543 die antijudaistischen Schriften „Von den Juden und ihren Lügen“ und „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“, auf die sich die Inschrift der Schmähplastik bezieht. Sie wurde 1570 angebracht wie der lateinische Text an der Traufe, der die von Martin Luther angestoßene Reformation mit der Tempelreinigung Jesu (Matthäus 21) gleichsetzt und gegen „Papisten“ polemisiert. Das Mahnmal unterhalb der Schmähplastik wurde im November 1988 enthüllt, fünfzig Jahre nach dem Beginn der Judenpogrome im nationalsozialistisch beherrschten Deutschland.
Der Kläger ist Jude und Mitglied einer jüdischen Gemeinde in Deutschland. Er macht geltend, er werde durch das Sandsteinrelief beleidigt. Die diffamierende Wirkung bleibe unabhängig davon, ob man die Plastik kommentiere, erhalten. Eine Distanzierung von dem beleidigenden Aussagegehalt sei nicht möglich. Mit seiner Klage verlangt er von der Beklagten in erster Linie die Entfernung des Sandsteinreliefs; für den Fall, dass der Beklagten dies aus Denkmalschutzgründen nicht möglich sein sollte, begehrt er hilfsweise die Feststellung, dass das Relief den objektiven und subjektiven Tatbestand der Beleidigung gemäß § 185 StGB erfülle.
Hat der Kläger (K) einen Anspruch gegen die Beklagte (B) auf Entfernung des Reliefs?
Lösung
Der BGH verneint einen Anspruch aus § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB analog, § 823 Abs. 1 BGB in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1,1 Abs. 1 GG.
Der BGH bejaht die Aktivlegitimation mit der Begründung, dass das gesamte jüdische Volk und seine Religion, mithin das Judentum als Ganzes eine herausgehobene Personengruppe darstelle, die durch den nationalsozialistischen Völkermord zu einer Einheit verbunden ist. Die daraus resultierende besondere Verletzlichkeit und moralische Verantwortlichkeit aller anderen Deutschen führt hier dazu, dass die Zugehörigkeit des Klägers zu dieser Gruppe ausreicht, um ihn unmittelbar in eigenen Rechten zu betreffen.
Sodann bejaht der BGH sehr zügig die Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts mit Hinweis darauf, dass hier ein Fall der Schmähung vorliegt. Ergänzend stellt der BGH jedoch klar, dass auch im Fall einer anderweitigen Bewertung die Schutzinteressen der Verunglimpften anderen Interessen vorliegend vorgehen.
Hinweis
Allerdings stellt der BGH im Zusammenhang mit dieser Prüfung nicht klar welche entgegenstehenden Rechte dies sein könnten. Auch ließe sich im Zusammenhang mit einer etwaigen Abwägung auf Art. 5 eingehen.
Hinweis
Der BGH verneint den Anspruch erst an späterer Stelle. Es ließe sich jedoch mit der nachfolgenden Argumentation auch gut vertreten, dass aufgrund der Neugestaltung gerade keine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts mehr begründet wird.
Der Beklagte ist auch Störer. Dabei kann dahinstehen, ob hierfür schon ausreicht, dass das Relief nicht von der Fassade genommen wurde. Die Beklagte hat sich im Jahr 1903 entschieden das Relief im Rahmen der Sanierungsarbeiten ebenfalls zu sanieren und damit den rechtsverletzenden Zustand aufrechterhalten bzw. intensiviert.
Sodann wird jedoch klargestellt, dass durch die weitergehenden Maßnahmen und die Verbindung mit den historischen Hinweisen und der Bronzetafel in unmittelbarer Nähe aus dem „Schandmal“ ein „Mahnmal“ wurde. Daher wurde seit dem 11.11.1988 der rechtsverletzende Zustand durch die vorgenommenen Maßnahmen beseitigt. In diesem Zusammenhang stellt das Gericht klar, dass der Anspruch aus § 1004 Abs. 1 Satz 1 BGB nicht auf eine ganz bestimmte Handlung gerichtet ist, sondern nur auf die Beseitigung der Störung. So obliegt es gerade dem Störer auf welche Weise er die Störung beseitigt. So wären vorliegend neben der vorgenommenen Maßnahme auch andere Möglichkeiten vorhanden gewesen. Es hätte beispielsweise das Relief verhüllt werden können. Hier kommt der Grundsatz zum Ausdruck, dass die Rechte des Störers nicht weitergehend eingeschränkt werden sollen als die Beeinträchtigung des Berechtigten es erfordert.
Expertentipp
Der BGH argumentiert sehr intensiv und setzt sich umfassend mit der Frage auseinander, ob die vorgenommenen Maßnahmen ausreichen, um die Intention der ursprünglichen Abbildung in einen anderen Kontext zu rücken. In der Klausur würde ein Schwerpunkt auf diesen Umständen liegen. Interessierte Leser sollten sich die konkrete Argumentation des BGH ansehen. Allerdings geht die Begründungstiefe hier weit darüber hinaus, was im Examen verlangt werden kann. Im Examen wäre insbesondere wichtig hier einen Schwerpunkt zu setzen und die im Sachverhalt dargelegten Tatsachen sauber zu verwerten und in eine gute Argumentation zu bringen.