I. Entscheidungen des BVerfG
Wahlprüfungsbeschwerde der NPD zur Bundestagswahl 2017 ist erfolgreich
Der 2. Senat (Beschluss vom 23. März 2022, Az. 2 BvC 22/19) gab einer Wahlprüfungsbeschwerde der NPD statt und entschied, dass die Nichtzulassung der Landesliste der NPD für die Bundestagswahl im Land Berlin 2017 die Partei in ihrer Parteienfreiheit aus Art. 21 Abs. 1 Satz 1 und 2 GG und Wähler*rinnen in ihrem Wahlrecht aus Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG verletzt. Soweit sich die Wahlprüfungsbeschwerde gegen die Gültigkeit der Wahl richtete, wurde sie als unzulässig verworfen.
Im Oktober 2016 fand in Berlin die besondere Vertreterversammlung der NPD zur Aufstellung einer Landesliste für die Bundestagswahl 2017 statt. Die Vertreter eines Kreisverbandes waren bereits im Februar 2016 gewählt worden, nahmen an der besonderen Vertreterversammlung jedoch nicht teil. Weil die Wahlen der Delegierten zur Vertreterversammlung gemäß § 27 Abs. 5 in Verbindung mit § 21 Abs. 3 Satz 4 BWahlG erst frühestens 29 Monate nach dem Beginn der Wahlperiode des Deutschen Bundestages stattfinden dürfen, lehnte der Landeswahlausschuss die Zulassung der eingereichten Landesliste ab.
Der Zweite Senat beschloss nun, dass eine Landesliste, die – wie im vorliegenden Fall – unter Nichtbeteiligung verfrüht gewählter Delegierter aufgestellt wurde, wegen des damit verbundenen schwerwiegenden Eingriffs in die Parteienfreiheit und die Wahlfreiheit regelmäßig nicht allein aus diesem Grund zurückgewiesen werden darf.
Hierzu führte der Senat in den Leitsätzen aus:
„§ 28 BWahlG trägt den Anforderungen an die Rechtfertigung der mit der Norm verbundenen Eingriffe in die Wahl- und Parteienfreiheit bei verfassungskonformer Auslegung Rechnung.
Bei der Konkretisierung des Begriffs der „Anforderungen“ im Sinne von § 28 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BWahlG ist dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Nichtzulassung einer Landesliste einen schwerwiegenden Eingriff in die Wahl- und Parteienfreiheit darstellt.“
II. Entscheidungen des BVerwG
1. Kein Ausschluss von der Pedelec-Förderung wegen Verweigerung einer Distanzierung von Scientology
Eine Gemeinde darf die Bewilligung einer finanziellen Zuwendung, mit der umweltpolitische Zielsetzungen verfolgt werden, nicht davon abhängig machen, dass Antragsteller eine Erklärung zur Distanzierung von der Scientology-Organisation abgeben. Die Klägerin beantragte eine Zuwendung zum Erwerb eines Pedelecs, dabei gab sie die im Antragsformular enthaltene „Schutzerklärung in Bezug auf die Lehre von L. Ron Hubbard/Scientology“ nicht ab. Die Kommune lehnte den Antrag daraufhin unter Verweis auf die fehlende Erklärung ab. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Der Verwaltungsgerichtshof Bayern hat die Gemeinde verpflichtet, der Klägerin entsprechend ihrem Antrag eine Förderzusage zu erteilen.
Diese Entscheidung wurde vom BVerwG (Urteil vom 06. April 2022, Az. 8 C 9.21) bestätigt. Die Beklagte darf die Förderung nicht von der Abgabe der Schutzerklärung abhängig machen. Erklärungen zur Weltanschauung einzufordern, ist keine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft im Sinne des Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG, so dass es bereits an einer Zuständigkeit der Kommune fehlt:
„Wird eine solche Erklärung verlangt und an deren Verweigerung der Ausschluss von der Förderung geknüpft, greift dies gezielt in die von Art. 4 Abs. 1 und 2 GG gewährleistete Religions- und Weltanschauungsfreiheit ein. Der Eingriff ist schon mangels einer gesetzlichen Grundlage verfassungswidrig. Schließlich verstößt die Vorgehensweise der Beklagten gegen den allgemeinen Gleichbehandlungs-grundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Sie stellt eine unzulässige Differenzierung dar, weil sie den Kreis der Förderberechtigten nicht sachgerecht abgrenzt, sondern nach Kriterien, die mit dem Förderzweck in keinem Zusammenhang stehen. Da alle sonstigen Voraussetzungen der Förderung erfüllt sind, ist die Beklagte verpflichtet, der Klägerin eine entsprechende Zusage zu erteilen.“
2. Auch bei ordnungswidrigkeitsrechtlich nicht geahndeter Zuwiderhandlung im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss darf MPU verlangt werden
Die Fahrerlaubnisbehörde darf auch dann wegen wiederholter Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss ein medizinisch-psychologischen Gutachtens verlangen, wenn eine als Ordnungswidrigkeit einzustufende Zuwiderhandlung nicht geahndet worden ist. Im entschiedenen Fall wandte sich der Kläger gegen die Entziehung der Fahrerlaubnis. Ob nach einer ihm vorgeworfenen Trunkenheitsfahrt ein Ordnungswidrigkeitsverfahren eingeleitet wurde und wie es gegebenenfalls endete, konnte nicht festgestellt werden; der Vorgang wurde bei der Bußgeldstelle aus datenschutzrechtlichen Gründen gelöscht.
Nachdem der Kläger das Gutachten nicht beibrachte, entzog ihm der Beklagte die Fahrerlaubnis. Das VG entschied der Beklagte könne dies auf einen früheren Vorfall stützen. Die Aufforderung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens sei rechtmäßig erfolgt. Der vom Beklagten als Rechtsgrundlage angeführte § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FeV (… wiederholt Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss …) rechtfertige die Beibringungsaufforderung zwar nicht, stattdessen finde sich die erforderliche Rechtsgrundlage jedoch im Auffangtatbestand des § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a Alt. 2 FeV (… sonst Tatsachen die Annahme von Alkoholmissbrauch begründen …).
Das BVerwG (Urteil vom 07. April 2022, Az. 3 C 9.21) hielt nun die Voraussetzungen des § 13 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b FeV für gegeben und wies die Revision zurück: „Eine Zuwiderhandlung im Straßenverkehr unter Alkoholeinfluss im Sinne dieser Vorschrift ist auch dann gegeben, wenn eine als Ordnungswidrigkeit einzustufende Trunkenheitsfahrt ordnungswidrigkeitsrechtlich nicht geahndet worden ist, aber mit hinreichender Gewissheit feststeht, dass der Betroffene die Zuwiderhandlung begangen hat und sie in zeitlicher Hinsicht noch verwertbar ist. Diese Voraussetzungen waren hier erfüllt. Dass das Oberverwaltungsgericht die Behauptung des Klägers, er habe den Alkohol erst nach Beendigung der Fahrt zu sich genommen, nicht als glaubhaft angesehen hat, ist nicht zu beanstanden.“
III. Entscheidungen des EuGH
Uploadfilter sind grundsätzlich verhältnismäßig
Seit Jahren wird über Artikel 17 der EU-Richtlinie 2019/790 gestritten. Diese „Digital Single Market“, kurz DSM Richtlinie verändert das Internet. Grundsätzlich haften danach die Plattformbetreiber, wenn Nutzer urheberrechtlich geschützte Werke hochladen. Das führe dazu, dass die Anbieter „de facto verpflichtet sind, eine vorherige Kontrolle der Inhalte durchzuführen“, so der EuGH (Urteil vom 26.04.2022, Rs. C-401/19) in seiner Pressemitteilung. Das ist aber bei den großen Datenmengen nur automatisiert möglich – also müssen die Anbieter sog. Uploadfilter einsetzen.
Diese Vorabkontrolle schränkt zwar nach der großen Kammer die Meinungs- und Informationsfreiheit der Nutzer ein, ist jedoch verhältnismäßig. Denn in Artikel 17 sei klargestellt, dass ein angemessenes Gleichgewicht zwischen dem Recht auf freie Meinungsäußerung und Informationsfreiheit einerseits und dem Recht des geistigen Eigentums andererseits hergestellt werden müsse. D.h. ein Filtersystem muss zwischen zulässigen und unzulässigen Inhalten unterscheiden können.
Nun obliegt es den Mitgliedstaaten, Artikel 17 grundrechtskonform umzusetzen. Die Filterverfahren müssen so ausgestaltet sein, dass Overblocking so effektiv wie möglich verhindert wird, dabei muss sichergestellt werden, dass Nutzer „in jedem Mitgliedstaat von ihnen generierte Inhalte für die speziellen Zwecke von Zitaten, Kritik, Rezensionen, Karikaturen, Parodien oder Pastiches hochladen und zugänglich machen dürfen.“ Nutzer generell auf den Beschwerdeweg zu verweisen ist unzulässig.