I Entscheidungen des BVerfG
1. Verfassungsbeschwerde gegen „einrichtungs- und unternehmensbezogene Nachweispflicht“ erfolglos
Der erste Senat des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 27. April 2022, - 1 BvR 2649/21 -, Rn. 1-281) hat eine Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen, die sich gegen § 20a, § 22a und § 73 Abs. 1a Nr. 7e bis 7h des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) richtete. Diese schreiben den Nachweis einer COVID-19-Schutzimpfung, eine Genesung von der COVID-19-Krankheit oder eine medizinische Kontraindikation für eine Impfung vor in bestimmten Einrichtungen und Unternehmen des Gesundheitswesens und der Pflege (sogenannte „einrichtungs- und unternehmensbezogene Nachweispflicht“).
Die angegriffenen Vorschriften stellen keine Verletzung von Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG dar. Der Gesetzgeber hat laut Beschluss im Rahmen des ihm zustehenden Einschätzungsspielraums einen angemessenen Ausgleich zwischen dem mit den Regelungen verfolgten Schutz vulnerabler Menschen vor einer Infektion und möglichen Grundrechts-beeinträchtigungen der nachweispflichtigen Personen gefunden. Trotz der hohen Eingriffs-intensität müssen die grundrechtlich geschützten Interessen der im Gesundheits- und Pflegebereich tätigen Beschwerdeführenden daher letztlich zurücktreten.
2. Verfassungsbeschwerde gegen „Bundesnotbremse“ im Gastronomiebereich ebenfalls erfolglos
Mit Verweis auf die Entscheidung des Ersten Senats (vom 19. November 2021 - 1 BvR 781/21 u. a. - zur sogenannten „Bundesnotbremse“) hat die Kammer (Beschluss der 3. Kammer des Ersten Senats vom 23. März 2022, - 1 BvR 1295/21 -, Rn. 1-36) entschieden, dass auch die vorübergehende Beschränkung des Betriebs der Gaststätten auf die Auslieferung und den Außer-Haus-Verkauf von Speisen und Getränken als Maßnahme zur Pandemiebekämpfung verfassungsrechtlich gerechtfertigt war. Der Gesetzgeber hat den ihm zustehenden Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum auch insoweit nicht überschritten. Die Beschwerde wurde daher noch nicht einmal zur Entscheidung angenommen.
3. „Übernachtungssteuer“ verfassungsgemäß
Eine Vielzahl von Kommunen erhebt seit 2005 von den ansässigen Beherbergungsbetrieben eine Übernachtungsteuer, die sich zumeist auf einen niedrigen Prozentsatz des Übernachtungspreises (Nettoentgelt) beläuft. Das Bundesverwaltungsgericht entschied Grundsatzurteil vom 11. Juli 2012 - BVerwG 9 CN 1.11 -, dass beruflich veranlasste Übernachtungen aus verfassungsrechtlichen Gründen von dieser Steuer auszunehmen seien. Seither nehmen bundesweit sämtliche Normen solche Übernachtungen von der Besteuerung aus. Gegenstand der Verfassungsbeschwerden waren Entscheidungen der Fachgerichte, denen die mittelbar angegriffenen Regelungen der Übernachtungsteuer zu Grunde lagen. Diese Vorschriften sind mit dem Grundgesetz vereinbar, die Länder haben die der Besteuerung zugrundeliegenden Gesetze kompetenzgemäß erlassen. Die „Übernachtungsteuer“ ist eine örtliche Aufwandsteuer im Sinne des Art. 105 Abs. 2a Satz 1 GG, die bundesgesetzlich geregelten Steuern nicht gleichartig ist; die Gesetzgebungsbefugnis der Länder ist nicht durch eine gleichartige Bundessteuer gesperrt. Die Regelungen sind auch materiell mit dem Grundgesetz vereinbar, sie belasten die betroffenen Beherbergungsbetriebe nicht übermäßig. Der Gesetzgeber kann zudem beruflich veranlasste Übernachtungen von der Aufwandbesteuerung ausnehmen, muss dies aber nicht.
II Entscheidungen des BVerwG
1. Kommandeure müssen bei privaten Internetauftritten die Auswirkungen auf ihr berufliches Ansehen beachten
Eine überdurchschnittlich bekannte Kommandeurin hatte in einem Dating-Portal ein Profilbild von sich in sitzender Pose mit erkennbaren Gesichtszügen und unter Verwendung ihres tatsächlichen Vornamens eingestellt. Sie warb mit dem Text: „Spontan, lustvoll, trans*, offene Beziehung auf der Suche nach Sex. All genders welcome." Dafür erteilte ihr der Disziplinarvorgesetzte einen einfachen disziplinarrechtlichen Verweis. Zu Recht, wie das BVerwG (Beschluss vom 25. Mai 2022 – 2 WRB 2.21) beschloss.
Zwar sei das Truppendienstgericht zu Unrecht davon ausgegangen, dass die privaten Äußerungen der Soldatin in einem Partnerschaftsportal von der Öffentlichkeit der Bundeswehr als Ganzes zugerechnet werden; zudem habe es die Bedeutung der Grundrechte im Bereich der privaten Lebensführung nicht ausreichend gewürdigt. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 1 Abs. 1 i.V.m. 2 Abs. 1 GG enthalte auch ein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung. Dieses beinhalte, dass Personen über geschlechtlichen Beziehungen frei bestimmen und sich für eine promiskuitives Sexualverhalten entscheiden können. Der Schutz des Grundrechts erstrecke sich nicht nur auf die Intim- und Privatsphäre, sondern schließe das Recht ein, in der Sozialsphäre, das heißt im Internet, Kontakte mit Gleichgesinnten zu suchen. Aber:
„die außerdienstliche Wohlverhaltenspflicht verlangt, dass eine Soldatin in der besonders hervorgehebenen dienstlichen Stellung einer Bataillonskommandeurin mit Personalverantwortung für ca. 1.000 Personen bei der Wahl der verwendeten Worte und Bilder im Internet Rücksicht auf ihre berufliche Stellung nimmt. Sie muss daher Formulierungen vermeiden, die den falschen Eindruck eines wahllosen Sexuallebens und eines erheblichen Mangels an charakterlicher Integrität erwecken. Die Worte "offene Beziehung auf der Suche nach Sex. All genders welcome" erwecken auch aus der Sicht eines verständigen Betrachters Zweifel an der erforderlichen charakterlichen Integrität, weswegen diese Formulierung durch einen Verweis als mildeste Disziplinarmaßahme beanstandet werden durfte.“
2. Das „Klimacamp 2017“ unterfiel der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 GG
Dies hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig (urt. V. 24. Mai 2022 – 6 C 9.20) entschieden und in diesem Zusammenhang Maßgaben für den Schutz von sog. „Protestcamps“ durch das Grundrecht der Versammlungsfreiheit entwickelt. Die Klägerin meldete das Klimacamp für die Dauer von elf Tagen im August 2017 als öffentliche Versammlung unter freiem Himmel beim zstdg. Polizeipräsidium Aachen an. Dieses wies der Klägerin durch Auflage nach § 15 Abs. 1 VersammlG eine von der Klägerin gemietete Fläche und einen dieser Fläche benachbarten Sportplatz als Versammlungsflächen zu. Mit einer nach Beginn des Camps erlassenen weiteren Verfügung lehnte das Polizeipräsidium ein 800 Meter entferntes Feld, das die Klägerin gemietet hatte und das als weitere Fläche für Übernachtungszelte von Versammlungsteilnehmern und für Sanitäreinrichtungen genutzt wurde, als Versammlungsfläche ab. Hiergegen wandtes sich die Klägerin mit Feststellungsklage, auch das weitere Feld sei als Übernachtungsfläche von dem versammlungsgesetzlich ausgestalteten Schutz durch Art. 8 GG umfasst gewesen. Das VG Aachen wies die Klage ab; in Berufung hat das OVG Münster die begehrte Feststellung getroffen. Das BVerwG hat nun die auf die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils gerichtete Revision des Landes Nordrhein-Westfalen zurückgewiesen, mit folgender Begründung:
„Auf eine gewisse Dauer angelegte Protestcamps wie das in Rede stehende Klimacamp sind als Versammlungen durch das Grundrecht der Versammlungsfreiheit geschützt, wenn sich aus der Gesamtkonzeption des Veranstalters nach objektivem Verständnis ein auf die Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung gerichteter kommunikativer Zweck ergibt. Es obliegt dem Veranstalter, den Meinungskundgabezweck für die gesamte Dauer der Veranstaltung zu substantiieren. Je länger eine solche Versammlung dauern soll, desto höheres Gewicht erlangen Rechte Dritter und öffentliche Belange, die durch das Camp beeinträchtigt werden können. Die Versammlungsbehörde kann dem dadurch Rechnung tragen, dass sie auf der Grundlage des § 15 Abs. 1 VersammlG insbesondere dessen Dauer in angemessener Weise unter Berücksichtigung der Umstände des jeweiligen Einzelfalls beschränkt. Nach diesen Maßgaben hat das Oberverwaltungsgericht den Versammlungscharakter des hier in Rede stehenden, nach dem Gesamtkonzept auf die durchgehende Praktizierung einer umweltverträglichen Art des Zusammenlebens gerichteten und auf eine Dauer von elf Tagen bemessenen Klimacamps zu Recht bejaht.“
Im Weiteren nahm der Senat Stellung zur Frage inwieweit auch Zeltplätze o.ä. unter den Schutz von Art. 8 GG fallen können: „Infrastrukturelle Einrichtungen eines als Versammlung zu beurteilenden Protestcamps unterfallen dem unmittelbaren Schutz durch Art. 8 GG, wenn sie entweder einen inhaltlichen Bezug zur bezweckten Meinungskundgabe der Versammlung aufweisen oder für die konkrete Veranstaltung logistisch erforderlich sind und zu ihr in einem unmittelbaren räumlichen Zusammenhang stehen. Auch diesem Maßstab genügt die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts. Es hat in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, dass das Klimacamp ohne die genannten Infrastruktureinrichtungen nicht hätte durchgeführt werden können und die Veranstaltungsfläche sowie die Übernachtungsflächen auf dem Sportplatz und dem hier umstrittenen, 800 Meter entfernten Feld eine räumliche Einheit gebildet haben.“