Entscheidungen des BVerfG
- Beschluss des 1. Senats vom 19. Oktober - 1 BvL 3/21 -
Absenkung von Leistungen für Personen in Sammelunterkünften um 10% verfassungswidrig
Der 1. Senat entschied, dass § 2 Abs. 1 Satz 4 Nr. 1 des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) unvereinbar ist.
Alleinstehende Erwachsene, die in sogenannten Sammelunterkünften wohnen und sich seit mindestens 1 ½ Jahren rechtmäßig in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, erhalten einen um 10 % geringeren Bedarf an existenzsichernden Leistungen. Dies erklärte der 1. Senat für verfassungswidrig: Es ist nicht erkennbar, dass in den Sammelunterkünften regelmäßig tatsächlich Einsparungen durch gemeinsames Wirtschaften erzielt werden oder werden können, die eine Absenkung der Leistungen um 10 % tragen würden. Daneben kann der Gesetzgeber zwar im Sinne des Nachrangs staatlicher Leistungen grundsätzlich auch eine von den Bedürftigen nicht genutzte, ihnen aber an sich tatsächlich eröffnete und zumutbare Möglichkeit von Einsparungen berücksichtigen. Doch fehlt es an hinreichend tragfähigen Anhaltspunkten für die Annahme, dass die Voraussetzungen dafür in den Sammelunterkünften tatsächlich gegeben sind.
Der Senat führte aus: „Wenn Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil sie weder aus Erwerbstätigkeit noch aus eigenem Vermögen oder durch Zuwendungen Dritter zu erlangen sind, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass existenzsichernde Mittel zur Verfügung stehen. Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein Leistungsanspruch der Bedürftigen, da das Grundrecht die Würde jedes individuellen Menschen schützt und die menschenwürdige Existenz in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann.
Verfassungsrechtlich ist entscheidend, dass Sozialleistungen fortlaufend realitätsgerecht bemessen werden und damit tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge getragen wird. Der Anspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich dabei nur auf diejenigen Mittel, die zur Aufrechterhaltung eines menschenwürdigen Daseins unbedingt erforderlich sind. Der existenznotwendige Bedarf muss stets gedeckt sein.“
- Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 20. Oktober 2022
- 1 BvR 201/20 –
Indizierung eines Musikalbums aus dem Genre „Gangsta-Rap“ verfassungsgemäß
Die 2. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die Verfassungsbeschwerde von Bushido nicht zur Entscheidung angenommen, der sich gegen die Indizierung eines dem Genre „Gangsta-Rap“ zuzuordnenden Musikalbums aus Jugendschutzgründen wendet. Die Indizierung des Musikalbums verletzt den Beschwerdeführer nicht in seiner Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG.
Die Kammer führte aus, Anhaltspunkte, dass §§ 15, 18 JuSchG verfassungsrechtlichen Bedenken unterliegen könnten, seien der Verfassungsbeschwerde nicht zu entnehmen. Zweifel ergäben sich insbesondere nicht aus dem Argument, aufgrund eines veränderten Musiknutzungsverhaltens über das Internet sei das aktuelle Indizierungsverfahren nicht mehr geeignet, den Jugendschutz umfassend zu gewährleisten. Ebenso sei die Argumentation, das Jugendschutzgesetz müsse als milderes Mittel gegenüber der Indizierung eines gesamten Trägermediums auch die Indizierung nur einzelner Titel vorsehen, nicht tragfähig. Denn für die Verhältnismäßigkeit komme es im Rahmen der Eignung nicht darauf an, ob das vom Gesetzgeber gewählte Mittel am besten geeignet ist, einen umfassenden Jugendschutz zu gewährleisten, sondern lediglich auf die Förderung des legitimen Zwecks des Jugendschutzes durch die Indizierung. Auch an der Erforderlichkeit eines Indizierungsverfahrens, das auf den jugendgefährdenden Gesamtcharakter eines Trägermediums abstellt, bestünden verfassungsrechtlich keine Zweifel. Die angegriffene fachgerichtliche Entscheidung sei verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
- Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 04. November 2022
- 2 BvR 2202/19 –
Namentliche Kennzeichnungspflicht für Polizeivollzugsbedienstete korrekt
Die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat die Verfassungsbeschwerde einer Polizeivollzugsbediensteten nicht zur Entscheidung angenommen, die sich gegen behördliche und verwaltungsgerichtliche Entscheidungen wendet, mit denen ihr Begehren abgelehnt wurde, kein Namensschild an ihrer Dienstkleidung tragen zu müssen. Die Beschwerde sei nicht substantiiert begründet. Eine Verfassungswidrigkeit der Regelungen sei nicht erkennbar.
Entscheidungen des BVerwG
- Der 1. Senat entschied am 11. Oktober in zwei Fällen zum Ausländerrecht:
Urteil vom 11. Oktober 2022 - BVerwG 1 C 9.21 -
Einem nachrangig schutzberechtigten Ausländer darf die Ausstellung eines Reiseausweises nicht mit der Begründung verweigert werden, er könne einen Pass seines Herkunftsstaates auf zumutbare Weise erlangen, wenn dieser die Ausstellung eines Passes an die Unterzeichnung einer "Reueerklärung" knüpft, welche die Selbstbezichtigung einer Straftat verlangt, und er die Erklärung nachvollziehbarerweise nicht abgeben will.
Urteil vom 11. Oktober - BVerwG 1 C 49.21 -
Dem ausländischen Elternteil eines minderjährigen ledigen Deutschen steht nach Aufhebung der familiären Lebensgemeinschaft kein unabhängiges eigenständiges befristetes Aufenthaltsrecht zu. Der Kläger, ein algerischer Staatsangehöriger, war zuletzt mehr als drei Jahre lang im Besitz einer ihm zur Ausübung der Personensorge für seinen seinerzeit noch minderjährigen Sohn erteilten Aufenthaltserlaubnis. Er begehrte erfolglos die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis als eigenständiges Aufenthaltsrecht.
- Zwei weitere des 3. Senats vom 22. November betrafen Maßnahmen zum Schutz vor Corona:
Urteil vom 22.11.2022 - BVerwG 3 CN 2.21 –
Ausgangsbeschränkung nach der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung in der Fassung vom 31. März 2020 war unverhältnismäßig
Die Regelungen der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung vom 27. März 2020 in der Fassung der Änderungsverordnung vom 31. März 2020 (BayIfSMV) über das Verlassen der eigenen Wohnung waren mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht vereinbar. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden. Nach § 4 Abs. 2 BayIfSMV* war das Verlassen der eigenen Wohnung nur bei Vorliegen triftiger Gründe erlaubt. Triftige Gründe waren insbesondere die in Absatz 3 aufgeführten Tätigkeiten, darunter Sport und Bewegung an der frischen Luft, allerdings ausschließlich alleine oder mit Angehörigen des eigenen Hausstandes und ohne jede sonstige Gruppenbildung (§ 4 Abs. 3 Nr. 7 BayIfSMV). Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat auf einen Normenkontrollantrag von zwei Privatpersonen festgestellt, dass § 4 Abs. 2 und 3 BayIfSMV unwirksam war.
Urteil vom 22.11.2002 - BVerwG 3 CN 1.21 -
Kontaktbeschränkungen sowie Schließung von Gastronomiebetrieben und Sportstätten einschließlich Golfplätzen nach der Sächsischen Corona-Schutz-Verordnung vom 17. April 2020 waren rechtmäßig
Die Regelungen der Sächsischen Corona-Schutz-Verordnung vom 17. April 2020 (SächsCoronaSchVO) über die Kontaktbeschränkung für den Aufenthalt im öffentlichen Raum, die Untersagung von Gastronomiebetrieben und die Schließung von Sportstätten einschließlich Golfplätzen waren dahingegen verfassungsgemäß. Sie hatten im Infektionsschutzgesetz eine verfassungsgemäße Rechtsgrundlage und waren verhältnismäßig.