I. Entscheidungen des BVerfG
1. AfD hat keinen Anspruch auf des Amt des Bundestags-Vizepräsidenten
Der 2. Senat (Beschluss vom 22.03.2022, 2 BvE 9/20) verwarf einen Antrag der AfD-Bundestagsfraktion, mit dem diese sich im Wege des Organstreits dagegen wandte, dass keiner ihrer Vorschläge bei der Wahl zur Stellvertreterin oder zum Stellvertreter des Präsidenten des 19. Deutschen Bundestages gewählt worden ist und der Deutsche Bundestag keine prozeduralen Vorkehrungen zum Schutz vor einer Nichtwahl aus sachwidrigen Gründen geschaffen hat. Letztlich sei es freie Entscheidung der Abgeordneten wen sie in diese Ämter wählen.
Wesentliche Erwägungen hierbei waren:
„Die Antragstellerin ist durch die Nichtwahl ihrer Fraktionsmitglieder als Stellvertreter oder Stellvertreterinnen des Bundestagspräsidenten offensichtlich nicht in ihrem Recht auf formal gleiche Mitwirkung an der parlamentarischen Willensbildung aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt.
Die Antragstellerin ist als Fraktion im Deutschen Bundestag ein Zusammenschluss von Abgeordneten, dessen Rechtsstellung – ebenso wie der Status der Abgeordneten – aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG abzuleiten ist. Es gilt der Grundsatz der Gleichbehandlung der Fraktionen. Dementsprechend haben die Fraktionen gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ein Recht auf formal gleiche Mitwirkung an der parlamentarischen Willensbildung. Dieses Recht gilt dem Grundsatz nach auch für den Zugang zum Präsidium des Deutschen Bundestages.
Die Reichweite dieses Mitwirkungsrechts wird jedoch durch die in Art. 40 Abs. 1 Satz 1 GG angeordnete Wahl des Bundestagspräsidenten und seiner Stellvertreter begrenzt. Das Recht zur gleichberechtigten Berücksichtigung einer Fraktion bei der Besetzung des Präsidiums steht insoweit unter dem Vorbehalt der Wahl durch die Abgeordneten und kann daher nur verwirklicht werden, wenn die von dieser Fraktion vorgeschlagenen Kandidaten und Kandidatinnen die erforderliche Mehrheit erreichen.“
2. Vor Erlass einer einstweiligen Verfügung müssen beide Parteien angehört werden – und nicht nur die, die die Verfügung beantragt hat
"Audiatur et altera pars“, d.h. „Man höre auch die andere Seite.“ ist Grundgedanke der Jurisprudenz. Das hat das BVerfG (Beschluss v. 11.01.2022, Az. 1 BvR 123/21) noch einmal betont und erneut ein Fachgericht dahingehend gerügt. Der Senat sah einen „wiederholten Verstoß“ der Fachgerichte gegen das Gebot der Waffengleichheit bei einstweiligen Anordnungen und wies auf die rechtliche Bindungswirkung seiner Entscheidungen hin. Es hatte bereits 2018 Entscheidungen des LG Köln und zweimal des OLG Hamburg gerügt, letzteres hatte nämlich trotz der Entscheidung aus 2018 erneut eine einstweilige Anordnung ohne Anhörung erlassen.
Nun stand ein Fall des LG Berlin im Fokus: hierbei ging es um die Wort- und Bildberichterstattung eines Presseverlags über eine Feierlichkeit während der Corona-Pandemie im September 2020. Auf mehreren Fotos war die prominente Antragstellerin samt Lebensgefährten zu sehen, nach erfolgloser Abmahnung stellte diese beim LG Berlin einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung. Dieses erteilte daraufhin nur ihr einen gerichtlichen Hinweis und gewährte auch nur ihr Gelegenheit zur Stellungnahme. Nach einem erneuten Hinweis und Teilrücknahme des Antrags erließ das LG „wegen Dringlichkeit ohne mündliche Verhandlung“ eine einstweilige Verfügung, die dem Verlag die Wort- und Bildberichterstattung in Teilen untersagte. Der Verlag erfuhr hiervon erst nach Erlass der sie belastenden einstweiligen Verfügung, erst da wurde dem Verlag bekannt, dass ein Verfahren überhaupt anhängig war und das Gericht Hinweise erteilt hatte. Das sei eine „offenkundige“ Verletzung des Rechts auf prozessuale Waffengleichheit (Art. 3 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG), so die Karlsruher Richterinnen und Richter.
II. Entscheidungen des BGH
Keine Corona-Entschädigung über Soforthilfe hinaus
Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs (Urt. v. 17.03.2022, Az. III ZR 79/21) hat über die Frage entschieden, ob der Staat für Einnahmeausfälle haftet, die durch flächendeckende vorübergehende Betriebsschließungen oder Betriebsbeschränkungen auf Grund von staatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus SARS-CoV-2 und der dadurch verursachten COVID-19-Krankheit entstanden sind.
Der Kläger ist Inhaber eines Hotel- und Gastronomiebetriebs. Am 22. März 2020 erließ das beklagte Land Brandenburg eine Corona-Eindämmungsverordnung, wonach Gaststätten für den Publikumsverkehr zu schließen waren und den Betreibern von Beherbergungsstätten untersagt wurde, Personen zu touristischen Zwecken zu beherbergen.
Der Betrieb des Klägers war in dem Zeitraum vom 23. März bis zum 7. April 2020 für den Publikumsverkehr geschlossen, ohne dass die COVID-19-Krankheit zuvor dort aufgetreten war. Der Kläger erkrankte auch nicht. Während der Zeit der Schließung seiner Gaststätte bot er Speisen und Getränke im Außerhausverkauf an. Im Rahmen eines staatlichen Soforthilfeprogramms zahlte die Investitionsbank Brandenburg 60.000 € als Corona-Soforthilfe an ihn aus.
Der Kläger hat geltend gemacht, es sei verfassungsrechtlich geboten, ihn und andere Unternehmer für die durch die Maßnahmen zur Bekämpfung der COVID-19-Pandemie erlittenen Umsatz- und Gewinneinbußen zu entschädigen.
Der BGH wies die Revision des Brandenburger Gastronomen ab. Betroffene des Lockdowns haben keinen Anspruch auf staatliche Entschädigung für Einnahmeausfälle, die über die gezahlten Corona-Hilfen hinausgeht. Gaststätten haben also keinen Anspruch auf individuelle staatliche Entschädigung wegen der Corona-Maßnahmen. Hilfeleistungen für schwer getroffene Wirtschaftszweige seien keine Aufgabe der Staatshaftung, sondern der Gesetzgeber müsse Ausgleichsmaßnahmen treffen, erklärte der BGH. Die konkrete Ausgestaltung sei dem Gesetzgeber überlassen, dieser Verpflichtung sei er durch die Auflage von Hilfsprogrammen nachgekommen.
Der III. Senat führt aus:
„Die Entschädigungsvorschriften des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) gewähren Gewerbetreibenden, die im Rahmen der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie als infektionsschutzrechtliche Nichtstörer durch eine auf § 28 Abs. 1 IfSG gestützte flächendeckende Schutzmaßnahme, insbesondere eine Betriebsschließung oder Betriebsbeschränkung, wirtschaftliche Einbußen erlitten haben, weder in unmittelbarer noch in entsprechender Anwendung einen Anspruch auf Entschädigung. § 56 Abs. 1 IfSG ist von vornherein nicht einschlägig, weil die hier im Verordnungswege nach § 32 IfSG angeordneten Verbote gegenüber einer unbestimmten Vielzahl von Personen ergangen sind und der Kläger nicht gezielt personenbezogen als infektionsschutzrechtlicher Störer in Anspruch genommen wurde. Ein Anspruch auf Zahlung einer Geldentschädigung ergibt sich auch nicht aus § 65 Abs. 1 IfSG. Nach ihrem eindeutigen Wortlaut ist die Vorschrift nur bei Maßnahmen zur Verhütung übertragbarer Krankheiten einschlägig. […] § 65 Abs. 1 IfSG kann auch nicht erweiternd dahingehend ausgelegt werden, dass der Anwendungsbereich der Norm auf Bekämpfungsmaßnahmen, die zugleich eine die Ausbreitung der Krankheit verhütende Wirkung haben, erstreckt wird.
Eine verfassungskonforme Auslegung der beiden Regeln dahingehend, dass auch in der vorliegenden Fallgestaltung eine Entschädigung zu gewähren ist, wie es in einem gestern veröffentlichten Beschluss einer Kammer des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 10. Februar 2022 – 1 BvR 1073/21) kursorisch in Erwägung gezogen wurde, scheidet aus. […] Der Kläger kann den geltend gemachten Entschädigungsanspruch auch nicht auf eine analoge Anwendung von § 56 Abs. 1 oder § 65 Abs. 1 IfSG stützen. Es fehlt bereits an einer planwidrigen Regelungslücke. […] Ansprüche aus dem richterrechtlich entwickelten Haftungsinstitut des enteignenden Eingriffs scheitern daran, dass das den §§ 56, 65 IfSG zugrundeliegende und gesetzgeberisch als abschließend gedachte Konzept einer punktuellen Entschädigung im Bereich der Eigentumseingriffe nicht durch die Gewährung richterrechtlicher Ansprüche unterlaufen werden darf. […] Ebenso wenig kann dem Kläger unter dem rechtlichen Gesichtspunkt der sogenannten ausgleichspflichtigen Inhaltsbestimmung des Eigentums eine Entschädigung zuerkannt werden. […] Hilfeleistungen für von einer Pandemie schwer getroffene Wirtschaftsbereiche sind keine Aufgabe der Staatshaftung. Vielmehr folgt aus dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG), dass die staatliche Gemeinschaft Lasten mitträgt, die aus einem von der Gesamtheit zu tragenden Schicksal entstanden sind und nur zufällig einen bestimmten Personenkreis treffen.“
III. Entscheidungen der Verwaltungsgerichte
Ein Zimmer in einer Flüchtlingsunterkunft ist eine „Wohnung“ i.S.v. Art. 13 GG
Das Zimmer in der Unterkunft ist für Flüchtlinge der einzige Raum, in dem sie eine Privatsphäre haben können. Für den VGH Baden-Württemberg (Urt. v. 02.02.2022, Az. 12 S 4089/20) fallen diese Räume daher in den nach Art. 13 GG geschützten Bereich der Wohnung. Die Eröffnung des Schutzbereichs bzw. die Frage der Einwilligung war bei „Massenunterkünften“ immer umstritten.
Der 12. Senat des VGH in Mannheim hat diese Frage nun – zumindest für Baden-Württemberg – entschieden: Zimmer der Bewohner und Bewohnerinnen, in denen sich zugleich ihre Schlafstätte befinde, seien eine Wohnung i.S.d Art. 13 Abs. 1 GG. Der Begriff sei aufgrund des „engen Zusammenhangs mit der Menschenwürdegarantie“ weit auszulegen. Darunter fielen „alle privaten Wohnzwecken gewidmete Räumlichkeiten, in denen der Mensch das Recht hat, in Ruhe gelassen zu werden“.
Das gelte auch dann, wenn ein Mensch sich den Raum wie in der Erstaufnahmeeinrichtung in Freiburg mit anderen, unbekannten Personen teilen muss; es sie die einzige Möglichkeit eine gewisse Privatsphäre zu schaffen und ungestört zu sein. Der VGH betonte, dass seine Bewertung sich mit der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) decke. Das BVerfG stelle bei der Annahme einer Wohnung nicht mehr darauf ab, ob ein entgegenstehendes Hausrecht bestehe (BVerfG, Beschl. v. 09.08.2019, Az. 2 BvR 1684/18). Ein Betretungsrecht sei zwar vorstellbar, jedoch sei eine gesetzliche Grundlage notwendig (und in Baden-Württemberg nicht gegeben) wobei die Gefahrenschwelle durchaus unterhalb Art. 13 Abs. 7 liegen könne.