A. Der Strengbeweis
In der Hauptverhandlung geht es um die Schuld- und Rechtsfolgenfrage, die gem. § 261 StPO zur Überzeugung des Gerichts beantwortet werden muss und deren Beantwortung schließlich in ein den Angeklagten verurteilendes oder freisprechendes Urteil mündet.
Die Schuld- und Rechtsfolgenfrage muss im Wege des Strengbeweises geklärt werden. Zu den Strengbeweismitteln gehören die Einlassung des Angeklagten, die Aussagen der Zeugen, die Gutachten der Sachverständigen, die Urkunden und der Augenschein. Eines Strengbeweises bedarf es nicht bei allgemeinkundigen Tatsachen, also solchen, die aus allgemein zugänglichen Quellen erfahren werden können.
In einem Verfahren wegen unerlaubtem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln hatte nun das LG Bremen Mittelwerte zum Wirkstoffgehalt der Betäubungsmittel aus einer allgemein zugänglichen polizeilichen Statistik entnommen. Diese Vorgehensweise hat nun der BGH (5 StR 47/23, NStZ 2023, 637) beanstandet, weil das LG die Statistik „zum Gegenstand der HV“ gemacht hat und diese damit nicht als offenkundig betrachtet hat. Der BGH führte folgendes aus:
„Nach dem Revisionsvortrag des Beschwerdeführers wurde die Statistik weder durch Verlesung nach § 249 Abs. 1 StPO oder einen Inhaltsbericht der Vorsitzenden (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 10. Dezember 1980 – 3 StR 410/80, BGHSt 30, 10) noch im Wege des Selbstleseverfahrens nach § 249 Abs. 2 StPO oder der Vernehmung eines Zeugen oder Sachverständigen zum Gegenstand der Hauptverhandlung gemacht. .... Das Landgericht hat die in der polizeilichen Statistik erfassten Mittelwerte zum Wirkstoffgehalt von Betäubungsmitteln daher zu Unrecht zum Nachteil des Angeklagten verwertet. Denn das Tatgericht darf seiner Entscheidung über die Schuld- und Straffrage nach § 261 StPO nur die Erkenntnisse zugrunde legen, die es in der Hauptverhandlung nach den Regeln des Strengbeweises gewonnen hat....... Zwar ist es nicht grundsätzlich ausgeschlossen, außerhalb der Hauptverhandlung erlangtes Wissen ohne förmliche Beweiserhebung als offenkundige – also gerichts- oder allgemeinkundige – Tatsachen zu ...... Aus dem mit der dienstlichen Erklärung nicht in Abrede gestellten Revisionsvortrag und den vom Senat von Amts wegen zur Kenntnis zu nehmenden Urteilsgründen ergibt sich aber, dass das Landgericht die polizeiliche Statistik als „zum Gegenstand der Hauptverhandlung“ gemacht und die darin aufgelisteten Wirkstoffgehaltmittelwerte mithin gerade nicht als offenkundig behandelt hat.“
B. Die tatbestandliche Handlungseinheit (=rechtliche Bewertungseinheit)
Nimmt ein Täter mehrere Handlungen zur Erreichung desselben Ziels vor, dann sollten Sie nicht vorschnell 2 Taten annehmen, die dann zueinander in Konkurrenz zu setzen sind. Denkbar ist auch, dass eine tatbestandliche Handlungseinheit (=rechtliche Bewertungseinheit) vorliegt, bei welcher die Handlungen bereits auf Ebene des Tatbestands zusammengefasst werden.
Zu unterscheiden sind die iterative von der sukzessiven Handlungseinheit. Eine iterative Handlungseinheit liegt vor, wenn ein Täter in ein Autohaus eindringt und 3 Elektro-Minis stiehlt. Bei durchgängigem Diebstahlsvorsatz liegt nur ein Diebstahl an 3 Autos vor, auch wenn der Täter 3 Handlungen ausführen musste (iterative Handlungseinheit). Verpasst der Täter seinem Opfer nacheinander 4 Ohrfeigen, liegt ebenfalls nur eine Körperverletzung vor (sukzessive Handlungseinheit).
Eine sukzessive Handlungseinheit kann auch angenommen werden, wenn zwischen den einzelnen Handlungen mehrere Monate liegen. Dazu folgender, einer BGH-Entscheidung (2 StR 167/23, NStZ 2023, 679) zugrunde liegender Sachverhalt:
A versuchte Ende 2020 von P Schulden aus einem Drogengeschäft einzutreiben, indem er ihm Schläge ins Gesicht versetzte. Im März 2023 versuchte er es erneut, indem er ihn unter einem Vorwand in ein Fahrzeug lockte, in an einen entlegenen Ort brachte und dort erneut schlug und eine echt aussehende Waffe vorhielt. P weigerte sich und drohte nun A unter Verweis auf seine „mächtige“ Familie. Der BGH nah nur eine versuchte schwere räuberische Erpressung an und folgte den Ausführungen der GBA:
„Mehrere natürliche Handlungen können als eine Tat im Rechtssinne anzusehen sein (sog. rechtliche Bewertungseinheit), wenn sie sich als Teilakte einer sukzessiven Tatausführung darstellen. Für den Straftatbestand der Erpressung ist insoweit anerkannt, dass mehrere Angriffe auf die Willensentschließung des Opfers als eine Tat im Rechtssinne zu werten sind, wenn dabei die anfängliche Drohung lediglich den Umständen angepasst und aktualisiert wird, im Übrigen aber nach wie vor dieselbe Leistung gefordert wird. Dabei stellen ein Wechsel des Angriffsmittels, räumliche Trennungen oder zeitliche Intervalle zwischen den jeweiligen Einzelakten die Annahme einer rechtlichen Bewertungseinheit nicht grundsätzlich in Frage. Diese endet erst dann, wenn der Täter sein Ziel vollständig erreicht hat oder wenn nach den insoweit entsprechend heranzuziehenden Wertungen des Rücktrittsrechts von einem fehlgeschlagenen Versuch auszugehen ist.
Nach diesen Maßstäben besteht zwischen der versuchten räuberischen Erpressung im Fall 4 und der versuchten schweren räuberischen Erpressung im Fall 5 eine rechtliche Bewertungseinheit, weil es sich hierbei um zwei Teilakte einer sukzessiven Tatausführung zur Erreichung eines einheitlichen Erfolges handelt. In beiden Fällen ging es dem Angeklagten um die Bezahlung derselben, aus Betäubungsmittelgeschäften stammenden Geldforderung, die er mehrmals um „Strafzinsen“ erhöhte. Aus seiner Sicht stellte sich der zweite Erpressungsversuch dabei nicht als vollständig neuer Anlauf zur Erreichung des angestrebten Erfolges, sondern als eine Fortführung des ursprünglichen Tatgeschehens dar. Dem steht nicht entgegen, dass zwischenzeitlich mehrere Monate vergingen, in denen der Geschädigte P. – entgegen der ihm während des ersten Teilakts abgenötigten Zusage – keine Zahlungen an den Angeklagten leistete und dessen Kontaktversuche ignorierte (vgl. UA S. 16 f.). Der Angeklagte ging nämlich weiter davon aus, seine – nun nochmals erhöhte – Forderung immer noch durchsetzen zu können, wobei sein modifizierter Tatplan nunmehr den Einsatz erheblicher Gewalt vorsah (UA S. 17, 23 f.). Beendet war die rechtliche Bewertungseinheit erst, als der Erpressungsversuch im Verlauf des zweiten Teilaktes endgültig fehlschlug.“
C. Die stabile Bemächtigungslage bei § 239a StGB
In einem Zwei-Personen Verhältnis muss § 239a StGB nach allgemeiner Auffassung restriktiv ausgelegt werden, damit nicht bei jeder räuberischen Erpressung zugleich auch § 239a StGB mit seinem erhöhten Strafrahmen verwirklicht ist.
Wann eine solche stabile Bemächtigungslage gegeben ist, kann im Einzelfall schwer zu beurteilen sein. Sie ist jedenfalls ausgeschlossen, wenn die Bemächtigungshandlung zugleich die Erpressungshandlung ist. In einem vom BGH (4 StR 515/22, NStZ 2023, 677) zu entscheidenden Fall hatte der Täter das Opfer gefesselt und aufgefordert, ihm das Versteck des Tresorschlüssels zu verraten. Dieser Bitte kam das Opfer aus Angst um sein Leben nach. Allerdings konnte der Tresor mit dem ausgehändigten Schlüssel nicht geöffnet werden. Eine Strafbarkeit gem. §§ 239a, 22, 23 StGB hat der BGH mit folgender Begründung verneint:
„Die Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten erpresserischen Menschenraubes wird von den Feststellungen nicht getragen. In einem Zwei-Personen-Verhältnis setzt der Tatbestand des § 239a Abs. 1 StGB voraus, dass der Täter die physische Herrschaftsgewalt über das Tatopfer gewonnen und dadurch eine stabile Bemächtigungslage geschaffen hat, welche er für eine Erpressung ausnutzt oder ausnutzen will. Dabei muss der stabilisierten Bemächtigungslage mit Blick auf die erstrebte Erpressung eine eigenständige Bedeutung zukommen, indem sich aus ihr eine Drucksituation für das Tatopfer ergibt, die über die in jeder mit Gewalt oder Drohungen verbundenen Nötigungshandlung liegende Beherrschungssituation hinausgeht. An dem erforderlichen funktionalen Zusammenhang fehlt es, wenn sich der Täter des Opfers durch Nötigungsmittel bemächtigt, die zugleich unmittelbar der beabsichtigten Erpressung dienen, wenn also Bemächtigungs- und Nötigungsmittel zusammenfallen.
Nach diesem Maßstab hatte der Angeklagte einen Tatentschluss zwar in Bezug auf den vom Landgericht angenommenen schweren Raub (§ 249, § 250 Abs. 1 Nr. 1 b) StGB), nicht aber auch hinsichtlich eines versuchten erpresserischen Menschenraubs gefasst, denn nach den Feststellungen sollte die Fesselung – ebenso wie die im Begleiten der Geschädigten liegende konkludente Androhung weiterer körperlicher Gewalt – der Ermöglichung der Wegnahme, mithin als Nötigungsmittel des Raubes, dienen.“