A. Die heimtückische Tötung und der Bezugszeitpunkt
In § 211 StGB gehört die Heimtücke zu den tatbezogenen Mordmerkmalen der 2. Gruppe. Nach der allgemein üblichen Definition handelt heimtückisch, wer in feindseliger Willensrichtung die Arg- und dadurch bedingte Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tötung ausnutzt (BGH NStZ 2023, 545).
Arglos ist ein Opfer, das sich keines Angriffs gegen seine körperliche Unversehrtheit versieht. Die Arglosigkeit führt zur Wehrlosigkeit, wenn das Opfer aufgrund der Überraschung durch den Täter in seinen Abwehrmöglichkeiten so erheblich eingeschränkt ist, dass ihm die Möglichkeit genommen wird, dem Angriff auf sein Leben erfolgreich zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren. Das ist insbesondere dann der Fall, wenn das Opfer daran gehindert ist, sich zu verteidigen oder zu fliehen (BGH NStZ 2023, 545):
Da tödlichen Angriffen häufig eine Auseinandersetzung zwischen Täter und Opfer vorausgeht, stellt sich die Frage, auf welchen Zeitpunkt bei der Beurteilung abzustellen ist. Damit musste sich der BGH (2 StR 320/22 – abgedruckt in NStZ 2023, 545) bei folgendem Sachverhalt auseinandersetzen:
Zwischen dem Angeklagten und dem Opfer O bestand seit Monaten eine durch Streitigkeiten und seitens des Angeklagten ausgeübte körperliche Gewalt und Bedrohung geprägte, außereheliche Beziehung. Am Tattag holte der Angeklagte holte der Angeklagte zunächst seine Waffe aus dem Keller des Familienanwesens und fuhr zusammen mit O nach einem Zwischenstopp an einer Tankstelle an einen entlegenen Ort, wo er dann 2 tödliche Schüsse auf O abgab. Ob er O während der Fahrt bereits mit der Waffe bedroht hatte, konnte nicht hinreichend geklärt werden. Möglich ist auch, dass O aufgrund der Vorgeschichte noch vor Abgabe der Schüsse mit einem Angriff auf ihre körperliche Unversehrtheit rechnete, aber ggfs. nicht mehr fliehen konnte. Der BGH hat ausgeführt, dass es nicht unbedingt auf den Zeitpunkt der Abgabe des Schusses bei der Beurteilung der Arglosigkeit ankomme, sondern auch frühere Zeitpunkte maßgeblich sein können.
„Maßgeblicher Zeitpunkt für das Vorliegen der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers ist grundsätzlich der Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs. Anders als vom Landgericht angenommen beginnt der Angriff aber nicht erst mit der eigentlichen Tötungshandlung, hier der Schussabgabe, sondern umfasst auch die unmittelbar davor liegende Phase. Ebensowenig erfordert heimtückisches Handeln ein heimliches Vorgehen. So kann ein Opfer auch dann arglos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig gegenübertritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff so kurz ist, dass dem Opfer keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff irgendwie zu begegnen....) Ein heimtückisches Vorgehen kann zudem auch in Vorkehrungen liegen, die der Täter ergreift, um eine günstige Gelegenheit zur Tötung zu schaffen, sofern diese bei der Tat noch fortwirken. Das ist etwa der Fall, wenn der Täter sein Opfer noch im Vorbereitungsstadium unter Ausnutzung von dessen Arglosigkeit in eine Lage aufgehobener oder stark eingeschränkter Abwehrmöglichkeit bringt und die so geschaffene Lage bis zur Tatausführung ununterbrochen fortbesteht. Ob das Opfer zu Beginn des Tötungsangriffs noch arglos war, ist in dieser Sachverhaltskonstellation ohne Bedeutung...“
In dem Besorgen der Waffe und dem Verbringen an den Tatort kann damit der Beginn des Angriffs liegen, so dass auf die Arglosigkeit des Opfers zu diesem Zeitpunkt abzustellen ist.
B. Die zu verdeckende „andere“ Straftat
Bei der Verdeckungsabsicht handelt es sich um ein täterbezogenes Mordmerkmal der 3. Gruppe.
Hinweis
Ob dieses Merkmal strafbegründend oder strafschärfend ist, ist streitig und hängt davon ab, ob der Mord als eigenständiges Delikt angesehen wird (so der BGH) oder als Qualifikation zum Totschlag (so die h.Lit.) Relevant ist diese Einordnung für § 28 StGB. IN der JURACADEMY haben wir im Kurs SR AT II und SR BT I viele Videos und Lernfragen zu diesem Thema.
Bei der vorsätzlichen Tötung eines anderen muss der Täter zugleich die Absicht (dol.dir. 1. Grades) haben, eine andere Straftat zu verdecken. Diese Straftat muss nicht die eigene sein, sie muss noch nicht einmal begangen worden sein, denn Absicht bedeutet, dass es nur auf die Vorstellung des Täters ankommt. Wichtig ist jedoch, dass es sich um eine „andere“ Straftat handelt. Das Tatbestandsmerkmal bereitet keine Probleme, wenn die Straftat z.B. ein Eigentums- oder Vermögensdelikt ist. Schwieriger wird es, wenn sich die andere Tat bereits gegen die körperliche Integrität des Opfers richtete. Nach h.M. auch der des BGH ist eine Körperverletzung aber als andere Tat anzusehen. Die Zäsur, die die Körperverletzung von der nachfolgenden Tötung abgrenzt, besteht im Vorsatzwechsel.
Mit folgendem Sachverhalt musste der BGH (2 StR 462/21 – abgedruckt in NStZ 2023, 600) sich in diesem Kontext befassen:
Die Angeklagte F gebar an 2014 ihre Tochter A, zu der sie aber von Beginn an keine Beziehung aufbauen konnte. Ab dem 2. Lebensjahr kümmerte sie sich immer weniger um das Kind. Sie versorgte es kaum, ließ es stundenlang im Bett in einem abgedunkelten Raum liegen und ließ ihm auch sonst keine Fürsorge zukommen. Die durch die Unterversorgung und Vernachlässigung entstehenden Schäden nahm sie billigend in Kauf. Nachdem sie 2019 eine neue Beziehung einging und auch weitere Kinder bekam, kümmerte sie sich noch weniger um A, die gegen jede Wahrscheinlichkeit noch lebte, aber in ihrer Entwicklung stark zurückgeblieben war. Spätestens ab dem 01.08.2020 evtl. aber auch schon erheblich früher erkannte die Angeklagte den lebensbedrohlichen Zustand der A. Gleichwohl unterließ sie jede ärztliche Versorgung aus Angst, man könne ihr die anderen Kinder wegnehmen. Den Tod der A nahm sie billigend in Kauf. Schließlich intervenierte der Kindergarten und schaltete das Jugendamt ein. A kam nach ärztlicher Versorgung in ein heilpädagogisches Heim.
Das LG Köln verurteilte A wegen versuchtem Mord in Verdeckungsabsicht durch Unterlassen gem. §§ 211, 212, 22, 13 StGB tateinheitlich mit Misshandlung von Schutzbefohlenen gem. § 225 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 Nr. 1 StGB.
Der BGH äußerte Zweifel, ob die Verdeckungsabsicht bejaht werden könne, da es auch denkbar sei, dass der Tötungsvorsatz bereits früher gefasst worden sei, so dass das spätere Unterlassen der medizinischen Versorgung nur die Fortsetzung der bereits begonnen Tat wäre. Im Einzelnen führt er dazu folgendes aus:
„Der Annahme eines Verdeckungsmordes steht grundsätzlich nicht entgegen, dass sich bereits die zu verdeckende Vortat gegen Leib und Leben des Opfers richtet …. oder die Tat mit bedingtem Vorsatz und durch Unterlassen begangen wurde … Auch kann für eine Absicht der Eltern, die vorangehende Misshandlung Schutzbefohlener durch den Tod des Opfers zu verdecken, und damit für das Vorliegen des Mordmerkmals der Verdeckungsabsicht sprechen, dass sie – wie hier – niemanden mehr zu dem Kind ließen, weil sie die lebensbedrohliche Verschlechterung des Zustandes des Kindes bemerkten und weil sie die Einschaltung des Jugendamtes fürchteten, und dass sie Dritten gegenüber wahrheitswidrige Angaben zum Gesundheitszustand des Kindes machten …
Um eine zu verdeckende „andere Straftat“ (§ 211 Abs. 2 StGB) handelt es sich jedoch dann nicht, wenn der Täter nur diejenige Tat verdecken will, die er gerade begeht. Handelte der Täter bereits von Anfang an mit (bedingtem) Tötungsvorsatz, ist für die Annahme eines Verdeckungsmordes kein Raum … . Es fehlt folglich an einer für das Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht erforderlichen „anderen“ Straftat, wenn der Täter das Tatopfer zunächst mit (bedingtem) Tötungsvorsatz misshandelt und es anschließend unterlässt, zur Verdeckung dieses Geschehens Maßnahmen zur Rettung des überlebenden Opfers einzuleiten; ist diese Möglichkeit nicht auszuschließen, muss sie wegen des Zweifelsgrundsatzes gegebenenfalls zugunsten des Angeklagten angenommen werden.“
Hinweis
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C. Aussetzung mit Todesfolge
Die Aussetzung gem. § 221 StGB beinhaltet im ersten Absatz 2 unterschiedliche Tatbestandsalternativen: das Versetzen in einen hilflosen Zustand (welches auch durch Unterlassen gem. § 13 StGB begangen werden kann) und das Im-Stich-lassen des Opfers in einem hilflosen Zustand, welches nach h.M. ein echtes Unterlassungsdelikt ist und nur von dem Täter begangen werden kann, der gegenüber dem Opfer eine Obhuts- und Beistandspflicht hat. Hier sind die Grundsätze zur Garantenstellung- und -pflicht heranzuziehen.
Die 2. Alternative ist insbesondere immer im Lichte eines anderen echten Unterlassungsdelikts zu betrachten, nämlich der unterlassenen Hilfeleistung gem. § 323c StGB. Wenn Sie sich einmal die Strafandrohung ansehen, werden Sie feststellen, dass es hier beträchtliche Unterschiede gibt. Vor dem Hintergrund dieses Spannungsfelds muss der nachfolgende Sachverhalt betrachtet werden, mit dem sich der BGH (6 StR 47/22 – abgedruckt in NStZ 2023, 98) befassen musste:
G, Gr und Mo fuhren am Abend zusammen mit dem späteren Opfer O in eine Bar. Während G, der sich als Fahrer zur Verfügung gestellt hatte, sich nach kurzer Zeit von der Gruppe trennte, tranken die anderen 3 erhebliche Mengen Alkohol, wobei O so viel trank, dass er die Kontrolle über seine Motorik verlor. Beim Verlassen der Bar musste O, der völlig hilflos und zu keiner Risikoabwägung mehr fähig war, von den ebenfalls alkoholisierten aber noch steuerungsfähigen Dr und Mo gestützt werden um zum Parkhaus zu gelangen. Den anderen Gästen der Bar war der desolate Zustand des O ebenfalls aufgefallen, sie sahen aber auch, dass Gr und Mo sich um O kümmerten. G hielt sich während er ganzen Zeit im Hintergrund. Am Parkhaus angekommen, entfernte sich O, während alle eine kurze Zeit dort verweilten, unbemerkt von der Gruppe. Er stürzte hinter dem Parkhaus eine Böschung hinunter und bleib bäuchlings am Ufer eines Kanals liegen. Während G oben bliebt, stiegen Gr und Mo zu O hinab, der kaum in der Lage war, den Kopf zu heben und den anderen zu verstehen gab, dass es ihm nicht gut gehe. Obwohl allen bewusst war, dass sich o Nicht selber würde helfen können, unternahmen sie über mehrere Minuten hinweg nichts bis schließlich O bei dem Versuch, sich aufzurichten in den Kanal kippte, wo er einige Zeit später ertrank. Ein Tötungsvorsatz konnte den Angeklagten nicht nachgewiesen werden.
Das LG Weiden i.d.Opf. hat die Angeklagten Gr und MO wegen Aussetzung mit Todesfolge gem. § 221 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 StGB (zu erwartende Strafe nicht unter 3 Jahren, es sei denn es liegt ein minder schwerer Fall gem. Abs. 4 vor) und den Angeklagten G nur wegen unterlassener Hilfeleistung gem. § 323c StGB (maximal zu erwartenden Strafe 1 Jahr) verurteilt.
Der BGH hat das Urteil bestätigt.
Bei Gr und Mo hat er die Obhuts- und Beistandspflicht (=Garantenstellung) bejaht, bei G hingegen verneint. Er hat dazu folgendes ausgeführt:
„Es sind die Grundsätze heranzuziehen, die für die Entstehung der Garantenstellung im Bereich der unechten Unterlassungsdelikte gelten … Hilfspflichten wie diejenigen aus § 323c Abs. 1 StGB, die jedermann treffen, reichen zur Begründung einer Beistandspflicht nach § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht aus … Sie folgt auch nicht allein daraus, dass einem Verunglückten oder sonst Hilfsbedürftigen Beistand geleistet wird, sondern entsteht erst dann, wenn der Helfende die Situation für den Hilfsbedürftigen wesentlich verändert, namentlich andere, nicht notwendigerweise sichere Rettungsmöglichkeiten ausschließt oder vorher jedenfalls nicht in diesem Maße bestehende Gefahren schafft.“
Hinweis
Der BGH stellt also auf die Garantenstellung als Beschützergarant aus tatsächlicher Übernahme ab. Insbesondere bei dieser Garantenstellung ist im Hinblick auf § 323c StGB problematisch, inwieweit der Garant, der sich dankenswerterweise des Opfers angenommen hat, Hilfe leisten muss. Hier geht die gefestigte Rechtsprechung den Weg, den auch der BGH vorliegend skizziert: Der Garant muss , sobald er aber die Situation für den Hilfebedürftigen zunächst „nachteilig“ verändert, die bestmögliche Hilfe leisten.
„So verhält es sich hier. Nach den rechtsfehlerfreien Feststellungen halfen die Angeklagten Gr. und Mo. dem „höchstgradig intoxikierten“ Geschädigten nicht nur beim Ankleiden, Treppensteigen und Gehen. Indem sie ihn aus dem Lokal führten und stützend zum Parkhaus begleiteten, entfernten sie ihn zugleich aus dem Einflussbereich des Wirtes und weiterer Gäste, die bereits auf seinen hilflosen Zustand aufmerksam geworden waren, sich aufgrund der erkennbaren Unterstützung jedoch nicht zu eigenen Hilfestellungen veranlasst sahen. Hierdurch erhöhten sich die dem Geschädigten außerhalb der Bar drohenden Gefahren wesentlich.“
Als O dann die Böschung herunterfiel, ließen sie ihn in dieser Lage im Stich. Aus dieser Situation erwuchs dann auch die Todesgefahr, die sich nachfolgend fahrlässig verwirklichte.
Fraglich ist jedoch, ob nicht dadurch, dass O sich von der Gruppe entfernte, die Pflicht entfallen war. Das hat der BGH zu Recht verneint:
„Die Pflicht entfiel – anders als die Revision meint – nicht, als der Geschädigte sich am Parkhaus von der Gruppe entfernte. Zwar können die Pflichten einer aus tatsächlicher Übernahme resultierenden Garantenstellung grundsätzlich aufgekündigt oder widerrufen werden. Die Beistandspflicht erlischt aber erst, wenn der auf den Schutz Vertrauende anderweitig eine Gefahrenvorsorge treffen kann, … sich nicht mehr in hilfloser Lage befindet … oder die Hilfe erkennbar nicht mehr will … was hier jeweils nicht der Fall war. Denn nach der rechtsfehlerfrei gewonnenen Überzeugung des Landgerichts befand sich der Geschädigte aufgrund seiner erheblichen Intoxikation im Moment des Verlassens der Gruppe in einem Zustand, der erkennbar ein eigenverantwortliches Handeln ausschloss.“
Eine Garantestellung für G hat der BGH hingegen verneint. Aufgrund des Umstands, dass er sich im Hintergrund hielt, konnte das Gericht keine Umstände erkennen, die eine tatsächliche Übernahme des Schutzes des O begründen können. Die Aufgabe des G bestand lediglich in einer freundschaftlichen Zusage eines Fahrdienstes. Auch eine Beschützergarantenstellung aufgrund einer Gefahrgemeinschaft hat der BGH verneint. Er führt folgendes aus:
„Zwar bildeten die Angeklagten und der Geschädigte aufgrund ihres gemeinsamen Ausflugs eine Gemeinschaft. Die bloße Zugehörigkeit zu einer solchen begründet aber noch keine gegenseitigen Hilfspflichten. Diese entstehen erst mit einer erkennbaren Übernahme einer besonderen Schutzfunktion gegenüber Hilfsbedürftigen aus dieser Gruppe in bestimmten Gefahrenlagen… Dies ist bei losen Zusammenschlüssen etwa zum gemeinsamen Konsum von Alkohol oder Drogen … bei Wohngemeinschaften … bei Fahrgemeinschaften … und bei Personen, die sich lediglich zufällig in derselben Gefahrensituation befinden … regelmäßig nicht der Fall.“