Das Strafprozessrecht ist im 1. Staatsexamen wenig beliebt, sollte aber in seinen wesentlichen Grundzügen beherrscht werden, um die häufig in Examensklausuren anzutreffende „Zusatzfrage“ beantworten zu können.
Expertentipp
Sofern für die Beantwortung der Zusatzfrage die Frage nach der Strafbarkeit des Täters irrelevant ist, sollten Sie zu Beginn direkt damit beginnen, die Zusatzfrage zu beantworten, so Sie sie denn beantworten können. Das hat den positiven Effekt, dass die Prüferinnen und Prüfer am Ende Ihrer Klausur noch einmal einen perfekten Eindruck von Ihren Leistungen bekommen – ein nicht zu unterschätzender psychologischer Faktor.
Wir werden uns nachfolgend mit 3 BGH-Entscheidungen befassen zu den Themen Verfahrenshindernisse und Verfahrensprinzipien
A. Verfahrenshindernisse
Verfahrenshindernisse sind in jedem Verfahrensabschnitt von Amts wegen zu beachten. Liegen Sie vor, dann muss das Verfahren gegen den Beschuldigten / Angeschuldigten / Angeklagten (§ 157 StPO) eingestellt werden. Im Ermittlungsverfahren geschieht das über § 170 Abs. 2 StPO, im Zwischenverfahren wird die Eröffnung der Hauptverhandlung gem. § 204 StPO abgelehnt, im Hauptverfahren außerhalb der Hauptverhandlung wird gem. § 206a StPO eingestellt und in der Hauptverhandlung wird gem. § 260 Abs. 3 StPO eingestellt.
I. Strafklageverbrauch
Aus Art. 103 Abs. 3 GG ergibt sich, dass niemand wegen derselben Tat mehrfach bestraft werden darf (ne bis in idem).
Um herauszufinden, ob sich eine erneute Anklage auf dieselbe Tat oder aber auf eine andere Tat erstreckt, muss zunächst einmal die prozessuale Tat bestimmt werden. Der BGH (2 StR 458/20, NStZ 2023, 252) definiert den Begriff wie folgt:
„Der Begriff der Tat im Sinne des Art. 103 Abs. 3 GG, § 264 Abs. 1 StPO bestimmt sich nach dem von der zugelassenen Anklage umschriebenen geschichtlichen Vorgang, innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll. Sie erstreckt sich auf das gesamte Verhalten des Täters, das nach natürlicher Auffassung ein mit diesem geschichtlichen Vorgang einheitliches Geschehen bildet.“
Im zu entscheidenden Fall war der Angeklagte vom AG Kassel bereits rechtskräftig verurteilt wegen Körperverletzung in Tateinheit mit Bedrohung, weil er am Vormittag des 21.06.2018 seine getrennt von ihm lebende Ehefrau an der Türe überrascht, sie in die Wohnung gedrängt und schmerzhaft am Arm festgehalten hatte. Nachfolgend hatte er ein Messer gezückt und es auf E mit der Drohung, sie umzubringen gerichtet.
In einem neuen Verfahren vor dem LG Kassen war der Angeklagte nunmehr wegen schwerer Vergewaltigung angeklagt, die sich nach dem soeben geschilderten Vorfall am selben Vormittag ereignet hatte. Nachdem sich die Situation zwischen A und E zunächst beruhigt hatte und es zu einem Gespräch über die gemeinsame Zukunft gekommen war, eskalierte es dann jedoch wieder, nachdem E es abgelehnt hatte, mit A einverständlichen Geschlechtsverkehr zu haben. A drängte E daraufhin ins Schlafzimmer und vergewaltigte sie.
Nach Auffassung des BGH liegt eine prozessuale Tat vor, weswegen einer Verurteilung des A der Strafklageverbrauch entgegensteht. Der BGH führt dazu aus:
Die Taten…„stehen in einem unmittelbaren räumlichen, zeitlichen und personellen Zusammenhang. Daran ändert im Übrigen auch der Umstand nichts, dass mit der zwischenzeitlichen Beruhigung der Situation ein gewisser zeitlicher Abstand zwischen den strafrechtlich relevanten Übergriffen des Angekl. gegeben ist. Denn Bedrohung und Vergewaltigung sind innerlich dadurch miteinander verknüpft, dass die vorangegangene Bedrohung mit dem Messer auch bei der folgenden Vergewaltigung fortwirkte. Wie das LG ausdrücklich feststellte, entschied sich die Ehefrau des Angekl., „unter dem Eindruck der vorangegangenen Bedrohung mit dem Messer und dem Umstand, dass der Angekl. das Küchenmesser in der Hosentasche bei sich hatte“, dem Ansinnen des Angekl. (nach Geschlechtsverkehr) keinen Widerstand mehr entgegenzusetzen. Insbesondere auch mit Blick darauf stellt sich das gesamte Verhalten des Angekl. vom Eindringen in die Wohnung bis zur Vergewaltigung als ein in sich geschlossenes, zusammengehöriges Geschehen dar, dessen getrennte Würdigung und Aburteilung als unnatürliche Aufspaltung eines einheitlichen Lebensvorgangs empfunden würde.“
II. Rechtsstaatswidrige Tatprovokation
Lange Zeit war eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation nach Auffassung des BGH kein Verfahrenshindernis. Sofern verdeckte Ermittler die Begehung einer Straftat anregten und bei der Umsetzung mithalfen, wurde das zumeist bei der Vollstreckung der im Urteil verhängten Strafe berücksichtigt, indem ein Teil der verhängten Strafe als vollstreckt galt („Vollstreckungslösung“).
Nach einer Entscheidung des EuGH jedoch musste der BGH diese Praxis ändern. Mit seiner neuesten Entscheidung (1 StR 107/21, NStZ 2023, 243) legt er nun noch einmal die grundlegenden Prinzipien dar:
„Eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation begründet ein Verfahrenshindernis.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist das Gebot des fairen Verfahrens gemäß Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 6 Abs. 1 EMRK durch eine polizeiliche Tatprovokation verletzt, wenn eine unverdächtige und zunächst nicht tatgeneigte Person durch einen Amtsträger oder eine von diesem geführte Vertrauensperson in einer dem Staat zurechenbaren Weise zu einer Straftat verleitet wird und dies zu einem Strafverfahren führt. Eine rechtsstaatswidrige Tatprovokation begründet ein Verfahrenshindernis.
Ein in diesem Sinne tatprovozierendes Verhalten ist anzunehmen, wenn ein Verdeckter Ermittler oder eine polizeiliche Vertrauensperson mit dem Ziel, eine Tatbereitschaft zu wecken oder die Tatplanung zu intensivieren, über das bloße „Mitmachen“ hinaus mit einiger Erheblichkeit stimulierend auf den Täter einwirkt. Auch bei bereits bestehendem Anfangsverdacht kann die Rechtsstaatswidrigkeit einer Tatprovokation dadurch begründet sein, dass die Einwirkung im Verhältnis zum Anfangsverdacht „unvertretbar übergewichtig“ ist.
Bei der Differenzierung zwischen einer rechtmäßigen Infiltrierung durch eine Ermittlungsperson und der (konventionswidrigen) Provokation einer Straftat ist weiterhin maßgeblich, ob auf den Angeklagten Druck ausgeübt wurde, die Straftat zu begehen. Dabei ist unter anderem darauf abzustellen, ob die Ermittlungsperson von sich aus Kontakt zu dem Täter aufgenommen, ihr Angebot trotz anfänglicher Ablehnung erneuert oder den Täter mit den Marktwert übersteigenden Preisen geködert hat.
Eine Straftat kann auch dann auf einer rechtsstaatswidrigen Tatprovokation beruhen, wenn sich der Täter aufgrund der Einwirkung des Verdeckten Ermittlers auf die ihm angesonnene Intensivierung der Tatplanung einlässt oder hierdurch seine Bereitschaft wecken lässt, eine Tat mit einem erheblich höheren Unrechtsgehalt zu begehen. In einem solchen Fall kommt es darauf an, ob der Täter auf die ihm angesonnene Intensivierung der Tatplanung ohne Weiteres eingeht, beziehungsweise sich geneigt zeigt, die Tat mit dem höheren Unrechtsgehalt zu begehen oder an ihr mitzuwirken. Geht die qualitative Steigerung der Verstrickung des Täters mit einer Einwirkung durch die Ermittlungsperson einher, die von einiger Erheblichkeit ist, so liegt ein Fall der unzulässigen Tatprovokation vor.“
B. Verfahrensprinzipien
Um die Rechtsstaatlichkeit des Verfahrens zu gewährleisten, gibt es zahlreiche Verfahrensprinzipien, deren Verletzung in der Regel einen Revisionsgrund darstellt.
Hinweis
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Mit dem sich aus Art. 103 Abs. 1 GG ergebenden „Recht auf Gehör“ musste sich der BGH (3 StR 10/23, BeckRS 2023, 10605) in folgendem Fall befassen:
Die Angeklagte war am 21. Verhandlungstag nicht vor Gericht erschienen. Gem. § 231 Abs. 2 StPO beschloss das Gericht daraufhin, die Verhandlung ohne sie fortzusetzen. Am selben Verhandlungstag hielten die Verteidiger sowohl der Angeklagten als auch der Mitbeschuldigten ihre Plädoyers und den Mitangeklagten wurde das letzte Wort gem. § 258 Abs. 2 StPO gewährt. Am nächsten Tag erschien die Angeklagte wieder. Ohne ihr nun das letzte Wort zu erteilen verkündete das Gericht das Urteil.
Nach Auffassung des BGH hat das LG damit gegen § 258 Abs. 3 StPO und damit gegen das „Recht auf Gehör“ verstoßen. Der BGH führt folgendes aus:
„Danach ist sie gemäß § 258 Abs. 3 StPO auch dann zu befragen, ob sie selbst noch etwas zu ihrer Verteidigung anzuführen habe, wenn ein Verteidiger für sie gesprochen hat. Die zeitweise Verhandlung in ihrer Abwesenheit nach § 231 Abs. 2 StPO enthebt das Landgericht nicht von der Pflicht, der wieder anwesenden Angeklagten das letzte Wort zu erteilen. Kehrt sie in die Hauptverhandlung zurück, nimmt sie ihre Stellung mit allen ihren Rechten wieder ein. Das Recht zur Ausübung des letzten Wortes hat sie nicht dadurch verwirkt, dass sie während eines Verfahrensabschnittes abwesend war, in dem Mitangeklagte Gelegenheit zum letzten Wort hatten. Dem Recht der Angeklagten auf das letzte Wort entspricht die Verpflichtung des Gerichts, nach § 258 Abs. 3 StPO den Angeklagten von Amts wegen Gelegenheit zu geben, sich als Letzte persönlich abschließend zur Sache zu äußern. Das ist angesichts der Bedeutung dieses Rechts selbst dann erforderlich, wenn das Gericht das Beweisergebnis schon abschließend beraten hat und zur Verkündung des Urteils bereit ist.“
Expertentipp
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