Hinweis
Die Urteile können Sie u.a. auf der Seite des Bundesverfassungsgerichts - unter www.bundesverfassungsgericht.de - oder des Bundesverwaltungsgerichts - unter www.bverwg.de – oder auf den Landeswebsites abrufen. Ferner auf der Seite des Europäischen Gerichtshofs www.curia.europa.eu/
A. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 09. August 2023
- 2 BvR 1373/20 –: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen strafrechtliche Verurteilung im sogenannten „Apotheker“-Verfahren
I. Sachverhalt
Der Beschwerdeführer war Inhaber einer Apotheke, die patientenindividuelle Arzneimittelzubereitungen für die Krebstherapie lieferten. Über Jahre hinweg stellte er in mehreren Tausend Fällen unterdosierte Arzneimittel her, die er auslieferte und unter anderem bei den gesetzlichen Krankenkassen monatsweise unter Vorgabe einer ordnungsgemäßen Dosierung abrechnete um seinen privaten Finanzbedarf zu decken. Dabei nahm er die unterdosierten Zubereitungen ganz überwiegend eigenhändig vor.
Das LG verurteilte den Beschwerdeführer unter anderem wegen vorsätzlichen Verstoßes gegen das Arzneimittelgesetz in 14.564 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 12 Jahren. In Hinblick auf 14.498 ausgelieferte Zubereitungen vermochte es die Unterdosierung nur rechenweise festzustellen. So stellte es 25 Wirkstoffe fest, bei denen die eingekaufte Wirkstoffmenge nicht für die im Tatzeitraum hergestellten Zubereitungen ausreichen konnte und ging dabei von einer gleichartigen Wahlfeststellung aus. Die dagegen gerichtete Revision verwarf der Bundesgerichtshof mit Beschluss vom 10. Juni 2020.
Mit seiner Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer insbesondere eine Verletzung des Schuldgrundsatzes sowie des „Grundrechts auf Wahrung der Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2, Abs. 3 Grundgesetz (GG)“.
II. Entscheidung
Die Kammer nahm die Beschwerde nicht zur Entscheidung an:
„Die Verurteilung des Beschwerdeführers stellt keinen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz dar, und auch eine anderweitige Grundrechtsverletzung ist nicht dargetan oder ersichtlich.
Das Strafrecht beruht auf dem im Verfassungsrang stehenden Schuldgrundsatz. Art. 1 Abs. 1 GG bestimmt auf dem Gebiet der Strafrechtspflege die Auffassung vom Wesen der Strafe und dem Verhältnis von Schuld und Sühne. Daraus folgt der Grundsatz, dass jede Strafe Schuld voraussetzt. Der Schuldgrundsatz ist zugleich im Rechtsstaatsprinzip als eines der elementaren Prinzipien des Grundgesetzes verankert. Es sichert den Gebrauch der Freiheitsrechte, indem es Rechtssicherheit gewährt, die Staatsgewalt an das Gesetz bindet und Vertrauen schützt. Das Rechtsstaatsprinzip umfasst als eine der Leitideen des Grundgesetzes auch die Forderung nach materieller Gerechtigkeit und schließt den Grundsatz der Rechtsgleichheit als ein grundlegendes Gerechtigkeitspostulat ein. Für den Bereich des Strafrechts werden diese rechtsstaatlichen Anliegen in dem Grundsatz aufgenommen, dass keine Strafe ohne Schuld verwirkt wird. Dem ist durch verfahrensrechtliche Vorkehrungen Rechnung zu tragen; Tat und Schuld müssen dem Täter prozessordnungsgemäß nachgewiesen werden. Dabei sind die Feststellungen strafrechtlicher Schuld und die Auslegung der in Betracht kommenden Vorschriften in erster Linie Sache der Strafgerichte. Der Beschwerdeführer zeigt eine sich an diesen Maßstäben orientierende Verletzung des Schuldgrundsatzes nicht auf.“
Zur Wahlfeststellung und der hierauf fußenden Verurteilung führt die Kammer aus:
„Die vom Landgericht vorgenommene gleichartige Wahlfeststellung ist nicht zu beanstanden. Die Strafkammer konnte auch nach Ausschöpfung der Aufklärungsmöglichkeiten nicht sicher feststellen, bei welchen 14.498 der insgesamt 28.285 hergestellten Arzneimittelzubereitungen eine Unterdosierung erfolgte. So steht nur fest, dass und wie viele Unterdosierungen es bei den Zubereitungen mit dem jeweiligen Wirkstoff mindestens gegeben hatte. Zu den 28.285 Arzneimittelzubereitungen hat das Landgericht hinreichende Feststellungen getroffen, um die abgeurteilten Fälle ohne Schwierigkeiten von anderen Lebenssachverhalten abzugrenzen, sodass die Gefahr einer Mehrfachverfolgung ausgeschlossen ist.“
B. EuGH, Urt. v. 06.09.2023, Az. T-600/21 - WS u. a. / Frontex: Schadensersatzklage von Flüchtlingen gegen Frontex wird abgewiesen
I. Sachverhalt
2016 trafen mehrere syrische Flüchtlinge in Griechenland ein und äußerten den Wunsch, einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen. Infolge einer gemeinsamen Rückkehraktion, die von der Europäischen Agentur für die Grenz- und Küstenwache (Frontex) und Griechenland durchgeführt wurde, wurden sie jedoch in die Türkei gebracht. Nachdem beim Grundrechtsbeauftragten von Frontex in Bezug auf ihre Rückführung in die Türkei eingelegten Beschwerden ohne Erfolg blieben, haben die betreffenden Flüchtlinge beim Gericht der Europäischen Union eine Schadensersatzklage erhoben, da sich Frontex vor, während und nach der Rückkehraktion rechtswidrig verhalten habe.
II. Entscheidung
Das Gericht weist die Klage ab. Weder die angeblich erlittenen Schäden, noch ggf. entstandene psychische Reaktionen lassen sich unmittelbar auf das Verhalten von Frontex zurückführen: „In Bezug auf die Rückkehraktionen hat Frontex lediglich den Auftrag, die Mitgliedstaaten technisch und operativ zu unterstützen. Dagegen sind die Mitgliedstaaten ausschließlich zuständig, um die Begründetheit von Rückkehrentscheidungen zu würdigen und Anträge auf internationalen Schutz zu prüfen.“
C. OLG Jena / DGH, Beschl. v. 01.06.2023, Az. DGH W 1/23; LG Erfurt, Urt. v. 23.08.2023, Az. 2 KLs 542 Js 11498/21¸LG Meinigen, Beschl. v. 19.01.2023, Az. DG 1/22: Weimarer Familienrichter wegen Verfahrensmängeln nicht wirksam suspendiert
I. Sachverhalt
Im April 2021 erließ ein Familienrichter am AG Weimar einen Beschluss, mit dem er für alle Kinder an zwei Schulen fast alle Schutzmaßnahmen gegen die Übertragung des Virus für beendet erklärte: keine Maskenpflicht mehr, weder Schnelltests noch Abstandspflichten. Landesrechtliche Vorschriften in den Corona-Verordnungen erklärte er für verfassungswidrig und damit nichtig. Er hatte im Vorfeld an „Spaziergängen“ gegen die Corona-Maßnahmen teilgenommen; über Kontakte in die Gegnerschaft der Maßnahmen bewusst nach Eltern gesucht, die ein solches Verfahren anstrengen könnten - seine Zuständigkeit als Familienrichter für die entsprechenden Nachnamen gab er an - und das an das AG Weimar gerichtete Schreiben einer Mutter vorher selbst überarbeitet.
Das LG in Erfurt verurteilte den Richter wegen Rechtsbeugung zu einer zweijährigen Bewährungsstrafe, er wurde vom LG Meiningen als Richterdienstgericht vorläufig vom Dienst suspendiert und seine Bezüge gekürzt. Mit rechtskräftiger Verurteilung würde der Richter sein Amt verlieren.
Das OLG in Jena als Dienstgerichtshof (DGH) hob die Suspendierung und Kürzung der Bezüge wegen Formfehlern im Verfahren auf.
II. Entscheidungen
Das Urteil des LG Erfurt fußt nicht auf einer möglichen Unzuständigkeit des Familienrichters für das von ihm gefällte Urteil. Vielmehr warf die Kammer ihm vor „dass Sie voreingenommen waren, Sie waren parteiisch“. Und Unparteilichkeit ist untrennbar mit der richterlichen Unabhängigkeit verbunden und essentielle Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens. Es sei „in der Praxis kaum vorstellbar, sich einen schwerwiegenderen Verstoß gegen die Unvoreingenommenheit vorzustellen“ als das im Fall gezeigte Verhalten. Eine Verurteilung zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe wegen Rechtsbeugung nach dem einschlägigen § 339 StGB wurde zur Bewährung ausgesetzt. Gemäß § 24 Nr. 1 Deutsches Richtergesetz (DRiG) endet mit der Rechtskraft des Urteils wegen einer Tat mit einer Freiheitsstrafe von über einem Jahr auch ein Richterverhältnis.
Das LG Meinigen entschied, den Richter vorläufig vom Dienst zu suspendieren. Doch - so das OLG Jena – das dieser Entscheidung des Dienstgerichts zu Grunde liegende Verfahren „leidet an einem besonders schwerwiegenden Verfahrensmangel, der die Unwirksamkeit der Entscheidung zur Folge hat“. Das zuständige Ministerium reichte den Antrag auf vorläufige Suspendierung und Kürzung der Bezüge des Richters nicht in der § 79 Thüringer Richter- und Staatsanwältegesetz (ThürRiStAG) i.V.m. § 21 Thüringer Disziplinargesetz (ThürDG), §§ 55a, 55d Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) entsprechenden Form. Der Antrag hätte demnach schriftlich und unter Nutzung des richtigen elektronischen Rechtsverkehrs eingereicht werden müssen. Die vorliegende Antragsschrift ist jedoch weder qualifiziert elektronisch signiert noch mit dem erforderlichen vertrauenswürdigen Herkunftsnachweis (vHN) versehen gewesen.
Dieser Formfehler konnte auch nicht geheilt werden, insbesondere nicht dadurch worden, dass die in elektronischer Form übermittelte Antragsschrift beim Dienstgericht in Meiningen ausgedruckt und zu der in Papierform geführten Verfahrensakte gebracht wurde.
In einem Verfahren, welches nicht wirksam anhängig gemacht wurde, konnte auch nicht wirksam entschieden werden. Eine erstmalige wirksame Einreichung im Beschwerdeverfahren hätte gegen die Zuständigkeitsregeln verstoßen – erstinstanzlich war das Dienstgericht am LG Meiningen zuständig, nicht der DGH am OLG in Jena.
Für den Weimarer Richter bedeute das, dass seine Suspendierung und auch die Kürzung der Bezüge nicht bereits seit Januar wirksam war. Das Ministerium hat zeitnah - formgerecht und wirksam – einen neuen Antrag auf Suspendierung und Kürzung der Bezüge gestellt. Auch gegen die erneute Suspendierung wurde Beschwerde eingelegt, die nun wiederum beim DGH am OLG in Jena liegt.