A. Tatbestand (leicht abgewandelt):
Urteil des BGH vom 06.12.2022 – VI ZR 168/21, r+s 2023, 130
Der Kläger nimmt den Beklagten auf immateriellen Schadensersatz wegen Verursachung einer psychischen Erkrankung in Anspruch. Die Tochter des Klägers wurde im Alter von fünf und sechs Jahren von dem Beklagten sexuell missbraucht. Der Beklagte wurde durch Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 17. Juni 2016 unter anderem wegen sexuellen Missbrauchs der Tochter des Klägers in zehn Fällen rechtskräftig verurteilt. Der Kläger hat eine tiefgreifende reaktive depressive Verstimmung erlitten und diese bei einer Psychologin mittels einer Hypnosetherapie behandeln lassen, nachdem er von den gegen den Beklagten gerichteten Vorwürfen Kenntnis erlangt hatte. Während der Dauer der Ermittlungen und des gerichtlichen Verfahrens war er vom 9. Juni 2015 bis zum 5. August 2016 arbeitsunfähig. Er war in dieser Zeit gedanklich nur mit dem Geschehen um seine Tochter beschäftigt und deshalb in seiner Konzentrations- und Antriebsfähigkeit ganz erheblich eingeschränkt. Eine Stabilisierung seiner psychischen Verfassung hat sich erst mit Abschluss des Verfahrens langsam eingestellt.
Der Kläger trägt vor, dass die erlittene Beeinträchtigung, die auf der Kenntniserlangung von den Taten des Beklagten zum Nachteil der Tochter des Klägers beruht, nach Art und Schwere nicht deutlich über das hinausging, was Angehörige in derartigen Fällen erfahrungsgemäß als Beeinträchtigung erleiden.
Sind die Anforderungen an eine Gesundheitsverletzung im vorliegenden Fall erfüllt?
B. Leitsatz des BGH
Bei sogenannten "Schockschäden" stellt - wie im Falle einer unmittelbaren Beeinträchtigung - eine psychische Störung von Krankheitswert eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB dar, auch wenn sie beim Geschädigten mittelbar durch die Verletzung eines Rechtsguts bei einem Dritten verursacht wurde. Ist die psychische Beeinträchtigung pathologisch fassbar, hat sie also Krankheitswert, ist für die Bejahung einer Gesundheitsverletzung nicht erforderlich, dass die Störung über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgeht, denen Betroffene bei der Verletzung eines Rechtsgutes eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind.
C. Lösung
I. Als Anspruchsgrundlage kommen hier §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB und § 823 Abs. 2 i.V.m. § 229 StGB in Betracht
K könnte gegen B ein Anspruch aus §§ 823 Abs. 1, 253 Abs. 2 BGB zustehen.
II. Anforderungen an die Rechtsgutsverletzung in Gestalt der Gesundheitsverletzung
Fraglich ist, ob eine bloß psychische Beeinträchtigung generell eine Gesundheitsverletzung i.S.d. § 823 Abs. 1 BGB darstellen kann. Nach ständiger Senatsrechtsprechung können psychische Störungen von Krankheitswert eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB darstellen. Allerdings könnten im Rahmen der sog. „Schockschäden“ weitere Einschränkungen veranlasst sein.
Nach bisheriger Rechtsprechung begründeten seelische Erschütterungen wie Trauer oder seelischer Schmerz, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines Angehörigen erfahrungsgemäß ausgesetzt sind, auch dann nicht ohne weiteres eine Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB, wenn sie von Störungen der physiologischen Abläufe begleitet werden und für die körperliche Befindlichkeit medizinisch relevant sind. Psychische Beeinträchtigungen sollten in diesen Fällen nur dann als Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB angesehen werden, wenn sie pathologisch fassbar (sog. Krankheitswert) sind und über die gesundheitlichen Beeinträchtigungen hinausgehen, denen Betroffene beim Tod oder einer schweren Verletzung eines nahen Angehörigen in der Regel ausgesetzt sind.
Hinweis
Die bisherige Rechtsprechung des BGH ist schon in der Vergangenheit in der Literatur auf Kritik gestoßen. Wagner in MüKoBGB, 8. Aufl., § 823 Rn. 218; Spickhoff in Soergel, BGB, 13. Aufl., § 823 Rn. 45; Hager in Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2017, § 823 Rn. B 33; Bischoff, MDR 2004, 557, 558.
Diese Rechtsprechung hat der BGH in der vorliegenden Entscheidung aufgegeben.
Zwar kommt in den §§ 844, 845 BGB die Wertung zum Ausdruck, wonach Beeinträchtigungen, die allein auf die Verletzung eines Rechtsguts bei einem Dritten zurückzuführen sind, mit Ausnahme der in diesen Vorschriften genannten Fälle ersatzlos bleiben sollen, allerdings steht diese Wertung einer Gleichbehandlung von physischen und psychischen Beeinträchtigungen nicht entgegen. In den Fällen sogenannter "Schockschäden" ist Grundlage der Haftung nicht die Verletzung eines Rechtsguts bei einem Dritten, sondern eine eigene - psychische - Gesundheitsverletzung des Anspruchstellers.
Die bisher vorgenommene Einschränkung der Gesundheitsverletzung kann jedoch zu unbilligen Ergebnissen führen.
Hinweis
Hier gilt es insbesondere zu berücksichtigen, dass die Fallgruppe der sogenannten Schockschäden im Zusammenhang mit Verkehrsunfällen - und damit fahrlässigen - Schädigungen des mittelbar Betroffenen entwickelt wurde. Die Kriterien passen jedoch gerade nicht ohne weiteres auf – insbesondere schwere – Vorsatztaten.
„Es wäre schon für sich genommen unbillig, etwa im Falle einer besonders schwerwiegenden Straftat, die bei nahen Angehörigen des Opfers mittelbar eindeutig pathologische psychische Beeinträchtigungen (etwa schwere Depressionen) verursacht hat, diese deshalb nicht als tatbestandsmäßige Gesundheitsverletzung im Sinne des § 823 Abs. 1 BGB anzusehen, weil sie im Regelfall als Reaktion auf vergleichbare Straftaten zu erwarten sind. Darüber hinaus würde es zu Wertungswidersprüchen führen, in derartigen Fällen eine Gesundheitsverletzung zu verneinen, diese aber umgekehrt bei mittelbarer Verursachung einer psychischen Beeinträchtigung von Krankheitswert durch eine geringfügige Straftat deshalb zu bejahen, weil sie bei Angehörigen in vergleichbarer Lage regelmäßig nicht auftritt.“
„Dem der bisherigen Senatsrechtsprechung zugrundeliegenden und berechtigten Anliegen, die Haftung für lediglich mittelbar verursachte psychische Beeinträchtigungen - insbesondere bei lediglich fahrlässiger Herbeiführung - nicht ins Uferlose auszuweiten, kann bei sorgfältiger Prüfung der haftungsbegründenden Merkmale des § 823 Abs. 1 BGB in anderer Weise als durch einschränkende Voraussetzungen hinsichtlich des Tatbestandsmerkmals der Gesundheitsverletzung Rechnung getragen werden. So ist etwa im Blick zu behalten, dass eine Haftung für psychische Beeinträchtigungen, die als Primärschaden geltend gemacht werden, nur in Betracht kommt, wenn die Beeinträchtigung selbst Krankheitswert besitzt und insoweit das strenge Beweismaß des § 286 ZPO gilt, das die volle Überzeugung des Tatrichters erfordert. Auch bedarf der Zurechnungszusammenhang gerade in Fällen psychischer Gesundheitsbeeinträchtigungen einer gesonderten Prüfung.“
Hinweis
Eine Ausnahme macht der BGH bei „geringfügigen“ Verletzungen. Im Einzelfall „kann bei geringfügigen Verletzungen des Körpers oder der Gesundheit ohne wesentliche Beeinträchtigung der Lebensführung und ohne Dauerfolgen ein Schmerzensgeld gegebenenfalls versagt werden, wenn es sich nur um vorübergehende, im Alltagsleben typische und häufig auch aus anderen Gründen als einem besonderen Schadensfall entstehende Beeinträchtigungen des Körpers oder des seelischen Wohlbefindens handelt. Damit sind Beeinträchtigungen gemeint, die sowohl von der Intensität als auch der Art der Verletzung her nur ganz geringfügig sind und üblicherweise den Verletzten nicht nachhaltig beeindrucken, weil er schon aufgrund des Zusammenlebens mit anderen Menschen daran gewöhnt ist, vergleichbaren Störungen seiner Befindlichkeit ausgesetzt zu sein.“
Nach diesen Grundsätzen sind die festgestellten psychischen Beeinträchtigungen des Klägers unproblematisch pathologisch fassbar und haben damit Krankheitswert. Es kommt nicht darauf an, ob das Leiden des Klägers über dasjenige hinausgeht, was in solchen Fällen üblicherweise erlebt wird. Damit liegt eine Gesundheitsverletzung im Sinne von § 823 Abs. 1 vor.
Hinweis
Nicht zuletzt sollte in dieser Fallgruppe berücksichtigt werden, dass die Einengung des Begriffs der „Gesundheitsverletzung“ aber auch die strenge Prüfung der haftungsbegründenden Kausalität letztlich dazu dienen, eine Ausuferung der Haftung zu vermeiden. Berechtigt kann die Frage gestellt werden, ob eine derartige Schutzwürdigkeit bei vorsätzlichen – insbesondere schändlichen und auf unterster sittlicher Stufe stehenden – Taten überhaupt in einem solchen Ausmaß veranlasst ist. Ist ein solcher Täter tatsächlich derart schutzwürdig? Vor diesem Hintergrund kann der Maßstab der Prüfung auf Wertungsebene in solchen Fallkonstellationen sicherlich weniger streng ausfallen als bei Fahrlässigkeitstaten.
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