Den Berliner Fall haben wir bei BGH & Co bereits besprochen (https://www.juracademy.de/rechtsprechung/article/berliner-raser-moerder-211-stgb). Dort hatten 2 „Raser“ nachts in der zu dieser Zeit noch belebten Berliner Innenstadt ein Rennen ausgetragen, wobei sie mit extrem überhöhter Geschwindigkeit mit bis zu 170 km/h fuhren. Einer der Angeklagten fuhr sodann mit dieser Geschwindigkeit bei Rot in eine für ihn nicht einsehbare Kreuzung ein und kollidierte dort mit dem von rechts kommenden Opfer, welches an der Unfallstelle verstarb. Infolge der Kollision flogen Autoteile unkontrolliert umher, nur durch Zufall wurden umstehende Passanten nicht verletzt. Die Beifahrerin des Angeklagten zog sich erhebliche Prellungen zu, der Fahrer Angeklagte blieb weitestgehend unverletzt. Das Auto erlitt einen Totalschaden.
Das LG Berlin hatte den Täter wegen Mordes mit gemeingefährlichen Mitteln verurteilt. Der BGH (JA 2018, 468) hat das Urteil aufgehoben. In seiner Begründung differenziert er zwischen den Vorstellungen, die sich der Täter Millisekunden vor der Kollision gemacht hat, als er den von rechts kommenden Fahrer sehen konnte und jenen, die er sich beim Zufahren auf die Kreuzung machte. Im Einzelnen führt er folgendes aus:
„Voraussetzung für die Verurteilung wegen einer vorsätzlichen Tat ist nach § 16 Abs. 1 StGB, dass der Täter die Umstände, die zum gesetzlichen Tatbestand gehören, bei ihrer Begehung kennt. Dementsprechend muss der Vorsatz im Zeitpunkt der zum Taterfolg führenden Handlung vorliegen …
Aus der Notwendigkeit, dass der Vorsatz bei Begehung der Tat vorliegen muss, folgt, dass sich wegen eines vorsätzlichen Delikts nur strafbar macht, wer ab Entstehen des Tatentschlusses noch eine Handlung vornimmt, die in der vorgestellten oder für möglich gehaltenen Weise den tatbestandlichen Erfolg – bei Tötungsdelikten den Todeserfolg – herbeiführt. Dass dies auf die Tat der Angeklagten zutrifft, lässt sich dem angefochtenen Urteil nicht entnehmen. Im Gegenteil: Das Landgericht hat einen bedingten Tötungsvorsatz erst – wie sich aus der Wendung ‚Spätestens jetzt (…)‘ … ergibt – für den Zeitpunkt festgestellt, als die Angeklagten bei Rotlicht zeigender Ampel in den Bereich der Kreuzung Tauentzienstraße/Nürnberger Straße einfuhren … Vielmehr hat es sowohl bei der Darstellung des Sachverhalts als auch an weiteren Stellen des Urteils ausgeführt, dass die Angeklagten beim Einfahren in den Kreuzungsbereich bereits keine Möglichkeit zur Vermeidung der Kollision mehr besaßen: So hat es etwa bezüglich des Angeklagten H. festgestellt, er sei zu diesem Zeitpunkt ‚absolut unfähig‘ gewesen, ‚noch zu reagieren‘ … und ‚bei Einfahrt in den Kreuzungsbereich‘ sei ‚ein Vermeidungsverhalten (…) auch objektiv nicht mehr möglich‘ gewesen … Die für den Unfall maßgeblichen Umstände, insbesondere die bereits erreichte Kollisionsgeschwindigkeit sowie das Einfahren in den Kreuzungsbereich trotz roten Ampelsignals, lagen danach bereits vor bzw. waren unumkehrbar in Gang gesetzt, als die Angeklagten – nach den Feststellungen – den Tötungsvorsatz fassten."
Damit kann auf den kurz vor der Kollision liegenden Zeitpunkt nicht abgestellt werden. Relevant ist vielmehr das Vorstellungsbild des Angeklagten, als dieser sich der Kreuzung näherte. Hierzu führt der BGH folgendes aus:
„Die Prüfung, ob Vorsatz oder (bewusste) Fahrlässigkeit vorliegt, erfordert insbesondere bei Tötungs- oder Körperverletzungsdelikten eine Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände … Dabei ist die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung wesentlicher Indikator sowohl für das Wissens- als auch für das Willenselement des bedingten Vorsatzes … Die Gefährlichkeit der Tathandlung und der Grad der Wahrscheinlichkeit eines Erfolgseintritts sind jedoch keine allein maßgeblichen Kriterien für die Entscheidung, ob ein Angeklagter mit bedingtem Vorsatz gehandelt hat; vielmehr kommt es auch bei in hohem Maße gefährlichen Handlungen auf die Umstände des Einzelfalles an … In Fällen einer naheliegenden Eigengefährdung des Täters – wie hier – ist von folgenden Grundsätzen auszugehen: … Bei riskanten Verhaltensweisen im Straßenverkehr, die nicht von vornherein auf die Verletzung einer anderen Person oder die Herbeiführung eines Unfalls angelegt sind, kann … eine vom Täter als solche erkannte Eigengefährdung dafür sprechen, dass er auf einen guten Ausgang vertraut hat … Bei ihrer Würdigung des Geschehens hat die Strafkammer dem Gesichtspunkt einer möglichen unfallbedingten Eigengefährdung bereits im Ansatz jegliches Gewicht abgesprochen, indem sie davon ausgegangen ist, dass sich die Angeklagten in ihren Fahrzeugen sicher gefühlt hätten … Das angefochtene Urteil geht von der Hypothese aus, dass mit den Angeklagten vergleichbare Verkehrsteilnehmer regelmäßig kein Eigenrisiko in Rechnung stellten. Hierzu wird ausgeführt, dass ‚sportlich genutzte Fahrzeuge der in Rede stehenden Art‘ ein ‚besonderes Gefühl der Sicherheit‘ vermittelten … Einen Erfahrungssatz, nach dem sich ein bestimmter Typ Autofahrer in einer bestimmten Art von Kraftfahrzeug grundsätzlich sicher fühlt und jegliches Risiko für die eigene Unversehrtheit ausblendet, gibt es indes nicht. Ein entsprechendes Vorstellungsbild ist konkret auf die Angeklagten bezogen zudem nicht belegt. Gerade angesichts der vorliegend objektiv drohenden Unfallszenarien – Kollisionen an einer innerstädtischen Kreuzung mit anderen Pkw oder, wie die Urteilsgründe mitteilen, sogar mit Bussen bei mindestens 139 bzw. 160 km/h – versteht sich dies auch nicht von selbst.“
Die hohe Wahrscheinlichkeit einer Kollision und die Gefährlichkeit der Handlung können mithin also durchaus das „für möglich halten“ begründen. Die Gefahr der Eigenverletzung wiederum spricht aber dagegen, dass der Täter die Kollision und die damit einhergehende Tötung eines anderen „billigend in Kauf“ genommen hat. Wahrscheinlicher ist es, dass er auf seine fahrerischen Fähigkeiten und sein Glück in der Vergangenheit vertraute und sich dachte „wird schon gut gehen“.
Der Sachverhalt, den das LG Hannover (FD-StrafR 2019,413251) nun zu beurteilen hatte, war ein anderer: Hier hatte der Angeklagte einen Sportwagen gestohlen und war damit durch die Stadt gefahren. Als er auf eine Polizeikontrolle stieß, gab er Gas und fuhr in Laufe der Verfolgung in eine Fußgängerzone, in der sich, obgleich es früh am Morgen war, schon Passanten befanden. Mit 57 km/h erfasst er das 82jährige Opfer, welches an den Verletzungen starb. Danach verlor er die Kontrolle über das Fahrzeug und fuhr vor einen Ampelmast. Seine Flucht setzte er dann zu Fuß weiter fort, bis er von der Polizei geschnappt wurde. Während des Vorgangs war er in nicht feststellbarem Maße alkoholisiert.
Das LG Hannover hat den Mord in Verdeckungsabsicht gem. §§ 211, 212 StGB und dementsprechend auch den Tötungsvorsatz bejaht. In Anbetracht der Gefährlichkeit der Handlung und der hohen Wahrscheinlichkeit des Eintritts des tödlichen Erfolgs wird auch hier der Angeklagte den Tod des Opfers für möglich gehalten haben. Ob er sich jedoch innerlich gedacht hat „na wenn schon“ erscheint fraglich. Dafür könnte sprechen, dass sein ganzes Verhalten auf Flucht ausgerichtet war und er „Kollateralschäden“ dabei in Kauf nahm. Dagegen könnten die Alkoholisierung und der Druck sprechen, unter dem der Täter stand.
Expertentipp
In der Klausur kommt es in Fällen dieser Art nicht so sehr darauf an, zu welchem Ergebnis Sie kommen sondern primär darauf, wie Sie argumentiert haben. Unterscheiden Sie dabei sauber zwischen den beiden Elementen des dolus eventualis: für möglich halten (kognitives Element = Wissen) und billigendes Inkaufnehmen (voluntatives Element = Wollen). Die Begründung des kognitiven Elements ist in der Regel einfach, die des voluntativen hingegen schwerer.