Sachverhalt (vereinfacht)
Die B ist freischaffende Künstlerin. Sie malte ein Porträt der 16jährigen M, auf dem diese mit einem Verband um den Arm abgebildet wurde. Dem Werk verlieh sie den Titel „Rapunzel“. Sowohl die Eltern als auch die M selbst hatten einer Anfertigung des Porträts und im Grundsatz auch einer Präsentation auf Ausstellungen zugestimmt.
Im darauffolgenden Jahr wurde „Rapunzel“ auf einer Kunstausstellung mit dem Titel „Märchenbilder“ öffentlich präsentiert. Aus der Beschreibung der Ausstellung, der Auswahl der präsentierten Werke sowie den Begleittexten geht hervor, dass sich die Werkschau den Themen „Missbrauch, Gewalt und Sehnsucht“ widmet. In einer Pressemitteilung wurde darauf hingewiesen, dass insbesondere die Bilder der B zur Auseinandersetzung mit dem Thema „Missbrauch und Gewalt an Kindern“ aufrufen wollen.
Die Eltern der M sind über diese Form der Verwendung des Porträts ihrer Tochter empört. Ihre Einwilligung habe sich niemals darauf bezogen, das Bild in einem Kontext von Missbrauch auszustellen. Eine solche Einwilligung hätten sie auch nie erteilt. Unstreitig ist, dass M selbst kein Opfer von Missbrauch ist und das Bildnis allein – isoliert betrachtet und ohne den beschriebenen Kontext der Ausstellung – eine solche Interpretation auch nicht nahelegt.
Auf die Klage der Eltern verurteilte das zuständige Landgericht die B,
„es zu unterlassen, das Porträt der M im Original oder als Kopie in jeglicher Form jeglichen Dritten gegenüber öffentlich zu machen oder zu verbreiten und es von Ihrer Homepage zu entfernen“. Grundlage des Anspruchs sind die §§ 823, 1004 BGB analog sowie § 22 f. KUG (Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und der Photographie).
Sämtliche Rechtsmittel der B, die sich durch das Urteil in ihrer Kunstfreiheit verletzt sieht, blieben erfolglos. Daher erhob B form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde beim BVerfG.
Hinweis: Es ist davon auszugehen, dass der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde nicht entgegensteht.
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts
Zulässigkeit
Das BVerfG ist für die Verfassungsbeschwerde gem. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG i.V.m. §§ 90 ff. BVerfG zuständig.
B ist als Grundrechtsträgerin zulässige Beschwerdeführerin. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich auch gegen einen zulässigen Beschwerdegegenstand, nämlich das letztinstanzliche Urteil, mit dem sie verpflichtet wird, weitere Veröffentlichungen und Verbreitungen des Porträts der M zu unterlassen.
Diese Verpflichtung verletzt die B zumindest möglicherweise in ihrem Grundrecht der Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG. B ist durch das Urteil auch selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen. Die erforderliche Beschwerdebefugnis liegt damit vor.
Der Rechtsweg i.S.d. § 90 BVerfGG wurde erschöpft, zudem steht der Grundsatz der Subsidiarität der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde nach dem Hinweis im Sachverhalt nicht entgegen.
Schließlich wurde die Verfassungsbeschwerde auch form- und fristgerecht gem. §§ 23, 93 BVerfGG erhoben.
Begründetheit:
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet, wenn ein Eingriff in den Schutzbereich eines Grundrechts oder grundrechtsgleichen Rechts vorliegt, der verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt werden kann.
Hier kommt vor allem eine Verletzung der Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 GG in Betracht.
Schutzbereich
Der persönliche Schutzbereich der Kunstfreiheit ist für die B als natürliche Person eröffnet.
Zum sachlichen Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 5 Abs. 3 GG stellt das BVerfG – in Anknüpfung an seine bisherige Rechtsprechung – zunächst klar, was unter Kunst zu verstehen ist:
„Unabhängig von der (…) wiederholt hervorgehobenen Schwierigkeit, den Begriff der Kunst abschließend zu definieren, stellt das Gemälde ein Kunstwerk dar, nämlich eine freie schöpferische Gestaltung, in der Eindrücke, Erfahrungen und Erlebnisse des Künstlers durch das Medium einer bestimmten Formensprache, hier der Malerei, zur Anschauung gebracht werden.“
Für die Frage, welche Modalitäten und Tätigkeiten im Hinblick auf das Kunstwerk von der Kunstfreiheit geschützt sind, ist hervorzuheben, dass sowohl der Werk- als auch der Wirkbereich verfassungsrechtlichen Schutz genießen:
„Von der Kunstfreiheit ist nicht nur das Anfertigen des Porträts, sondern auch die Ausstellung in der Öffentlichkeit erfasst. Die Kunstfreiheitsgarantie betrifft in gleicher Weise den „Werkbereich“ und den „Wirkbereich“ künstlerischen Schaffens. Nicht nur die künstlerische Betätigung, sondern darüber hinaus auch die Darbietung und Verbreitung des Kunstwerks sind sachnotwendig für die Begegnung mit dem Werk als eines ebenfalls kunstspezifischen Vorgangs. Dieser „Wirkbereich“ ist der Boden, auf dem die Freiheitsgarantie des Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG vor allem Wirkung entfaltet.“
Eingriff
In dem umfassenden gerichtlichen Verbot gegenüber der B, das Porträt der M weiter auszustellen, liegt ein – sogar besonders schwerwiegender – Eingriff in die Kunstfreiheit der B.
Verfassungsrechtliche Rechtfertigung
Schranken
Fraglich ist, ob dieser Eingriff verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden kann. Das Grundrecht aus Art. 5 Abs. 3 GG ist vorbehaltlos – aber nicht schrankenlos – garantiert. Verfassungsrechtliche Schranken ergeben sich aus kollidierendem Verfassungsrecht, es gelten also die verfassungsimmanenten Schranken.
Als kollidierendes Verfassungsrecht kommt hier insbesondere das allgemeine Persönlichkeitsrecht der M aus Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG in Betracht.
„Das durch Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht ist ein solches wesentliches Rechtsgut von Verfassungsrang, das der Kunstfreiheit Grenzen ziehen kann. Das gilt insbesondere für seinen Menschenwürdekern. Das Persönlichkeitsrecht ergänzt die im Grundgesetz normierten Freiheitsrechte und gewährleistet die engere persönliche Lebenssphäre und die Erhaltung ihrer Grundbedingungen. (…) zu den anerkannten Inhalten gehören das Verfügungsrecht über die Darstellung der eigenen Person, die soziale Anerkennung sowie die persönliche Ehre.“
Allerdings muss auch bei einer Grundrechtsbeschränkung durch kollidierendes Verfassungsrecht der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes beachtet werden.
Als Gesetzte, die die Kunstfreiheit hier einschränken, kommen die §§ 823, 1004 BGB sowie das KUG in Betracht. Beide Gesetze können Unterlassungsansprüche begründen und somit die Kunstfreiheit beschränken. Allerdings sind die Gesetze offen genug formuliert und lassen bei ihrer Auslegung und Anwendung genügend Spielraum, um im Einzelfall zu einem Ergebnis zu kommen, bei dem die beiden konfligierenden Verfassungsgüter in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden können. Das Gesetz als solches ist also verfassungsgemäß.
Verfassungsmäßigkeit des Urteils
Verfassungswidrig könnten allerdings die Auslegung und Anwendung des Gesetzes im Einzelfall durch die Gerichte sein. Denn die Kunstfreiheit zieht ihrerseits dem Persönlichkeitsrecht Grenzen. Soweit möglich sollen beide verfassungsrechtlichen Belange zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden, also praktische Konkordanz hergestellt werden.
Im Grundsatz ist es angemessen, die Ausstellung des Bildes in einem Kontext mit Gewalt und Kindesmissbrauch zu verbieten. Denn die Ausstellung des Bildes in einem solchen Zusammenhang beeinträchtigt das Persönlichkeitsrecht der M in derart schwerwiegender Weise, dass die Kunstfreiheit der Künstlerin B dahinter zurückzutreten hat.
Allerdings erscheint es als unangemessen, einen Unterlassungsanspruch bezüglich jeglicher Veröffentlichung oder Verbreitung des Porträts der M zu bejahen. Denn ein Verbot des Ausstellens im Kontext, der Assoziationen zu Missbrauch schafft, wäre ausreichend gewesen, um ihr Persönlichkeitsrecht zu schützen.
„Durch die Verurteilung, es zu unterlassen, das streitgegenständliche Porträt der M jeglichen Dritten gegenüber öffentlich zu machen oder zu verbreiten, wird die B in schwerwiegender Weise in ihrer Kunstfreiheit betroffen. Eine öffentliche Ausstellung des Bildes, auch wenn sie in einem völlig unverfänglichen Zusammenhang erfolgt, ist ihr in Zukunft nicht mehr möglich. (…) Dieser Beschränkung der Kunstfreiheit ist das von Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht der M gegenüberzustellen. Während die Präsentation se Bildes im Rahmen einer öffentlichen Ausstellung zu den Themen Gewalt und Missbrauch ihr Persönlichkeitsrecht massiv beeinträchtigt, gilt dies nicht gleichermaßen für Ausstellungen, die keinen derartigen Kontext zum Gegenstand haben. Vor diesem Hintergrund erscheint das ohne jegliche Beschränkung ausgesprochene Verbot, das Porträt der M in der Öffentlichkeit auszustellen oder zu verbreiten, als unverhältnismäßige Beschränkung der Kunstfreiheit der B.“
Da das angegriffene Urteil auch auf diesem Abwägungsfehler beruht, verletzt es die Kunstfreiheit der B aus Art. 5 Abs. 3 GG
Die Verfassungsbeschwerde der B ist somit zulässig und begründet.