Sachverhalt (vereinfacht)
(nach OVG NRW, Urt. v. 07.08.2018, 5 A 294/16)
A ist 35 Jahre alt, deutscher Staatsangehöriger und dunkler Hautfarbe.
Am 12. November 2017 betritt er gegen 22:00 Uhr den Hauptbahnhof in S, um eine Verwandte abzuholen. Als zwei Beamte der Bundespolizei ihm begegnen, zieht er sich die Kapuze seines Pullovers ins Gesicht, beschleunigt seine Schritte und stellt sich in den Aufgang zu einem Gleis.
Die Bundespolizisten folgen ihm daraufhin, sprechen ihn an und fordern ihn auf, sich auszuweisen. A versteht zwar nicht, warum ausgerechnet er von der Polizei angesprochen wird, will aber keinen Ärger und weist sich mit seinem deutschen Personalausweis aus. Da er den Polizisten plausibel den Grund seines Aufenthalts im Bahnhofsgelände erläutern kann, und eine kurze Überprüfung seiner Identität keine weiteren Anhaltspunkte ergibt, gehen die Bundesbeamten ihres Weges.
A aber fühlt sich durch die polizeiliche Maßnahme diskriminiert. Er ist davon überzeugt, dass er allein wegen seiner Hautfarbe angesprochen und seine Identität festgestellt wurde.
Im Widerspruchsverfahren erläutert die Polizeibehörde näher, warum gerade er für die polizeiliche Maßnahme ausgewählt wurde. Dies liege zum einen an seinem Verhalten, das als verdächtig wahrgenommen wurde. Zum anderen habe es in der Vergangenheit auf dem Bahnhofsgeländer eine Vielzahl von Straftaten gegeben, z.B. Drogendelikte, Körperverletzungen und Taschendiebstähle, die überproportional häufig von Männern mit nordafrikanischer Staatsangehörigkeit begangen worden seien. Daher habe sich die Entscheidung der Polizisten auch auf seine Hautfarbe bezogen.
A hält die Maßnahme weiterhin für „rassistisch“ und erhebt daher Klage mit dem Ziel die Rechtswidrigkeit der Identitätsfeststellung gerichtlich klären zu lassen.
Zulässigkeit
Es handelt sich um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art, so dass der Verwaltungsrechtsweg nach
§ 40 VwGO eröffnet ist. Insbesondere liegt keine überwiegend strafprozessual begründete Maßnahme der Polizei vor, die als Justizverwaltungsakt gem. § 23 EGGVG ggf. den ordentlichen Gerichten zugewiesen wäre.
Die Klage ist statthaft als Fortsetzungsfeststellungsklage gem. § 113 Abs. 1 S. 4 VwGO analog. Bei der Aufforderung an den A, sich auszuweisen, handelt es sich um einen Verwaltungsakt, der bereits erledigt ist.
Das erforderliche Fortsetzungsfeststellungsinteresse ergibt sich daraus, dass sich die angegriffene Maßnahme typischerweise so kurzfristig erledigt, dass ein Rechtsschutz vor Erledigung nicht möglich ist. Zudem liegt in der Identitätsfeststellung, die zumindest auch auf die des A abstellt, möglicherweise eine Diskriminierung, so dass auch ein Rehabilitationsinteresse anzunehmen ist.
Die erforderliche Klagebefugnis gem. § 42 Abs. 2 VwGO analog folgt aus einer möglichen Verletzung des A in seinen Rechten aus Art. 3 Abs. 1 und 3 GG, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG (allgemeines Persönlichkeitsrecht), jedenfalls der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG).
Ein – ggf. in der Fortsetzungsfeststellungssituation gar nicht zwingend erforderliches – Widerspruchsverfahren wurde erfolglos durchgeführt.
Die Vorschriften über die Klagefrist (§ 74 VwGO) sowie der Beteiligten- und Prozessfähigkeit (§§ 61, 62 VwGO) und den richtigen Klagegegner (§ 78 Nr. 1 VwGO) stehen der Zulässigkeit der Klage hier nicht entgegen.
Somit ist die Klage des A zulässig.
Begründetheit:
Die Fortsetzungsfeststellungsklage des A ist begründet, wenn der angegriffene Verwaltungsakt rechtswidrig war und der K dadurch ein seinen Rechten verletzt wurde, vgl. § 113 Abs. 1 VwGO.
Ermächtigungsgrundlage für die Feststellung der Identität durch die Polizeibehörden ist hier § 23 Abs. 1 Nr. 1 BPolG.
Die polizeiliche Maßnahme ist formell rechtmäßig, insbesondere ist die Bundespolizei hier zuständig, vgl. §§ 2 Abs. 1 und 2, 3 Abs. 1 BPolG.
Nach § 23 Abs. 1 Nr. 1 BPolG kann die Bundespolizei die Identität einer Person feststellen zur Abwehr einer Gefahr. Fraglich ist, welche Anforderungen hier an den Begriff der „Gefahr“ zu stellen sind.
Das OVG NRW stellt hier niedrige Anforderungen und lässt mit Hinweis auf die geringe Intensität einer Identitätsfeststellung, die zudem regelmäßig bloß die Grundlage für weitergehende polizeiliche Maßnahmen ist, einen Gefahrenverdacht ausreichen:
„Für die Annahme einer Gefahr i.S.d. § 23 Abs. 1 Nr. 1 BPolG … ist ein Gefahrenverdacht ausreichend. Er ist gegeben, wenn die Polizei aufgrund objektiver Umstände das Vorhandensein einer Gefahr für möglich hält, sich aber nicht sicher ist, ob diese vorliegt. Besteht ein solcher durch Tatsachen begründeter Gefahrenverdacht, so ist die Polizei berechtigt, die Maßnahme zu treffen, die zur weiteren Erforschung und Aufklärung des Sachverhalts erforderlich ist.“
Es lagen hier ausreichende Tatsachen vor, um einen solchen Gefahrenverdacht zu begründen. Das Verhalten des A war auffällig und konnte darauf schließen lassen, dass er sich einer Identifizierung entziehen wollte.
A war als Verhaltensstörer gem. § 17 BPolG auch möglicher Adressat der Maßnahme.
Die Identitätsfeststellung war gem. § 15 Abs. 1 BPolG auch geeignet und erforderlich. Bei der Aufforderung, sich auszuweisen handelt es sich bereits um ein mildes Mittel.
Fraglich ist allerdings, ob die Identitätsfeststellung angemessen war und das Auswahlermessen rechtmäßig ausgeübt wurde. Dabei sind die Grenzen des Ermessens zu beachten, die sich insbesondere aus Grundrechten ergeben.
Nach Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG darf niemand wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden.
Eine Ausübung des Ermessens allein nach dem Merkmal der Hautfarbe ist bei polizeilichen Standardmaßnahmen grundsätzlich rechtswidrig. Differenzierter ist die Konstellation allerdings zu beurteilen, wenn – wie hier – eine polizeiliche Maßnahme an ein grundsätzlich verbotenes Merkmal neben anderen Gründen ansetzt, es also für die Ausübung des Ermessens ein „Motivbündel“ gibt.
Hier hält das OVG eine Rechtfertigung für grundsätzlich möglich:
„Ausnahmsweise kann allerdings eine an sich verbotene Anknüpfung an eines der in Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG genannten Merkmale nach Maßgabe verfassungsimmanenter Grenzen im Rahmen einer strengen Verhältnismäßigkeitsprüfung gerechtfertigt sein. Eine Rechtfertigungsmöglichkeit besteht für den Bereich der polizeilichen Standardmaßnahmen jedenfalls, wenn die Anknüpfung an die Hautfarbe nur ein Motiv in einem Motivbündel ist. Dies setzt aber entsprechend der Bedeutung der besonderen Diskriminierungslage gem. Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG ein kollidierendes Gut mit Verfassungsrang voraus. Hier kommt insbesondere die staatliche Pflicht in Betracht, Leib und Leben sowie das Eigentum der Bürger vor unrechtmäßigen Zugriffen Dritter zu schützen. Die kollidierenden Verfassungsgüter müssen hierbei in einen angemessenen Ausgleich gebracht werden. (…) Dabei ist zu berücksichtigen, dass der Anknüpfung an die Merkmale des Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG wiederum stigmatisierende Wirkung zukommen kann, weshalb erhöhte Anforderungen an die Rechtfertigung eines entsprechenden Grundrechtseingriffs bestehen.“
Konkret verlangt das OVG NRW, dass die Behörden eine erhöhte Darlegungslast erfüllen, wenn sie bei der polizeilichen Arbeit auf eine äußerlich erkennbare Tätergruppe anhand der Hautfarbe abstellen. Erforderlich sei
„dass die Polizeibehörde anhand von auf die Örtlichkeit oder Situation bezogenen Lagebildern eine erhöhte Delinquenz bestimmter Zielgruppen darlegt. Dies verlangt zumindest eine Unterfütterung der Behauptungen durch konkret geschilderte Erkenntnisse.“
Im konkreten Fall mangelte es daran. Stattdessen konnte sich die Polizeibehörde nur auf bloße Behauptungen stützen. Sie konnte damit die Darlegungslast nicht erfüllen, die eine Rechtfertigung der Ermessensauswahl – zumindest auch – an dem nach Art. 3 Abs. 3 GG verpönten Merkmal der Hautfarbe/ Rasse ermöglicht.
Das Auswahlermessen wurde daher rechtswidrig ausgeübt, die polizeiliche Maßnahme war somit insgesamt rechtswidrig. Die Klage des A ist also zulässig und begründet.
Fazit und Hinweise:
Der Fall spielt zwar auf einem Bahnhof, so dass die Bundespolizei zuständig war und Normen des BPolG einschlägig waren, kann aber mühelos auf eine Konstellation übertragen werden, in der die Landespolizei zuständig und somit die klassischen Normen des (Landes-)Polizei- und Ordnungsrechts zu prüfen sind.
Das OVG NRW trifft eine Entscheidung zu einer auch rechtspolitisch sehr umstrittenen Problematik, dem sog. „racial profiling“. Aus unserer Sicht schafft es das Gericht einen überzeugenden Ausgleich zu finden: Einerseits arbeitet es die Gefahren rassistischer Diskriminierung deutlich heraus und stellt die Rechtswidrigkeit im konkreten Einzelfall überzeugend fest. Andererseits zeigt es Gespür für die Herausforderungen alltäglicher Polizeiarbeit und betont dessen verfassungsrechtliche Bedeutung als Ausdruck der Schutzpflichtfunktion für das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gem. Art. 2 Abs. 2 GG.
Ob die verfassungsrechtliche Wertung des Art. 3 Abs. 3 GG in einer Klausur unter dem Aspekt der Angemessenheit/Verhältnismäßigkeit oder aber als Ermessensfehlgebrauch bzw. Ermessensüberschreitung (Grundrechte als Grenze des Ermessens!) angesprochen wird, ist nicht zwingend. Hier sollten Sie sich ggf. nach den Gepflogenheiten und Empfehlungen Ihrer Prüfer richten.