A Sachverhalt
A, ein ehemaliger Schüler der Schule X, der an dem sogenannten Klinefelter-Syndrom leidet und aufgrund dessen eine kombinierte Persönlichkeitsstörung entwickelt hat, begab sich während der Unterrichtszeit in das Schulgebäude. Er war mit einem Messer und einer geladenen Schreckschusspistole bewaffnet und führte bengalische Feuer mit sich.
Nach Betreten des Schulgebäudes traf A auf den Lehrer B und tötete diesen durch fünf Messerstiche. Im Anschluss daran löste er Feueralarm aus. Er bedrohte drei Lehrer, denen er im Treppenhaus begegnete, mit der Schreckschusspistole, schlug einen der Lehrer zu Boden und gab mehrere Schüsse aus seiner Schreckschusspistole ab, darunter einen auf den Schulleiter L., der ihn zum Aufgeben bewegen wollte.
Zu den nach Verständigung der Polizei zum Tatort beorderten Polizeibeamten gehörte der Polizeibeamte P, der mit drei weiteren Kollegen das Schulgebäude betrat und es gezielt nach dem mutmaßlichen Amokläufer durchsuchte. Nachdem die Polizisten den A gestellt hatten, forderten sie ihn erfolgreich unter Vorhalt ihrer Dienstwaffen zur Aufgabe auf.
P lag infolge dieses Vorfalls eine Anpassungsstörung als Reaktion auf eine schwere seelische Belastung vor, die eine medizinische Behandlungsbedürftigkeit zur Folge hatte und zu einer Dienstunfähigkeit von 3 Wochen führte.
Steht P ein Anspruch auf Verdienstausfall dem Grunde nach zu?
Bearbeitervermerk: Von der Deliktsfähigkeit des A ist auszugehen.
B Leitsätze:
„Die psychische Gesundheitsverletzung eines Polizeibeamten, die infolge der unmittelbaren Beteiligung an einem durch einen Amoklauf ausgelösten Geschehen eingetreten ist, ist dem Amokläufer zuzurechnen. Der Zurechnung steht in einem solchen Fall nicht entgegen, dass sich in der Gesundheitsverletzung ein berufsspezifisches Risiko des Polizeibeamten verwirklicht hat.“
C Lösung:
I Anspruch des P gegen A auf Ersatz des Verdienstausfalls aus § 823 I
P könnte einen Anspruch auf Ersatz des Verdienstausfalls aus § 823 I haben. Hierfür müsste A eine Verletzungshandlung begangen haben, die zurechenbar zur Rechtsgutverletzung geführt hat.
1 Verletzungshandlung
Die Verletzungshandlung kann vorliegend im Amoklauf gesehen werden.
2 Rechtsgutverletzung
Vorliegend könnte eine Gesundheitsbeeinträchtigung bei P vorliegen.
P hat eine Anpassungsstörung als Reaktion auf die schwere seelische Belastung erlitten, die zu einer Behandlungsbedürftigkeit führte. Demnach liegt eine durch das Geschehen ausgelöste psychische Störung von Krankheitswert vor.
Die Beeinträchtigung der Gesundheit ist nicht auf physische Beeinträchtigungen beschränkt und umfasst auch psychische Störungen von Krankheitswert.
Demnach liegt eine Gesundheitsverletzung in Gestalt der behandlungsbedürftigen Anpassungsstörung vor.
Fraglich ist, ob die Gesundheitsbeeinträchtigung auch ausreichend ist.
Bei der Fallgruppe der sogenannten Schockschäden, bei denen die Gesundheitsverletzung infolge des Todes oder der schweren Verletzung Dritter, namentlich naher Angehöriger, sind die Anforderungen an die Verletzung des Rechtsguts besonders hoch anzusetzen.
Fraglich ist, ob diese hohen Anforderungen im vorliegenden Fall zu erfüllen sind. Dies wäre dann der Fall, wenn die psychische Beeinträchtigung (nur) mittelbar herbeigeführt worden wäre.
Im vorliegenden Fall war der P jedoch unmittelbar dem Geschehen des Amoklaufs ausgesetzt, weshalb keine erhöhten Anforderungen an die Verletzung des Rechtsguts zu stellen sind.
3 Haftungsbegründende Kausalität
Fraglich ist, ob die Gesundheitsbeeinträchtigung des P kausal durch den Amoklauf hervorgerufen worden ist.
a Äquivalenz und Adäquanz
Die Gesundheitsverletzung des P wurde sowohl äquivalent wie auch adäquat kausal verursacht.
b Zurechenbarkeit; Schutzzweck der Norm
Fraglich ist, ob die Verletzung des Rechtsguts auch zugerechnet werden kann.
aa Ausschluss der Zurechnung wegen bloßer Verwirklichung des allgemeinen Lebensrisikos
Fraglich ist, ob sich im vorliegenden Fall bloß das allgemeine Lebensrisiko verwirklicht hat.
„Der Zurechnungszusammenhang bedarf gerade in Fällen psychischer Gesundheitsbeeinträchtigungen einer gesonderten Prüfung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Schadensersatzpflicht durch den Schutzzweck der verletzten Norm begrenzt wird. Eine Schadensersatzpflicht besteht nur, wenn die Tatfolgen, für die Ersatz begehrt wird, aus dem Bereich der Gefahren stammen, zu deren Abwendung die verletzte Norm erlassen worden ist. Hierfür muss die Norm den Schutz des Rechtsguts gerade gegen die vorliegende Schädigungsart bezwecken; die geltend gemachte Rechtsgutsverletzung bzw. der geltend gemachte Schaden müssen also auch nach Art und Entstehungsweise unter den Schutzzweck der verletzten Norm fallen. Daran fehlt es in der Regel, wenn sich eine Gefahr realisiert hat, die dem allgemeinen Lebensrisiko und damit dem Risikobereich des Geschädigten zuzurechnen ist. Der Schädiger kann nicht für solche Verletzungen oder Schäden haftbar gemacht werden, die der Betroffene in seinem Leben auch sonst üblicherweise zu gewärtigen hat. Insoweit ist eine wertende Betrachtung geboten.“
Der BGH hat im Fall von Verkehrsunfällen entschieden, dass dem allgemeinen Lebensrisiko eine psychische Schädigung von Personen zuzuordnen ist, die an dem eigentlichen Unfallgeschehen nicht selbst beteiligt waren, deren Schädigung aus der bloßen Anwesenheit bei dem Unfallgeschehen herrührt und die mit den eigentlichen Unfallbeteiligten nicht in näherer Beziehung stehen (Senatsurteil vom 22. Mai 2007 - VI ZR 17/06, BGHZ 172, 263 Rn. 14, 17).
Demgegenüber hat der Senat die Haftpflicht eines Unfallverursachers in Fällen anerkannt, in denen der Geschädigte als direkt am Unfall Beteiligter eine psychische Gesundheitsverletzung erlitten hat. Maßgeblich für die Zurechnung war dabei, dass der Schädiger dem Geschädigten die Rolle eines unmittelbaren Unfallbeteiligten aufgezwungen hat und dieser das Unfallgeschehen psychisch nicht verkraften konnte (Senatsurteil vom 12. November 1985 - VI ZR 103/84, VersR 1986, 240, 242; vgl. Senatsurteil vom 22. Mai 2007 - VI ZR 17/06, BGHZ 172, 263 Rn. 14).
Demnach hängt die Zurechenbarkeit davon ab, ob im vorliegenden Fall eine bloß mittelbare oder unmittelbare Beteiligung des P am Amoklauf anzunehmen ist.
(1) Bloß mittelbare Beeinträchtigung
Man könnte sich auf den Standpunkt stellen, dass nur eine mittelbare Betroffenheit vorliegt, da A sich ohne Widerstand festnehmen lassen hat. Auch war der Angriff des A (nur) auf das Personal der Schule und gerade nicht auf die Einsatzkräfte gerichtet. Dieser Ansicht folgend läge im vorliegenden Fall eine bloß mittelbare Betroffenheit vor, bei der besondere Anforderungen an die Zurechnung zu stellen wären.
(2) Unmittelbare Betroffenheit
Nach Ansicht des BGH bestehen vorliegend keine Zweifel daran, „dass P an dem durch den Amoklauf ausgelösten Geschehen unmittelbar beteiligt war. Der Beklagte hat mit dem Amoklauf eine Gefahrenlage geschaffen. Er hat den Polizeibeamten, die zum Tatort beordert wurden, eine unmittelbare Beteiligung an dem Geschehen dahingehend aufgezwungen, sich in die Gefahrenlage zu begeben und diese mit der Festnahme des Beklagten zu beenden. Für die Rolle der Polizeibeamten als unmittelbar an dem Geschehen Beteiligte ist es nicht erheblich, wie sich der Beklagte bis zu seiner Festnahme ihnen gegenüber verhielt; insbesondere ist es nicht erforderlich, dass sie Opfer eines gezielten Angriffs des Beklagten wurden. Die infolge der unmittelbaren Beteiligung an dem Geschehen eingetretene psychische Gesundheitsverletzung des Polizeibeamten K. ging daher über das hinaus, was als zum allgemeinen Lebensrisiko gehörig hinzunehmen ist.“
Demnach ist kein Ausschluss der Zurechnung wegen bloßer Verwirklichung des allgemeinen Lebensrisikos anzunehmen.
bb Ausschluss der Zurechnung wegen bloßer Verwirklichung des berufsspezifischen Risikos eines Polizeibeamten
Fraglich ist, ob und inwieweit das berufsspezifische Risiko von Polizeibeamten und Rettungskräften haftungsrechtlich zu werten ist. Dies ist umstritten und wurde vom BGH bisher noch nicht entschieden.
(1) OLG Koblenz u.a.
„Nach Auffassung des Oberlandesgerichts Koblenz (VersR 2011, 938 Rn. 43) ist es für die Zurechnung psychischer Gesundheitsverletzungen eines Polizeibeamten, der bei einem Einsatz angegriffen wurde und von seiner Schusswaffe Gebrauch machen musste, ebenso wie für die Zurechnung körperlicher Schädigungen unerheblich, dass sich das Berufswahlrisiko des Polizeibeamten verwirklicht hat.“
(2) OLG Celle
„Das Oberlandesgericht Celle (VersR 2006, 1376, 1377) hat die Haftung für die psychische Erkrankung eines Bundesgrenzschutzbeamten, der sich nach einer Kollision von Zügen zum Unfallort begeben musste, unter anderem mit der Begründung verneint, dass sich eine Gefahr verwirklicht habe, die dem Berufsrisiko des Geschädigten zuzuordnen sei.“
(3) LG Duisburg
„Das Landgericht Duisburg (Urteil vom 28. September 2015 - 8 O 361/14, juris Rn. 35, 43) hat die psychische Störung eines Feuerwehrmanns aufgrund eines Rettungseinsatzes bei einer Massenveranstaltung den Organisatoren dieser Veranstaltung nicht zugerechnet, da vom Schutzzweck der möglicherweise verletzten Verkehrssicherungspflicht der Schutz von Rettungskräften davor, Erlebnisse im Rahmen eines Einsatzes nicht verarbeiten zu können, nicht erfasst werde.“
(4) Stimmen in der Literatur
„Auch in der Literatur wird erwogen, dass die sich aus Erfahrungen und Erlebnissen bei beruflichen Einsätzen von Polizeibeamten und anderen Rettungskräften ergebenden psychischen Risiken der Risikosphäre dieser Berufsangehörigen zugeordnet werden könnten (Stöhr, NZV 2009, 161, 164; Lange/Schiemann, Schadensersatz, 3. Aufl., § 3 X 4, S. 147; vgl. auch Luckey, VersR 2011, 940, 941).“
(5) BGH
Der BGH entscheidet im vorliegenden Fall - mit Hinweis auf die unterschiedlichen Fallgestaltungen im Einzelfall - nicht generell über den Umgang mit dem berufsspezifischen Risiko, sondern beschränkt seine Ausführungen auf die Konstellation eines Amoklaufs.
„Der vorliegende Fall gibt dem Senat keine Veranlassung, die haftungsrechtliche Bewertung des berufsspezifischen Risikos bei psychischen Gesundheitsverletzungen allgemein und für die in dem Meinungsstreit behandelten, sehr unterschiedlichen Fallgestaltungen zu klären. Jedenfalls bei vorsätzlichen schweren Gewaltverbrechen wie dem streitgegenständlichen Amoklauf, mit denen typischerweise Angst und Schrecken verbreitet werden sollen und verbreitet werden, besteht im Rahmen der gebotenen wertenden Betrachtung kein Grund, die psychischen Auswirkungen des Geschehens auf einen daran unmittelbar beteiligten Polizeibeamten von der Zurechnung an den Schädiger auszunehmen. Zwar gehört es zur Ausbildung und zum Beruf eines Polizeibeamten, sich auf derartige Belastungssituationen vorzubereiten, mit ihnen umzugehen, sie zu bewältigen und zu verarbeiten. Das Risiko, dass er aus einer solchen Belastungssituation eine psychische Gesundheitsverletzung davonträgt, ist aber jedenfalls bei Straftaten der vorliegenden Art nicht allein seiner Sphäre zuzurechnen. Das Verhalten eines Amokläufers wie hier des Beklagten zeichnet sich durch ein hohes Maß an Aggressivität gegenüber nicht nur der körperlichen, sondern auch der seelischen Unversehrtheit der Betroffenen aus. Ihm das Haftungsrisiko für die psychischen Auswirkungen seines Tuns insoweit ab zunehmen, als davon Polizeibeamte betroffen sind, lässt sich bei wertender Betrachtung nicht rechtfertigen.“
4 Voraussetzungen von § 823 I i.Ü.
Die Voraussetzungen im Übrigen liegen unproblematisch vor. So handelte A vorsätzlich und damit schuldhaft, ferner wird die Rechtswidrigkeit durch die Tatbestandsmäßigkeit indiziert. Auch ist ein Schaden in Gestalt des Verdienstausfalls entstanden.
5 Ergebnis
P hat gegen A einen Anspruch auf Ersatz des Verdienstausfalls dem Grunde nach.
II Anspruch des P gegen A aus § 823 II, 229 bzw. § 223 StGB
Ein Anspruch ergibt sich auch aus dieser Anspruchsgrundlage. Die oben genannten Wertungen sind zu übertragen.