Das Verfassungsgericht des Landes Brandenburg gab am 23.10.2020 seine Urteile in den Organstreitverfahren der Landesverbände der NPD (VfGBbg 9/19) sowie der AfD und in Verfassungsbeschwerdeverfahren von vier AfD-Parteimitgliedern (VfGBbg 55/19) bekannt. Die Verfahren waren im August 2020 gemeinsam verhandelt worden. Ähnlich wurde bereits in Thüringen entschieden (Urt. v. 15.07.2020, Az. 9/2020 - VerfGH 2/20). Die Richter argumentierten dort, dass das Paritätsgesetz das Recht auf Freiheit und Gleichheit der Wahl sowie das Recht der politischen Parteien auf Betätigungsfreiheit, Programmfreiheit und Chancengleichheit beeinträchtige. Den Weimarer Richtern schlossen sich die Potsdamer nun im Kern an: In den Vorgaben sah das Verfassungsgericht Brandenburg eine Verletzung der verfassungsmäßigen Rechte der NPD und der einzelnen Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen und erklärte daher die Vorschriften für nichtig. Sie finden somit bei der nächsten Landtagswahl keine Anwendung.
Das Urteil betrifft das sogenannte Paritätsgesetz (Zweites Gesetz zur Änderung des Brandenburgischen Landeswahlgesetzes - Parité-Gesetz (GVBl.I/19, [Nr. 1]). Durch dieses wären die politischen Parteien in Brandenburg verpflichtet, auf ihren Landeslisten für die Landtagswahlen alternierend Frauen und Männer aufzustellen. Der Landtag stimmte im vergangenen Jahr mehrheitlich für das Gesetz, seit dem 30. Juni 2020 Jahres ist es in Kraft. In mehreren Bundesländern wurde oder wird über eine Paritätsregelung diskutiert, das Urteil wurde daher bundesweit mit Spannung erwartet. Der Frauenanteil im Bundestag war von 37,3 Prozent auf 31,2 Prozent gesunken. Im Brandenburger Landtag liegt der Anteil weiblicher Abgeordneter bei etwa einem Drittel.
Zur Begründung führten die Richter an, die NPD sei in ihrer Organisations- und Programmfreiheit, der Wahlvorschlagsfreiheit der Partei und der Chancengleichheit der Parteien verletzt. Der Grundsatz der Freiheit der Wahl gelte auch für Parteien und auch bereits im Vorfeld der Wahl. Grundlegende Aufgabe der Parteien sei es auch, durch Aufstellung von Kandidaten und Kandidatenlisten zu den Landtagswahlen die Offenheit des Willensbildungsprozesses vom Volk hin zu den Staatsorganen zu gewährleisten. Dieser Prozess müsse frei von inhaltlicher Einflussnahme durch den Staat und staatliche Organe bleiben. Das streitgegenständliche Paritätsgesetz entziehe dem demokratischen Willensbildungsprozess einen wesentlichen Teil, indem er auf die Zusammensetzung der Listen durch Gesetz Einfluss nehme. Die Vorgabe der paritätischen Listenbesetzung könne faktisch zum Ausschluss bestimmter Bewerberinnen und Bewerber bei der Listenaufstellung führen. Parteien, die ein sehr unausgewogenes Geschlechterverhältnis haben, könnten erhebliche Schwierigkeiten bei der Aufstellung abwechselnd besetzter Listen bekommen; hiermit seien die Chancen der Parteien bei der Wahl möglicherweise beeinträchtigt. Zudem verwische die Paritätspflicht teils Unterschiede in den Parteiprogrammen. Den Parteien stehe es aber frei, sich im Rahmen ihrer Programmatik dem Ziel der Förderung der Gleichberechtigung mehr oder weniger ausgeprägt zu verschreiben.
Dem Gesetzgeber obliege zwar grundsätzlich die Ausgestaltung des Wahlverfahrens, aber allein hierdurch seien die Vorgaben nicht legitimiert. Die Verfassungsordnung des Landes Brandenburg bekenne sich zwar ausdrücklich zur Gleichberechtigung von Frauen und Männern und verbinde dies mit der Verpflichtung, auch im öffentlichen Leben für diese zu sorgen. Derart weitgehende Änderungen im Wahlrecht bedürften jedoch einer Verfassungsänderung und seien dem Zugriff des einfachen Gesetzgebers entzogen. Einfachgesetzliche Regelungen, die eine jeweils hälftige Verteilung der Landtagssitze an Frauen und Männer anordnen oder durch Listenvorgaben fördern sollen, würden eine unzulässige Modifikation des Demokratieprinzips bedeuten. Denn aus der Landesverfassung ergebe sich, dass sich die politische Willensbildung durch Wahlen frei vom Souverän aus zu vollziehen habe. Der Staat habe sich im gesamten Prozess inhaltlicher Vorgaben zu enthalten. Somit sei die Ausgestaltungsbefugnis des Gesetzgebers in Bezug auf den Ablauf der Wahlen und die Konkretisierung der Wahlrechtsgrundsätze überschritten.
Auch das Ziel, den Frauenanteil im Landtag anzuheben, sei kein hinreichender Grund. Die durch das Paritätsgesetz berührten Rechte der Freiheit der Parteien sowie der Gleichheit und Freiheit der Wahl seien Ausprägungen des Demokratieprinzips. Dem Demokratieprinzip der Verfassung des Landes Brandenburg liege aber der Grundsatz der Gesamtrepräsentation zu Grunde, d.h. die Abgeordneten seien nicht einem Wahlkreis, einer Partei oder einer Bevölkerungsgruppe, sondern dem ganzen Volk gegenüber verantwortlich. Diesem Verständnis widerspreche aber die Idee, dass sich in der Zusammensetzung des Parlaments auch die Vielfalt des Wahlvolks (Gruppen, Schichten oder Klassen) widerspiegeln soll. Dieses Ziel habe der Gesetzgeber mit dem Paritätsgesetz jedoch nicht verfolgt; er habe vielmehr ausdrücklich (nur) die Gleichberechtigung von Mann und Frau fördern wollen.
Das Verfassungsgericht stellte im Verfahren auch klar, dass es sich bei den Wahlrechtsgrundsätzen um rügefähige Grundrechte handele. Das gleiche Recht der Staatsbürger zu wählen und gewählt zu werden sei eine der wesentlichen Grundlagen der Staatsordnung und im Sinne einer strengen und formalen Gleichheit bei der Zulassung zur Wahl zum Parlament zu verstehen. Ebendiese passive Wahlrechtsgleichheit sei für die Beschwerdeführer und Beschwerdeführerinnen nicht mehr gewährleistet, weil es ihnen im Ergebnis aufgrund ihres Geschlechts den Zugang zu bestimmten Listenplätzen bzw. Vorlisten bei der innerparteilichen Kandidatenaufstellung verwehre, den Zugang zu einer Landesliste überhaupt verhindern könne. Personen des dritten Geschlechts seien demgegenüber weitergehende Möglichkeiten eingeräumt.
Auch die gegen das Gesetz gerichteten Verfassungsbeschwerden der AfD-Mitglieder hatten daher im Wesentlichen Erfolg (VfGBbg 55/19). Das Verfassungsgericht stellte eine Verletzung ihrer Grundrechte auf Gleichheit der Wahl und des Verbots der Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts fest.
Der Antrag des Landesverbandes der AfD im Organstreitverfahren wurde als unzulässig verworfen (VfGBbg 55/19). Ein Organstreitverfahren der Piratenpartei Brandenburg, vier Verfassungsbeschwerden von Mitgliedern der „Jungen Liberalen“, sowie eine weitere Verfassungsbeschwerde sind im Komplex noch anhängig.