Die vom 1. Senat entschiedenen Beschwerden von Elternpaaren richteten sich gegen Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) über die Pflicht zum Nachweis einer Masernimpfung. Die Kinder sind weder geimpft noch immun, auch gibt es keinerlei medizinische Gründe gegen eine Impfung. Die im November 2019 beschlossene Nachweispflicht gilt nach Auslaufen der Übergangsfrist im August 2022 nun vollumfänglich, so sollen Ausbrüche der hochansteckenden und teils tödlich verlaufenden Viruserkrankung verhindert werden. In Deutschland kommt es immer wieder zu Masernausbrüchen, da weniger als 95% der Bevölkerung geimpft sind. Die Weltgesundheitsorganisation WHO geht davon aus, dass sich die Masern nicht ausbreiten können, wenn über 95% der Bevölkerung eine Immunität gegen Masern haben. Bei fehlendem Nachweis kann die Betreuung versagt werden, bei schulpflichtigen Kindern drohen Bußgelder von bis zu € 2.500,-. Zwangsimpfungen gibt es nicht.
Zunächst spricht vieles für die Beschwerdeführer: Sowohl in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit, Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, der Kinder, als auch das Grundrecht der Eltern als Gesundheitssorgeberechtigte gem. Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG, wird mittelbar zielgerichtet eingegriffen. Wenn die Eltern ihre Kinder nicht impfen lassen, wird ihnen der Wunsch nach einer frühkindlichen Betreuung in einem Kindergarten verwehrt - ein Eingriff in das Elternrecht. Für die Kinder stellt die Verabreichung einer Impfung zweifelsfrei einen Eingriff dar.
Hierbei führt der Senat aus, dass beide Grundrechte „in spezifischer Weise miteinander verknüpft“ seien. Denn die Wirkungen greifen stark ineinander – nach Ansicht des Senats vom Gesetzgeber bezweckt. Sollen die Kinder betreut werden sollen, müssen die Eltern impfen lassen. Dieses Druckpotential ist nach der Urteilsbegründung ausdrücklich Teil des staatlichen Konzepts und führen zu einem wirkungsmäßig unmittelbaren Eingriff.
Abzuwägen ist aber die körperliche Unversehrtheit der Kinder und das Elternrecht gegen die Gesundheit und das Leben einer Vielzahl von Menschen, insbesondere vulnerablen Personen. Eine Impfpflicht für viele kann die wenigen schützen, die sich (noch) nicht impfen lassen können, und so wird letztendlich die Zahl der Infektionen geringgehalten. Hierzu der Senat: „Aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG kann daher eine Schutzpflicht des Staates folgen, die eine Risikovorsorge gegen Gesundheitsgefährdungen umfasst“.
Nach dieser Abwägung erkennen die Richterinnen und Richter: die Eingriffe in beide Grundrechte sind bei verfassungskonformer Auslegung des IfSG gerechtfertigt. Die Interessen gefährdeter Personen am Schutz vor Infektionen hat Vorrang vor den Belangen der Kinder und Eltern. Eine derartige Vorrangentscheidung kann der Gesetzgeber bestimmen, und hat dies mit der entsprechenden Regelung im IfSG verfassungskonform getan. Der Senat folgte damit der Richtung der Eilentscheidungen vom 11.05.2020 (Az. 1 BvR 469/20 und 470/20), hier waren die Anträge nach § 32 BVerfGG mit ebendieser Begründung von der 1. Kammer des 1. Senats abgelehnt worden: Das Interesse, Kinder ohne die Schutzimpfung in einer Gemeinschaftseinrichtung betreuen zu lassen, ist gegenüber dem Interesse an der Abwehr des Risikos einer Maserninfektion für Leib oder Leben vieler Menschen nachrangig. Eine verpflichtende Impfung ist somit zumutbar.
Zur weiteren Begründung führt der Senat aus: Da Masern hochansteckend sind und bei einer Masernerkrankung oft Risiken eines schweren Verlaufs besteht ist hier eine beträchtliche Gefährdung des Rechtsguts der körperlichen Unversehrtheit Dritter zu sehen. Die gesetzgeberische Einschätzung, ohne die Nachweispflicht würde die Impfquote weiter stagnieren und währende Masernausbrüche in Kitas steigen, beruht auf tragfähigen Grundlagen und ist somit verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die realistische Chance auf Ausrottung der Krankheit durch verpflichtende Impfungen stützt die staatliche Schutzpflicht.
Einen Teilerfolg erzielten die Beschwerdeführer: Es gilt die Maßgabe einer verfassungskonformen Auslegung. Stehen - so ist es zur Zeit üblich - ausschließlich sog. Kombinationsimpfstoffe (regelmäßig Masern kombiniert mit Mumps, Röteln -MMR- oder Windpocken) zur Verfügung, so ist § 20 Abs. 8 Satz 3 IfSG verfassungskonform so zu verstehen, dass die Pflicht nur dann gilt, wenn es sich um Impfstoffe handelt, die keine weiteren anderen Komponenten enthalten, also über Masern, Mumps, Röteln oder Windpocken hinausgingen. Die Impfung mit MMR-stoffen müssen Kinder und Eltern hinnehmen, auch wenn kein mit Masern vergleichbar hohes Infektionsrisiko besteht oder ähnlich schwere Krankheitsverläufe eintreten können.
Die Urteile riefen vorhersagbarerweise auch Ablehnung hervor: Alexander Konietzky vom Verein ‚Ärzte für individuelle Impfentscheidungen‘, der auch vom Gericht gehört wurde, führte aus: „Wir wenden dieses Prozedere ja an einem gesunden Menschen an, und der sollte mindestens darüber wohl informiert sein und dann darüber auch frei entscheiden können.“ Auch gab er an, die Impfquoten seien auch ohne Verpflichtung sehr hoch und wohl ausreichend, in den letzten Jahren habe es in Deutschland nur sehr selten schwere Verläufe bzw. Todesfälle gegeben.
Ob und inwieweit aus dieser Entscheidung auf eine Corona-Impflicht geschlussfolgert werden kann bleibt abzuwarten.