A. Sachverhalt
Die Klägerin (K) ist Eigentümerin eines Grundstücks, das an der Grenze zum Nachbargrundstück des Beklagten mit einem eingeschossigen Tankstellengebäude bebaut ist. Der Beklagte (B) errichtete – baurechtlich zulässig – 2017 auf seinem Grundstück direkt angrenzend an das Tankstellengebäude und unmittelbar neben dem dort bereits vorhandenen Bestandsgebäude ein mit einem Flachdach versehenes Zweifamilienhaus, welches das Flachdach des Tankstellengebäudes um mehr als 0,5 m überragt.
Wegen des unmittelbar angrenzenden mehr als 0,5 m höheren Neubaus des B muss das Dach des Tankstellengebäudes nach nunmehr einschlägigen DIN-Vorschriften mit einem Aufwand von 53.317,75 € durch den Einbau einer zusätzlichen tragenden Ebene in die Decke statisch ertüchtigt werden, um den veränderten Schneelastanforderungen infolge des von dem Neubau abprallenden Schnees zu entsprechen.
K begehrt von B einen Ausgleich für diese Beeinträchtigung.
Fallfrage:
Hat K gegen B einen Anspruch auf Ausgleichszahlungen aus § 906 Abs. 2 Satz 2?
B. Lösung
I. Anspruch des K gegen B auf Ausgleichzahlung aus § 906 Abs. 2 Satz 2.
Hinweis
Neben § 906 Abs. 2 Satz 2 kamen grundsätzlich noch Ansprüche aus § 823 Abs. 1 bzw. §§ 823 Abs. 2 in Verbindung mit § 1004 Abs. 1 in Betracht.
1. Wer kann einen solchen Ausgleich überhaupt verlangen?
Das ist derjenige, der eine wesentliche Immission (§ 906 Abs. 1), die durch eine ortsübliche Benutzung des anderen Grundstücks herbeigeführt wird, gemäß § 906 Abs. 2 Satz 1 zu dulden hat, wobei diese aber die ortsübliche Benutzung seines Grundstücks über das zumutbare Maß hinaus beeinträchtigt.
2. Stellt Schnee überhaupt eine Immission nach § 906 Abs. 1 dar?
906 Abs. 1 erfasst nur sogenannte „unwägbare Stoffe“ bzw. „Imponderabilien“. Die Vorschrift wird entsprechend dem Zweck der Regelung nach heutigem Verständnis aber auch auf „Kleinstkörper“, sogar Kleintiere, angewendet. Den in § 906 Abs. 1 Satz 1 beispielhaft genannten Einwirkungen ist gemein, dass die Ausbreitung vom emittierenden Grundstück nicht zu kontrollieren ist. So werden von der Rechtsprechung Staub, Flugasche, Pollen, Staubflusen und nunmehr auch (BGH MDR 2023, 905) Schneeflocken als erfasst angesehen.
3. Sind alle Arten der Einwirkung von § 906 erfasst?
Nein! Es sind nur positive Einwirkungen erfasst. Das sind solche, die auf dem beeinträchtigten Grundstück sinnlich wahrnehmbar oder zumindest physikalisch feststellbar sind. Nicht erfasst sind bloß negative Einwirkungen, die sich aus der Nutzung des Nachbargrundstücks ergeben und auf dessen Fläche beschränkt sind. So stellt das Abhalten von Wind durch ein Gebäude keine unzulässige Einwirkung auf das Nachbargrundstück dar.
4. Ist der abprallende Schnee als positive Einwirkung einzuordnen?
Hier gilt es zu berücksichtigen, dass die Grenzbebauung, welche das Abprallen erst bedingt, sich nur auf die räumlichen Grenzen des Nachbargrundstücks erstreckt. Das Abprallen von Schnee stellt sich hier nur als mittelbare Folge der zulässigen baulichen Nutzung des Grundstücks dar. Fraglich ist demnach, ob physikalische Vorgänge, die auf naturgesetzlicher Wirkung beruhen, generell von den Einwirkungen im Sinne von § 906 Abs. 1 auszunehmen sind. Die Rechtsprechung hat in der Vergangenheit Reflexionen von Licht durch Photovoltaikanlagen oder platzierte Dachziegel bereits als positive Einwirkungen eingeordnet. Hiermit ist das Abprallen von Schnee von der Hauswand im vorliegenden Fall vergleichbar. Ähnlich wie bei elektromagnetischen Wellen sind die Einwirkungen auch sinnlich wahrnehmbar bzw. messbar.
Hinweis
Der BGH löst sich in diesem Zusammenhang auch von einem früheren Urteil aus dem Jahre 1983 (BGHZ 88, 344), in dem die Reflexion von Fernsehwellen nicht als positive Einwirkung bewertet wurde.
Damit liegt im vorliegenden Fall eine positive Einwirkung auf das Grundstück des K vor.
5. Ist die Beeinträchtigung auch wesentlich?
Wie wir oben bereits angedeutet haben, ist eine unwesentliche Einwirkung im Sinne von § 906 Abs. 1 durch den Betroffenen kompensationslos hinzunehmen. Ein Ausgleich kommt daher nur im Fall einer wesentlichen Einwirkung gemäß § 906 Abs. 2 Satz 1 in Betracht.
„Wann eine wesentliche Beeinträchtigung vorliegt, beurteilt sich nach dem Empfinden eines verständigen Durchschnittsmenschen und dem, was diesem unter Würdigung anderer öffentlicher und privater Belange zuzumuten ist, wobei Natur und Zweckbestimmung des von der Beeinträchtigung betroffenen Grundstücks in seiner konkreten Beschaffenheit eine entscheidende Rolle spielen. Ob die Benutzung eines Grundstücks wesentlich oder nur unwesentlich beeinträchtigt ist, hängt maßgebend davon ab, in welchem Ausmaß die Benutzung nach der tatsächlichen Zweckbestimmung des Grundstücks gestört wird. Daneben können wertende Momente, etwa des Nachbarrechts und des öffentlichen Rechts, in die Beurteilung einbezogen werden.“
Der BGH hat die vorliegende Einwirkung als unwesentlich eingeordnet. Folgende Argumente waren für das Ergebnis leitend:
Die Nutzung des Grundstücks zum Betrieb einer Tankstelle wird durch die Einwirkung nicht unmittelbar eingeschränkt.
a. Das Gebäude auf dem Nachbargrundstück wurde in baurechtlich zulässiger Weise errichtet. Zwar hat die Legalisierungswirkung einer Baugenehmigung keinen Einfluss auf das Bestehen von privatrechtlichen Verhältnissen, weil die Baugenehmigung nach den Landesbauordnungen unbeschadet privater Rechte Dritter ergeht, gleichwohl fehlt es bei einer zulässigen baulichen Nutzung des Grundstücks in aller Regel an der Wesentlichkeit der Beeinträchtigung des Nachbargrundstücks, da sich die Nutzung des Grundstücks, von dem die Einwirkung ausgeht, im Rahmen ordnungsgemäßer Bewirtschaftung hält. Die rechtlich zulässige Bebauung eines Grundstücks gehört zu den sozial adäquaten Formen der Grundstücksnutzung. Hieraus herrührende Einwirkungen sind jedenfalls in gewissen Grenzen zumutbar und in diesem Rahmen als unwesentliche Beeinträchtigung des benachbarten Grundstücks im Sinne von § 906 Abs. 1 BGB anzusehen. In diesem Zusammenhang ist auch das Recht des B aus § 903 BGB zu beachten, mit seinem Grundstück nach Belieben verfahren zu können.
b. „Wollte man bei einer solchen Fallkonstellation gleichwohl eine wesentliche Beeinträchtigung annehmen, hätte der Eigentümer mangels Duldungspflicht gemäß § 906 Abs. 1 BGB gegen jede baurechtlich zulässige Grenzbebauung des Nachbargrundstücks, welche das eigene Gebäude überragt, einen primären Abwehranspruch gemäß § 1004 Abs. 1 BGB. Eine Grenzbebauung auf dem Nachbargrundstück wäre damit weitgehend ausgeschlossen. Darüber hinaus könnte ein Grundstückseigentümer sogar die Beseitigung eines Bestandsgebäudes auf dem Nachbargrundstück verlangen, wenn nachträglich DIN-Normen in Kraft treten, die eine statische Ertüchtigung des eigenen Gebäudes erfordern. Würde die Schwelle zur Wesentlichkeit so niedrig angesetzt, wäre eine Grenzbebauung im Ergebnis für alle Grundstückseigentümer mit unwägbareren Risiken verbunden; hier fiele der Ausgleich der widerstreitenden nachbarlichen Interessen einseitig zu Lasten des Beklagten aus, da seine Möglichkeit zu einer wirtschaftlich sinnvollen Grundstücksnutzung stark eingeschränkt wäre.“
c. Die notwendige Dachertüchtigung stellt sich als lediglich mittelbare Folge der veränderten Schneelasten dar. Das Tankstellengebäude der Klägerin trägt gleichsam bereits eine Schadensanlage in sich, die sich infolge der erhöhten statischen Anforderungen verwirklicht. Dass die vorhandene Bebauung die statischen Vorgaben im Hinblick auf die zu erwartende Schneelast nicht (mehr) erfüllt, fällt aber jedenfalls dann allein in den Risikobereich des die Anlage unterhaltenden Grundstückseigentümers, wenn - wie hier - eine Beeinträchtigung allein durch solche physikalischen Vorgänge eintritt, die auf naturgesetzlicher Wirkung beruhen. Die Ertüchtigung des Dachs obliegt allein der Klägerin, die als Eigentümerin des Tankstellengrundstücks Adressatin der in technischen Normen enthaltenen statischen Anforderungen - und für deren Beachtung verantwortlich ist.
6. Kommt ein Anspruch aus § 906 Abs. 2 Satz 2 analog in Betracht?
Nein! „Der nachbarrechtliche Ausgleichsanspruch analog § 906 Abs. 2 Satz 2 BGB ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs gegeben, wenn von einem Grundstück im Rahmen privatwirtschaftlicher Benutzung rechtswidrige Einwirkungen auf ein anderes Grundstück ausgehen, die der Eigentümer oder Besitzer des betroffenen Grundstücks nicht dulden muss, aus besonderen Gründen jedoch nicht gemäß § 1004 Abs. 1, § 862 Abs. 1 BGB unterbinden kann, sofern er hierdurch Nachteile erleidet, die das zumutbare Maß einer entschädigungslos hinzunehmenden Beeinträchtigung übersteigen. Da die durch den abprallenden Schnee ausgehende Einwirkung entsprechend den vorstehenden Ausführungen jedenfalls nicht wesentlich ist, mangelt es schon an einem für den nachbarrechtlichen Ausgleichsanspruch erforderlichen Abwehranspruch der K.“