In dem der Entscheidung des OLG Karlsruhe (BeckRS 2020, 4623) zugrunde liegenden Sachverhalt ging es darum, dass ein wegen Mordes vor dem LG Angeklagter, der ledig und kinderlos ist, seit dem 24.09.2019 in U-Haft sitzt. Mit Beschluss vom 17.03.2020 hat das LG die am 09.03.2020 begonnene Hauptverhandlung wegen der COVID-19-Pandemie ausgesetzt. Neue Verhandlungstermine sollen nach Absprache mit den Verfahrensbeteiligten für den Mai anberaumt werden.
Hinweis
Eine Aussetzung des Verfahrens bedeutet, dass das Verfahren nachfolgend wieder von vorne beginnen muss. Dem gegenüber bedeutet eine Unterbrechung, dass nach der jeweiligen Zeitspanne weiterverhandelt werden kann. Die Zeitspanne ist in § 229 StPO geregelt. Eine Hemmung der Frist sieht Abs. 3 vor. Diese Fristhemmung wird neuerdings durch § 10 EGStPO auf die Fälle erweitert, bei denen eine Unterbrechung aufgrund von Infektionsschutzmaßnahmen erforderlich wird. Diese Norm trat aber erst am 28.03.2020 in Kraft.
Eine im Ergebnis fast identische Entscheidung traf nachfolgend das OLG Stuttgart (FD-StrafR 2020, 428940). Hier ging es um einen Angeklagten, der sich wegen gewerbsmäßigem Handel treiben mit Betäubungsmitteln strafbar gemacht haben soll. Bei seiner Verhaftung hatte er gefälschte französische Ausweise bei sich, um seine Identität zu verschleiern. Er sitzt seit dem 09.10.2019 in U-Haft. Der auf den 16.03.2020 anberaumte Termin vor dem AG wurde auf Antrag des herzkranken Verteidigers wegen der COVID-19-Pandemie aufgehoben. Neuer Termin wurde auf den 21.04.2020 bestimmt.
In beiden Fällen hielten die Gerichte die Fortdauer der U-Haft für erforderlich, weswegen sie die Akten durch Vermittlung des StA gem. § 122 StPO den OLGs vorgelegt haben. Beide Oberlandesgerichte haben dann die Voraussetzungen des § 121 StPO geprüft und im Ergebnis die Fortdauer der U-Haft für erforderlich gehalten.
Zunächst muss geprüft werden, ob die Voraussetzungen der U-Haft noch vorliegen. Diese sind
- ein dringender Tatverdacht bzgl. einer verfolgbaren Tat,
- ein Haftgrund und
- die U-Haft darf nicht außer Verhältnis stehen zu der zu erwartenden Strafe
Der dringende Tatverdacht, der sich aus der großen Wahrscheinlichkeit speist, dass der Beschuldigte die Tat begangen haben könnte, lag in beiden Fällen aufgrund des Ermittlungsergebnisses vor.
Im ersten Fall ergibt sich der Haftgrund aus § 112 III StPO, da die Anklage auf Mord gem. §§ 211, 212 StGB lautete. Bei genauerem Lesen der Norm erkennt man aber, dass die Norm von einem verfahrenssichernden Haftgrund absieht. Damit § 112 III StPO nicht zu einer verfassungswidrigen Verdachtsstrafe wird, hat das BVerfG entschieden, dass der Absatz verfassungskonform ausgelegt werden müsse. Demnach ist eine U-Haft nur dann zulässig, wenn die Haftgründe des § 112 II StPO möglich erscheinen bzw. umgekehrt formuliert: Eine U-Haft ist unzulässig, wenn es Anhaltspunkte dafür gibt, dass Haftgründe ausgeschlossen sind. Das OLG Karlsruhe (a.a.O.) hat das wie folgt formuliert:
„Es besteht der Haftgrund der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO). Von Fluchtgefahr ist auszugehen. Der Verurteilte hat im Falle einer Verurteilung mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu rechnen. Dem hiervon ausgehenden natürlichen Fluchtanreiz stehen fluchthindernde Umstände von ausreichendem Gewicht nicht entgegen. Mildere Maßnahmen nach § 116 Abs. 1 StPO sind nicht geeignet, der Gefahr, dass sich der ledige und kinderlose Angeklagte - auf freiem Fuß befindlich - dem Verfahren durch Untertauchen entziehen könnte, hinreichend zu begegnen.“
Im zweiten Fall wurde u.a. aufgrund des Umstands, dass der Angeklagte über gefälschte Dokumente verfügte, die Fluchtgefahr gem. § 112 II Nr. 2 StPO bejaht.
In Anbetracht der zu erwartenden Freiheitsstrafen wurde die Weiterführung der U-Haft auch als verhältnismäßig angesehen.
Nachdem die Gerichte geklärt hatten, dass die U-Haft grundsätzlich zulässig ist, haben sie sich alsdann mit den Voraussetzungen des § 121 StPO befasst.
Nach § 121 StPO „darf der Vollzug der Untersuchungshaft wegen derselben Tat über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen.“
Da es vorliegend nicht um die besondere Schwierigkeit oder den besonderen Umfang der Ermittlungen ging, kommt nur „ein anderer wichtiger Grund“ in Betracht. Einen solchen Grund haben beide Gerichte bejaht. Das OLG Karlsruhe (a.a.O.) führt dazu folgendes aus:
„Nach dieser Maßgabe bilden - unter anderem - nicht behebbare unabwendbare Schwierigkeiten oder unvorhersehbare Zufälle und schicksalhafte Ereignisse, wie etwa die krankheitsbedingte, zur Aussetzung der Hauptverhandlung Verhinderung unentbehrlicher Verfahrensbeteiligter, einen wichtigen Grund im Sinne des § 121 Abs. 1 StPO (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 12.12.1973 - 2 BvR 558/73 -, BVerfGE 36, 264 = NJW 1974, 307, und vom 23.01.2019 a.a.O.; KK-StPO, 8. Aufl. 2019, § 121 Rn. 16 m.w.N.). Auch die Erkrankung eines Verfahrensbeteiligten mit einer hochansteckenden Krankheit, die an sich keinen Hinderungsgrund darstellt, aber eine erhebliche Gefährdung anderer in sich birgt, kann einen solchen Grund darstellen (vgl. OLG Hamburg, Beschluss vom 20.11.2015 - 1 Ws 148/15 -, juris; OLG Hamm, Beschluss vom 17.04.2008 - 4 OBL 18/08 -, juris). In Anbetracht der zwischenzeitlich als nachgewiesen anzusehenden hohen Ansteckungsgefahr, der vermutlich hohen Anzahl unentdeckter Infektionen und des derzeit noch nicht abschließend einschätzbaren Ausmaßes schwerer bis tödlicher Krankheitsverläufe kann ein solcher wichtiger Grund deshalb auch in der aktuell rapide fortschreitenden COVID-19-Pandemie bestehen, wenn sich das Gericht - wie hier - nicht in der Lage sieht, das Ansteckungsrisiko der Verfahrensbeteiligten, der Bediensteten des Gerichts, der Sicherheitsbeamten und des Publikums im Einklang mit den Vorschriften über das Verfahren, namentlich der zur Sicherung der Verteidigungsrechte und zur Gewährleistung der Öffentlichkeit der Hauptverhandlung, auf ein vertretbares Maß zu reduzieren.“
Nun stellt sich natürlich die Frage, ob mit dieser Begründung das Aussetzen der Hauptverhandlung und der damit einhergehende Vollzug der U-Haft bis zum Erlangen eines Impfstoffes ausgedehnt werden kann. Wie bereits eingangs ausgeführt stellt die U-Haft eine „Freiheitsberaubung Unschuldiger“ dar. Der grundsätzlich im Strafverfahrensrecht geltende Beschleunigungsgrundsatz gilt auch hier. Aus diesem Grund hat das OLG Karlsruhe (a.a.O.) für die Zukunft folgendes zu bedenken gegeben:
„Das Gewicht des Freiheitsanspruchs des Angeklagten vergrößert sich regelmäßig gegenüber dem Strafverfolgungsinteresse mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft; an einen zügigen Fortgang des Verfahrens sind daher umso strengere Anforderungen zu stellen, je länger die Untersuchungshaft bereits andauert (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.01.2019, a.a.O.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl. 2019, § 121 Rn. 1 m.w.N). Falls sich entgegen der Annahme des Schwurgerichts die Gefährdungslage im Mai noch nicht in dem Maße verbessert haben sollte, dass die Hauptverhandlung ohne Weiteres durchgeführt werden kann, werden deshalb auch strengere Anforderungen an die zur Sicherung der Durchführung der Hauptverhandlung zu ergreifenden Maßnahmen zu stellen sein, um eine weitere Verzögerung des Verfahrens rechtfertigen zu können. So wird das Schwurgericht zu prüfen haben, welche konkreten Maßnahmen ergriffen werden können, um das Infektionsrisiko während und im unmittelbaren Umfeld der Verhandlung auf ein vertretbares Maß zu senken, wobei eine sachkundige Beratung, bspw. durch das Gesundheitsamt, angezeigt erscheint; eine Beschränkung des Publikums auf ein gesetzlich zulässiges Maß (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt a.a.O., GVG § 169 Rn. 5; Löwe-Rosenberg, StPO, 26. Aufl. 2010, GVG § 169 Rn. 10) und/oder die Zulassung der Tonübertragung in einen Arbeitsraum für Pressevertreter gemäß § 169I 3 GVG kann in diesem Zusammenhang in Erwägung gezogen werden. Sollten die erforderlichen Maßnahmen nicht in dem üblichen Sitzungssaal des Schwurgerichts - etwa wegen einer laufenden Klimaanlage und ggf. damit verbundener Ansteckungsgefahren - umsetzbar sein, wird zudem die Verlegung der Hauptverhandlung in einen anderen Saal, gegebenenfalls sogar außerhalb des Gerichtsgebäudes, zu erwägen sein (vgl. Löwe-Rosenberg a.a.O.). Jedenfalls sind die Anstrengungen des Schwurgerichts und die der Durchführung der Hauptverhandlung entgegenstehenden Gründe zu dokumentieren, um die Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Fortdauer der Untersuchungshaft im Hinblick auf § 121 I, II StPO sowie dem allgemeinen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu ermöglichen.“
Hinweis
Lesen Sie dazu auch: VerfGH Sachs, Beschluss vom 28.03.2020 in BeckRS 2020, 5871 zum Thema "Strafrechtliche Hauptverhandlung in Zeiten der Corona-Pandemie".